Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Marc Stears, Progressives, Pluralists, and the Problems of the State. Ideologies of Reform in the United States and Britain, 1906-1926, Oxford University Press, Oxford etc. 2006 [2002], 320 S., kart., £ 20,00.
Marc Stears zeichnet in ,,Progressives, Pluralists, and the Problems of the State" einen Teil jenes für die Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts außerordentlich wichtigen Prozesses nach, in dessen Verlauf die politische Ordnung moderner Gesellschaft als eine gestaltbare und zu gestaltende problematisiert wurde. Stears widmet sich einer Gruppe politischer Theoretiker und sozialer Reformer - G.D.H. Cole, Harold J. Laski, R.H. Tawney diesseits und Herbert Croly, Walter Lippmann, Walter Weyl jenseits des Atlantiks -, die mit Engagement, Gestaltungsoptimismus, Lernbereitschaft und einem transatlantischen Wahrnehmungshorizont ein umfassendes Projekt der politischen Neugestaltung des Sozialen formulierten; ein Projekt, dessen Fokus in der Transformation der Demokratie von einem formalen, sich auf legislative und Rekrutierungsfunktionen beschränkenden Mechanismus hin zu einem materiellen Gestaltungs- und Ordnungsprinzip moderner Gesellschaften überhaupt lag. In den Blick gerät so die fundamentale Umstrukturierung des politischen Diskurses in den USA und Großbritannien im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.
Stears analysiert zunächst die konzeptionellen Grundlagen der britischen socialist pluralists sowie der amerikanischen nationalist progressives. In der Formationsphase beider Bewegungen stellten der im 19. Jahrhundert in beiden Ländern philosophisch dominierende Idealismus und sein spezifischer Freiheitsbegriff den Bezugspunkt dar. ,,For the idealists, liberty was to be understood as the pursuit of perfection independent of internal as well as external obstacles, where perfection was social rather than individual in orientation, where it often required assistance rather than abstinence from external authority, but where the nature of that authority and the scope of its activity were often both vague and limited." (S. 35) Freilich war es nicht dieser Freiheitsbegriff (bzw. die nicht realisierten praktischen Konsequenzen, die einen neuen Möglichkeitshorizont abzustecken halfen) allein, der für die junge Generation von Theoretikern und Reformern interessant wurde. Neben der Befreiung des Einzelnen von sozialen und ökonomischen Verwerfungen teilten die progressives in beiden Ländern das Ziel, eine neue, kohärente und stabile soziale Ordnung zu entwickeln, die zur Überwindung des Klassenantagonismus und individualistischen Konkurrenzdenkens auf Solidarität, Harmonie und Integration setzte.
Der Diskussion der philosophischen Grundlagen schließt sich eine Rekonstruktion der Formation zunächst des New Nationalism, dann des Socialist Pluralism an. In den USA verfochten die Autoren Croly, Lippmann und Weyl die Idee einer möglichen und wünschenswerten Verbesserung sowohl des Menschen als auch der sozialen Ordnung. Individualität und Gemeinschaftsleben wurden konstitutiv aufeinander bezogen. Individuelle Freiheit war aus dieser Perspektive ohne eine entsprechende Gestaltung sozialer Kontexte nicht zu denken. Dem korrespondierte die Forderung nach einem aktiven, weite Bereiche des sozialen Lebens gestaltenden Staat. Gegen die in den USA ausgeprägte Tendenz juristischer Evaluation von Gesetzen und politischen Entscheidungen durch den Supreme Court sollten zudem die Institutionen und Organisationen kollektiver Interessenvertretung gestärkt und der Staat entsprechend institutionell rekonfiguriert werden.
In Großbritannien war zur gleichen Zeit bereits ein Reformprozess mit dem Ziel der Stärkung staatlicher Autorität, Gestaltungsmacht und Interventionsfähigkeit im Gang, der auf dem Argument gründete, dass nur so soziale Harmonie und individuelle Entfaltung dauerhaft zu garantieren seien. Pluralisten wie John N. Figgis, aber auch die jüngeren wie Cole und Laski standen diesem Argument skeptisch gegenüber. Als sich dann im Ersten Weltkrieg zeigte, dass ein relativ machtvoller Staat zumal in Kriegs- und Krisenzeiten zu repressiver Vereinheitlichung des Sozialen tendiert, radikalisierte sich die pluralistische Skepsis gegenüber dem Staat und vor allem Laski machte das Ideal sozialer Einheit für die repressive Innenpolitik der Kriegsjahre mitverantwortlich. Dass die Versuche sozialer Vereinheitlichung fast zwangsläufig repressiven Charakter trugen, habe nur offenbart, dass die Idee eines sozialen Ganzen eine Illusion, vielfältige soziale Bindungen und Loyalitäten des Individuums dagegen die Realität seien. Wenn zudem nur der Einzelne selbst wisse, was er wolle, könne der Staat sich nicht länger auf die Wünsche der Bürger beziehen, um diese oder jene Politik zu begründen und zu verfestigen - denn er kann sie schlichtweg nicht kennen. Statt dessen habe jede politische Ordnung die Voraussetzungen zur Entfaltung individueller Urteilskraft zu schaffen. Hier schloss sich die Entwicklung eines neuen Freiheitskonzepts an, dass nicht mehr primär auf die Gestaltung sozialer Umwelten (und damit eine ,,sanfte" Lenkung des Einzelnen) abhob, sondern auf die Errichtung eines umfassenden und stringenten Systems negativer Freiheitsrechte. Gruppenbindung und assoziative Freiheit blieben wichtiger Bestandteil dieses Programms - als zwischengeschaltete Mechanismen sozialer und politischer Machtteilung sowie Instrumente der Stärkung des Einzelnen gegenüber dem Staat; als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung der Entwicklung des Individuums und seiner Freiheit.
