ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Cord Arendes/Edgar Wolfrum/Jörg Zedler (Hrsg.), Terror nach Innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 6), Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 262 S., kart., 20,00 €.

Als eine ,,Atmosphäre des Ausmerzens und Abknallens" hat Klaus-Dietmar Henke vor Jahren einmal die situative Stimmung in der Endphase des Zweiten Weltkrieges beschrieben. Wie zutreffend diese knappe und drastische Aussage ist, beweist einmal mehr der von Cord Arendes, Edgar Wolfrum und Jörg Zedler herausgegebene Sammelband über die so genannten Endphasenverbrechen. Vorträge und Diskussionsbeiträge des ,,6. Dachauer Symposiums zur Zeitgeschichte" (2005) dienten als Grundlage für die Publikation, die neue, wichtige Ergebnisse zu einem Thema bietet, das erst kürzlich als eigenständiger Forschungskomplex von der historischen Wissenschaft etabliert wurde.

,,Terror nach Innen", darauf verweist Edgar Wolfrum in Anlehnung an den Buchtitel gleich zu Anfang seines Einleitungstextes, habe es seit Beginn der nationalsozialistischen Diktatur gegeben: gegen deutsche Juden, politische Gegner und Menschen, die der Euthanasie zum Opfer fielen. Die andere Qualität und Spezifik des Terrors in der Endphase mit erweiterten Täter- und Opfergruppen, Tatmotiven und -orten wird in dem Überblick von Wolfrum über die ,,Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges" kurz skizziert. Dass es neben den nationalsozialistischen Gewalttaten gegen Kriegsende auch Verbrechen von alliierter Seite und durch die Zivilbevölkerung in den zuvor besetzten Ländern gab, erwähnt Wolfrum in Exkursen über Luftkrieg und Vertreibung, Vergewaltigungen, Selbstjustiz und ,,wilde Säuberungen". Hier wäre eine deutlichere Gewichtung zugunsten der NS-Endphasenverbrechen, die Thema der Publikation sind, wünschenswert gewesen.

Sven Keller stellt ,,Überlegungen zu Abgrenzung, Methodik und Quellenkritik" der Endphasenverbrechen an: Er bemüht sich um eine chronologische Verortung der Kriegsendphase und des Kriegsendes, die allgemein nur als militär- und politikgeschichtlicher Zeitpunkt begriffen wird, und beschreibt Merkmale und Strukturen der endphasenspezifischen Tatvorgänge. Keller konstatiert, dass diese Gewaltverbrechen bis zuletzt vor allem ideologisch motiviert waren, d.h. einen nationalsozialistischen Hintergrund hatten. Er weist auf die durchaus vorhandenen Schwierigkeiten der Kategorisierung hin und mahnt - wie fast alle Autoren im Sammelband - das Fehlen von systematischen und vergleichenden Überblicken an. Die Forschungen zu den Endphasenverbrechen konzentrieren sich nach wie vor hauptsächlich auf Einzelfalldarstellungen und lokal oder regional begrenzte Vorkommnisse. Ein Grund, der für die Forschungsdesiderate in diesem Bereich der NS-Geschichte häufig angeführt wird, ist die defizitäre Quellenlage. Im regionalgeschichtlichen Kontext teilweise noch überliefert, fehlen vor allem Quellen über zentrale und übergeordnete Befehle, die Systematik und Vergleich der Endphasenverbrechen leichter ermöglichen könnten. Die meisten Autoren des Sammelbandes haben für ihre Forschungen Aktenbestände der Nachkriegsjustiz, allen voran die Urteilssammlung ,,Justiz und NS-Verbrechen", benutzt. Kellers Quellenkritik zu diesem Thema ist von daher ausgesprochen hilfreich und notwendig.

