Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Elke Seefried, Reich und Stände. Ideen und Wirken des deutschen politischen Exils in Österreich 1933-1938 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 147), Droste Verlag, Düsseldorf 2006, geb., 594 S., 69,00 €.
Unter den zahllosen Ländern, in denen deutsche Emigranten während der NS-Zeit Zuflucht vor Verfolgung fanden, nahm Österreich eine besondere Stellung ein. Das dort herrschende autoritäre, von der christlich-sozialen Partei dominierte Regime übte auf die zahlenmäßig kleine konservative deutsche Emigration besondere Anziehungskraft aus. In ihrer umfassenden Studie stellt Elke Seefried Österreich erstmalig eingehender als Exilland mit Blick auf diesen Personenkreis vor. Einleitend werden die schwierigen Startbedingungen der Ersten Republik und vor allem die brüchige nationale Identität geschildert, die zwischen großdeutschen Anschlusswünschen bei Sozialdemokraten und später auch den Nationalsozialisten einerseits sowie den Ideen einer österreichischen Separatnation bei Monarchisten und den Kommunisten andererseits oszillierte. Daran schließt sich eine knappe Skizze der Entwicklung zum autoritären Staat mit der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 und dem Verbot der Arbeiterorganisationen nach dem Bürgerkrieg im Februar 1933 an. Ein von der Sozialdemokratischen Partei und ihren Schutzbund-Formationen veranlasster Abwehrversuch war von Militär, Polizei und ,,austrofaschistischen" Heimwehren blutig niedergeschlagen worden. Der neue ,,Ständestaat" wurde auch nach dem von Nationalsozialisten angezettelten Putschversuch, bei dem Bundeskanzler Dollfuss ermordet wurde, von seinem Nachfolger Schuschnigg bis zum ,,Anschluss" im März 1938 fortgesetzt.
In dieses Exilland Österreich flüchteten, so Seefried, etwa 4.500 bis 5.000 Personen aus dem Deutschen Reich, davon etwa zwei Drittel aus Gründen rassistischer Verfolgung nach der NS-Terminlogie. Der große Teil der politischen Flüchtlinge minimierte sich alsbald wieder, da vor allem die Angehörigen der SPD und Gewerkschaften neben einer kleinen Anzahl von Kommunisten nach dem Februar 1933 das Land wieder verließen; gleiches gilt für die nicht kleine Zahl der kulturellen Elite. Die Verfasserin weist hierbei angesichts der ungenügenden zeitgenössischen Statistiken auf die Schwierigkeiten genauerer quantitativer Befunde hin und macht weiterhin zu Recht darauf aufmerksam, dass auch jene Zuordnungen nur als Annäherungskategorien zu nehmen sind. Die Aufnahmebedingungen in Österreich entsprachen weitgehend denen der anderen Zufluchtsländer; auch dort wollte man keine Flüchtlinge und wehrte sich vor allem gegen die Einreise linker (,,staats- und wirtschaftsfeindlicher") Elemente, aber auch generell von Emigranten, wobei in zunehmendem Maße antisemitische Motive Bedeutung gewannen.
Kern der Studie ist die konservative, christlich-katholische reichsdeutsche Emigration mit einigen liberal eingefärbten Minizirkeln, ein Personenkorpus von weniger als 100 Personen (Familienangehörige nicht mitgezählt), die sich zum Teil in starkem Maße mit dem austrofaschistischen Ständestaat identifizierten und ihn mitunter sogar als das ,,bessere Deutschland" feierten. Dieser Akzent markiert die eigentliche Leistung des Bandes, da Untersuchungen zum konservativen deutschsprachigen Exil in der bisherigen Forschung eher die Ausnahme waren. Im Mittelpunkt stehen dabei die begriffsgeschichtliche Entwicklung und aktuelle Auseinandersetzung mit dem ,,Reich" und den ,,Ständen". Der erste Begriff gehörte zum Rüstzeug der christlich-konservativen Intellektuellen und orientierte sich am Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, wobei einige Vertreter jenes alte Reich als europäischen Vielvölkerstaat, andere als Vorläufer eines deutschen Nationalstaates verstanden. Die ,,Stände" knüpften terminologisch an die historischen Reichsstände sowie an den berufsständischen Staatsentwurf des austrofaschistischen Regimes an und prätendierten die organologische Harmonie von Gesamtstaat und Regionen sowie zwischen den gesellschaftlichen Gruppen.
