ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Armin Müller, Institutionelle Brüche und personelle Brücken. Werkleiter in Volkseigenen Betrieben der DDR in der Ära Ulbricht, Böhlau Verlag, Köln etc. 2006, X + 384 S., brosch., 44,90 €.

Dass der ökonomische Niedergang in der späten Ära Honecker und das letztendliche Scheitern der DDR nicht dazu verleiten sollten, die Phasen ,,relative[r] Stabilität" (S. 6) im ostdeutschen Wirtschaftssystem oder seine verantwortlichen Akteure außerhalb des Politbüros zu übersehen, ist ein Anliegen Armin Müllers. Anhand der beruflichen Biografien von Werkleitern in volkseigenen Betrieben stellt Müller die Hintergründe ihrer Auswahl und die Handlungsspielräume dieser Personengruppe in der Ära Ulbricht vor. Einen besonderen Schwerpunkt seiner Ausführungen legt der Autor auf die hierbei erkennbaren Nachfolgeprozesse, die allesamt mehr waren als bloße Personalien: Anhand von insgesamt fünf volkseigenen Betrieben analysiert er den Wechsel von ,,Transformationsleitern" zu ,,studierten Managern". Hierdurch gelingt es Müller nicht nur, die zentralen Entwicklungen in der Volkswirtschaft der Fünfziger- und Sechzigerjahre herauszuarbeiten, sondern durch die biografische Perspektive auch in ihrer Wirkung auf die Jahre nach dem Machtwechsel Ulbricht/Honecker zu verdeutlichen. Denn die studierten Manager wurden oft kaum 30-jährig eingestellt und blieben dann bis zum Ende der DDR in ihrer Position. Beide Typen von Werkleitern werden von Müller hinsichtlich ihrer Generationszugehörigkeit und ihrer Sozialisationen vorgestellt. Fasst man die Ergebnisse der Studie vereinfachend zusammen, so folgten auf die Transformationsleiter als Angehörige einer Generation, die im Wesentlichen vor dem Zweiten Weltkrieg sozialisiert worden war und in den frühen 1950er-Jahren den Schritt hin zu einer sozialistischen Planwirtschaft vollzogen hatte, die studierten Manager als Vertreter einer jüngeren Generation, der sich unter Ulbricht die Möglichkeit zu einer steilen Karriere in den volkseigenen Betrieben bot. Damit einher ging der Wechsel von einer Gruppe aus in der Regel betriebsintern (oder zumindest durch eine vergleichbare berufliche Praxis) qualifizierten Fachleuten hin zu Werkleitern, die ihr wirtschaftliches Verständnis vor allem aus einem fachbezogenen Studium und zugleich einer engen Verbindung mit der SED erhielten. Für letztere waren die Parteikarriere und die berufliche Karriere aufs engste miteinander verbunden.

Die von Müller vorgestellten Ergebnisse werden von ihm in einen theoretischen Kontext eingeordnet, der nicht nur dem eigentlichen Forschungsinteresse gerecht wird, sondern sich zugleich auch mit den methodischen und konzeptionellen Problemen auseinandersetzt, die mit der Fragestellung und der wissenschaftlichen Herangehensweise an den Themenbereich ,,Unternehmensgeschichte von DDR-Betrieben" implizit und explizit verbunden sind. Ausgangspunkt seiner theoretischen Überlegungen ist das Konzept der ,,Neuen Institutionenökonomik" wie es von Douglass C. North in die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte eingeführt wurde. Müller öffnet dieses Konzept für eine moderne Sozial- und Kulturgeschichte, indem er es durch den Habitusbegriff von Pierre Bourdieu und die sozialkonstruktivistischen Überlegungen von Alfred Schütz, Thomas Luckmann und Peter L. Berger ergänzt. Für den Aspekt der Leiternachfolge im Sozialismus verdeutlicht er den immensen Gewinn, den die Aufnahme einer organisationspsychologischen Position wie sie von Franz Breuer vertreten wird, in einen geschichtswissenschaftlichen Ansatz bedeutet.

Der Autor zeigt hierbei nicht nur eine hervorragende Kenntnis des Forschungsstandes, sondern auch ein großes Selbstbewusstsein, wenn er wie selbstverständlich soziologische, organisationspsychologische sowie wirtschafts- und sozialgeschichtliche Theorien zur Entwicklung einer geeigneten Methodik heranzieht - und diese zudem in angenehm knapper Form entwirft. Die strikte Konzentration auf wenige ausgewählte Fallbeispiele wird durch diesen vielschichtigen theoretischen Ansatz zu einem detailreichen Panorama der ostdeutschen Volkswirtschaft aufgefächert.