Der Erste Weltkrieg wurde von den amerikanischen progressives zunächst als außerordentliche Chance der Umgestaltung der inneren Verhältnisse begriffen. Die anfänglich optimistische Reformstimmung schlug freilich auch in den USA mit dem Fortgang des Kriegs immer mehr in Repression um. Am Ende hatte die reaktionäre über die reformistische Seite in der Administration Wilsons triumphiert. Die progressives reagierten darauf zunächst mit einer entschiedenen Kritik der Politiker, deren verantwortungsloses Handeln die Institutionen eines reformistischen Interventionsstaats diskreditiert habe. Recht bald ging man aber dazu über, bestimmte Ausprägungen des Staats und seiner Institutionen selbst für das vorläufige Scheitern der eigenen Reformprojekte im Kriegsverlauf verantwortlich zu machen. Die Idee des Staats als Freiheitsgarant und sozialintegrative Instanz war nachhaltig diskreditiert. ,,As the federal government and State authorities turned on dissents, on unionizing workers, and on immigrants, all in the name of protecting and enhancing national unity, the New Republic's editors and correspondents moved away." (S. 141) Beim Versuch der Reorientierung der eigenen Konzepte wendete man sich den britischen socialist pluralists zu, die man ähnliche Probleme der Machtbalance von Individuum, Gruppen und Staat verhandeln sah. Insbesondere John Dewey und Mary P. Follett brachten auf dieser Basis die Idee eines progressive pluralism in die Diskussion ein, der den Pluralismus der Lebensformen und sozialen Gruppen als Gegebenheit anerkannte und dem die Forderung nach Gruppenrechten anschloss. Der Community-Gedanke und die Konturierung der Nation als entscheidender und grundlegender Gemeinschaft, innerhalb derer sich individuelle Freiheit zu realisieren und legitimieren hatte, blieb hier zentral.
In Großbritannien stieß die individualistische Rekonfiguration des Pluralismus, wie sie vor allem Laski vorgenommen hatte, auf eine sich verstärkende Kritik, die in eine ähnliche Richtung wie die amerikanische Idee des Progressive Pluralism zielte. Der Vorwurf eines mangelnden Gespürs für die vorhandenen Tendenzen sozialer Einheit und deren Notwendigkeit, der gegen die socialist pluralists erhoben wurde, führte auch hier zu einer stärkeren Fokussierung sozialer Gruppen im Hinblick auf ein soziales Ganzes. Es war Cole, der an dieser Stelle das ,,principle of function" in die Diskussion einführte und zum Maßstab der Bewertung und Beurteilung sozialer Gruppen erhob. Diese waren nun nicht mehr per se und als Schutzinstanzen des Individuums legitimiert, sondern hatten ihre Funktionalität der Gesellschaft gegenüber zu erweisen. Speziell die Herstellung eines (neuen) Gemeinsinns und Gemeinschaftsgefühls rückte in den Vordergrund und die nun stärker betonten emotionalen Bindungen der Gruppenmitglieder schienen die Chance einer Überwindung bzw. Ergänzung der Unterschiedlichkeiten der Mitglieder zu bieten - Gruppenbildung als Grundlage einer Einheits- und Gemeinschaftsstiftung auf der Basis von Differenz.
In den beiden abschließenden Kapiteln seiner Arbeit diskutiert Stears die politische Praxis und sozialen Reformprogramme beider Bewegungen vor allen auf dem Feld der Arbeiter- und Erwachsenenbildung, aber auch der politics of poverty. Insbesondere ersterer kam hohe Bedeutung innerhalb der kollektiven Vorstellungswelt von Progressives und Pluralisten zu, denn hier schien sich die Möglichkeit zu bieten, die anvisierte Neuordnung des Sozialen zu realisieren oder deren Voraussetzungen zu schaffen. Die ideologischen Unterschiede beider Gruppen, vor allem divergierende Beurteilungen und Gewichtungen des Verhältnisses zwischen Individuum, sozialer Gruppe und Staat, schrieben sich in die konkreten Ausgestaltungen ein und führten zu unterschiedlichen Bildungsinhalten und organisatorischen Formen in den USA und in Großbritannien.
Marc Stears gelingt es in ,,Progressives, Pluralists, and the Problems of the State" philosophische und idengeschichtliche Fragestellungen mit der Analyse politisch-sozialer Kontexte, Reformprogrammen, politischer Praxis sowie institutionellen Settings produktiv zu verbinden. Er leistet in seiner sehr lesenswerten Arbeit eine präzise und überzeugende Konturierung und Verortung spezifischer Ideenfiguren in ihrer sozialen und politischen Wirkmächtigkeit. Vor allem aber ist hervorzuheben, dass Stears in der Lage ist, die Dynamik einer so zentralen Ideenfigur wie derjenigen der Gestaltbarkeit des Sozialen in einem transnationalen Kontext sichtbar zu machen.
Timo Luks, Oldenburg