Gemeinsam war diesen Ideen die Ablehnung des Nationalsozialismus wie auch der säkularisierten, durch Parteien, Gewerkschaften und Verbände gesellschaftlich zersplitterten Republik. Untereinander wiesen sie ein heterogenes und vielfältiges Spektrum an inhaltlichen Nuancierungen auf. Die etwa von dem aus dem Saarland stammenden Hermann Matthias Görgen im österreichischen Exil entwickelte Reichsidee war katholisch und übernational konzipiert und harmonierte durchaus mit Vorstellungen der Restauration einer (großdeutsch erweiterten) Donau-Monarchie oder eines christlich-abendländisch verstandenen Europa-Gedankens. Dagegen vertrat der Jesuit Friedrich Muckermann eine katholisch-deutschnationale Variante der Reichsidee. Ebenso wenig herrschte Einigkeit über die Staatsform des künftigen Reiches. Sie schwankte zwischen Erbmonarchie, Wahlmonarchie, autoritärer und gelegentlich sogar demokratischer Staatsführung, für die etwa Hubertus Prinz zu Löwenstein stand. Auch die gesellschaftliche Gliederung des Reiches bot ein schwer zu überschauendes Ideenspektrum, das von demokratisch legitimierten Konzeptionen einer berufsständisch verfassten Gesellschaft unter Rückgriff auf die katholische Soziallehre bis hin zum Korporatismus des faschistischen Italien oder des Ständestaates in Österreich selbst reichte. Am Rande der vielfältigen politischen und intellektuellen Gruppen standen weiterhin solche, die sich nur schwer in das ohnehin schon amorphe Spektrum einordnen ließen, so beispielsweise die ,,Schwarze Front" Otto Strassers, eine dissidente NS-Gruppe, deren großdeutsche Ideen an die nationalstaatlich verstandene Reichsidee anknüpften. Und auch die deutschen Sozialdemokraten im österreichischen Exil, die bis zum Februar 1934 zumindest geduldet wurden, vertraten großdeutsche Visionen, wie übrigens ihre österreichischen Parteifreunde auch.
Die von der Verfasserin ausführlich nachgezeichneten politischen Ideenwelten wiesen mehr oder weniger enge Berührungspunkte mit dem österreichischen Staatsverständnis auf und erklären, warum die Repräsentanten dieses Exilspektrums trotz der diktatorischen Verhältnisse und der verbeiteten Xenophobie im Lande wohlwollend geduldet wurden. Einige Emigranten spielten sogar eine gewisse Rolle in der Politik und dem öffentlichen Leben des austrofaschistischen Regimes. Aber auch die großdeutsch eingestellten Emigrantengruppen fühlten sich mehr und mehr durch den zunehmend nationalösterreichischen Kurs des Schuschnigg-Regimes eingeengt - so etwa Hubertus Prinz zu Löwenstein und seine Anhänger. Wer nicht vor dem 11. März 1938 weitergewandert war, verließ Österreich nun. Diejenigen, die voll hinter dem österreichischen Ständestaat standen und geblieben waren, drohten in die Falle der Gestapo zu geraten - ein Schicksal, das etwa fünf bis zehn Prozent der konservativen politischen Emigranten traf.
Neben den reichsdeutschen Emigranten flohen die Österreicher, die infolge ihrer Verbindungen mit dem Schuschnigg-Regime bedroht waren. Vorübergehend Frankreich, vor allem Großbritannien, Nord- und Lateinamerika waren die Ziele dieses unfreiwilligen Exodus. Hier allerdings trennten sich die politischen Wege der beiden Gruppen. Denn im Exil setzte sich - zunächst unter österreichischen Legitimisten, Christlichsozialen und Kommunisten - ein Nationalgedanke durch, der sich von den bisher übereinstimmend getragenen Ideen eines gemeinsamen Reiches absetzte. Vor allem nachdem die Alliierten 1943 die Wiederherstellung eines unabhängigen österreichischen Staates zum Kriegsziel und die Österreicher zu einer eigenständigen Nation erklärt hatten, schrumpfte die Basis der großdeutsch orientierten christlich-konservativen Hitler-Gegner. In den Planungen von Exilgruppen für ein Nachkriegsdeutschland spielten sie daher nur eine marginale Rolle. Dennoch hinterließen einige nach 1945 zurückgekehrte Protagonisten dieser Gruppierungen durchaus Spuren in der (west)deutschen politischen Landschaft. Hubertus Prinz zu Löwenstein oder Hermann Görgen, um zwei der wichtigsten Persönlichkeiten zu nennen, vertraten ihre Ideen als Abgeordnete des Deutschen Bundestages, wobei die frühere Reichsidee nunmehr zu der des christlichen Abendlandes als Gegensatz zum Kommunismus mutierte; ein Strang der europäischen Einigungsbewegung hatte hier seine Wurzeln.
Elke Seefrieds gründlich recherchierte Studie beruht auf Materialien zahlreicher Archive in Deutschland, Österreich, Israel und der Schweiz. Sie hat noch lebende Zeitzeugen befragt und private Materialsammlungen einsehen können. Vom Umfang und Differenzierungsniveau her hat sie ein wichtiges Werk zur politischen Ideengeschichte des deutschen Konservatismus und zum Exil in Österreich geschrieben. Im Anhang ihres Buches hat sie in knappen Biografien den Lebensweg wichtiger Österreich-Emigranten (nicht der der christlich-konservativen) skizziert, so dass ihre Studie auch als Nachschlagewerk verwendet werden kann. Schließlich sei die Lesbarkeit des Buches erwähnt, durch die die Lektüre trotz des gelegentlich spröden Stoffes an keiner Stelle ermüdend wirkt.
Claus-Dieter Krohn, Hamburg