Die in den Fallstudien deutlich werdenden ,,Erfolgsgeschichten" ostdeutscher Werkleiter, d.h. ihre relative Autonomie bei der Führung des Unternehmens, das ihnen gegenüber gezeigte Vertrauen seitens der Partei und nicht zuletzt die ,,Belohnung" für ihre Leistungen, die sich manchmal sogar in ihrer Beförderung in Positionen übergeordneter Planbehörden zeigte, unterstreichen die Rechtmäßigkeit des von Müller vorgenommenen Perspektivenwechsels, nämlich die Wirtschaftsgeschichte der DDR nicht unter dem Gesichtspunkt des Scheiterns, sondern ergebnisoffen von ihrem Anfang her vorzustellen. Aber vor dem Hintergrund der durchweg gelungenen Wirtschaftsgeschichte des Autors ,,das Glas halbvoll statt halbleer" zu sehen, greift bei der Bewertung eines wirtschaftlich international eingebundenen Staates wie der DDR etwas kurz. Die Messlatte, um die Wirtschaftspolitik der Ära Ulbricht zu bewerten, sollte nicht nur der Vergleich mit der Ära Honecker sein, sondern die zeitgleichen Entwicklungen in der BRD und in anderen sozialistischen Volkswirtschaften. Doch wenn der Leser der Studie aus der relativen wirtschaftlichen Stabilität der Volkswirtschaft in der Ära Ulbricht den Schluss ziehen sollte, es hätte eine ,,bessere" DDR unter Ulbricht und eine ,,schlechtere" unter Honecker gegeben, so belehrt ihn Müller eines besseren: Die wirtschaftlichen Schwächen der DDR-Wirtschaft spätestens in den Achtzigerjahren waren eine unmittelbare Konsequenz der von Ulbricht zunächst initiierten und dann wieder gebremsten Reformversuche, die darüber hinaus nicht nur auf das Gebiet der Wirtschaft beschränkt blieben. (1) Die Übertragung von Leitungsfunktionen an Männer, deren Parteibuch und politische Loyalität für wichtiger erachtet wurden als ihr praktisches Wissen, trug eben nicht nur die Handschrift von Günter Mittag. Die unlösbare Verflechtung eines ideologischen Politikverständnisses mit ökonomischen Handlungslogiken führte vielfach zu Entscheidungen, die nicht nach den Kapazitäten der Betriebe und den Befindlichkeiten der Belegschaften ausgerichtet waren. Dass Leiter bei Problemen eigenständige Lösungen zu entwickeln versuchten, wurde von der Partei als ,,Betriebsegoismus" (S. 345) kritisiert und nicht als innovatives Potenzial begrüßt. Müller arbeitet sehr überzeugend heraus, dass zu viele Entscheidungen in der DDR-Volkswirtschaft nicht hinsichtlich der ökonomischen Zweckmäßigkeit, sondern vor dem Hintergrund der Aufrechterhaltung der politischen Macht getroffen wurden: Vieles, was den Bereich der ,,von oben" gegebenen Anordnungen verließ, vor allem die Zeichen von Eigeninitiative (oder einer größeren Kompetenz) der Werkleiter, wurde von staatlicher Seite reflexartig als oppositionelles Handeln kritisiert. Dennoch stieß die Politik auch in den Jahren des Hochstalinismus die Diktatur der Partei an ihre Grenzen, wenn sie einen Kurs zu verfolgen versuchte, der die in den einzelnen Werken bestehende Unternehmenskultur nicht berücksichtigte. Mit dem Ergebnis, dass ,,nur die Rücknahme des direkten Machtanspruchs, also der Verzicht oder die Zügelung repressiver Gewalt" (S. 355) eine Stabilisierung der Wirtschaft ermöglichten. Manchmal wünscht man sich, noch etwas mehr über die Motive und das eigenverantwortliche Handeln der Manager zu erfahren. Dann wäre diese These noch besser nachvollziehbar. Möglicherweise stößt die Darstellung aber die Grenzen der verwendeten Quellen, die im Wesentlichen aus Archivalien der untersuchten Betriebe bestanden.

Wer zur Geschichte der DDR forscht und so intensiv wie Müller mit Originalquellen arbeitet, wechselt oft unbewusst in den Jargon der Zeitgenossen - fällt es doch erheblich leichter, in einer Sprache zu schreiben, die dem Denken der Akteure entlehnt ist. Armin Müller gelingt es hingegen in seiner Studie, die Diktion der Quellen in die seines theoretischen Ansatzes und seines individuellen Erkenntnisinteresses zu übersetzen. Und das ist keinesfalls einfach nur ein kosmetischer Aspekt! Es unterstreicht die durchweg erkennbare kritische Distanz zwischen Autor und Forschungsgegenstand. Darüber hinaus hat es die angenehme Konsequenz, dass Müller nicht einen imaginären Dialog mit den von ihm vorgestellten Werkleitern führt, sondern den Leser der Gegenwart anspricht.

Stefan Zahlmann, Konstanz

Fußnoten:


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