Elisabeth Kohlhaas fokussierte ihre Darstellung über ,,Durchhalteterror und Gewalt gegen Zivilisten am Kriegsende 1945" auf drei signifikante Gruppen: die sogenannten ,,Kapitulationsförderer", also Menschen, die sich beispielsweise für die kampflose Übergabe ihres Heimatortes einsetzten, die so genannten ,,Plünderer" und Häftlinge in NS-Haftanstalten. Mit verschiedenen Szenarien beschreibt Kohlhaas, dass es maßgeblich von lokalen Kräfteverhältnissen und Einzelfaktoren abhing, ob und was mit diesen Menschen gegen Kriegsende geschah. Der Verweis auf die in Auflösung begriffenen, lokalen Hierarchieebenen, in denen Handlungsräume ,,ungebunden und entgrenzt" waren, durchzieht wie ein roter Faden nicht nur die Darstellungen von Kohlhaas, sondern ist auch eine der wichtigen Erkenntnisse aller anderen Forschungsbeiträge des Sammelbandes.

Vom ,,Durchhalte- und Disziplinierungsterror" handeln auch die Ausführungen von Norbert Haase zum ,,Justizterror in der Wehrmacht am Ende des Zweiten Weltkrieges". Nachdem es im Verlauf des Krieges ohnehin eine zunehmende ideologische Anpassung und Verschärfung der militärischen Strafjustiz gegeben hatte, steigerte und radikalisierte sich die Wehrmachtsjustiz nochmals in der Endphase. Haase verdeutlicht die Einbindung der sich kontinuierlich zu einer politischen Justiz entwickelnden Wehrmachtsrechtsprechung in das Repressionssystem des NS-Staates.

Mit der endphasenspezifischen Radikalisierung der Judikatur beschäftigt sich auch Jürgen Zarusky in seinem Beitrag über ,,Loyalitätserzwingung und Rache am Widerstand im Zusammenbruch des NS-Regimes". Ebenso wie andere Autoren stellt auch Zarusky klar heraus, dass es eine Kontinuität in der politischen und justitiellen Loyalitätserzwingung und Widerstandsbekämpfung gab, dass die ,,Erosion des Rechts" ein seit 1933 charakteristisches Element für das NS-Regimes war - dass aber in der Endphase neben Justiz und Polizei, NSDAP und Wehrmacht schlicht auch Einzelpersonen Strafgewalt für sich beanspruchten und ausübten.

,,Die Todesmärsche aus den Konzentrationslagern 1944/1945" sind das Endphasenverbrechen, das die meisten Opfer forderte. Nach Schätzungen sind zwischen 240.000 und 350.000 Häftlinge in den letzten Kriegsmonaten ums Leben gekommen. Gabriele Hammermann gelingt es in ihrem Beitrag, einen hervorragenden Überblick über Struktur und Praxis der Räumungen von Konzentrationslagern und der Todesmärsche zu geben. Sie stellt nicht nur Befehlsebenen, ihre zunehmende Auflösung und Verlagerung auf lokale Machtinhaber vor Ort und auf den Transporten dar und beschreibt den Ablauf der Räumungen der wichtigsten Hauptlager, sondern skizziert auch kurz und prägnant die Täter und das Verhalten der Bevölkerung.

Cord Arendes beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den ,,Endphasenverbrechen des ,Werwolf'". Er umreißt zunächst den aktuellen Forschungsstand zum Thema, wobei deutlich wird, wie heterogen Personen und Aktionen waren, die vielfach bisher unter dem Begriff des ,,Werwolf" subsumiert wurden. Einzelne Beispiele belegen, dass als ,,Werwolf"-Verbrechen bezeichnete Taten ihren Ursprung in der Verinnerlichung der nationalsozialistischen Ideologie hatten - ein Merkmal, das auch die anderen Autoren des Sammelbandes konstatieren. Arendes räumt den ,,Werwolf"-Aktionen aber eher eine untergeordnete Bedeutung ein und empfiehlt sie nur sehr bedingt als eine eigene Kategorie der Endphasenverbrechen.

Zwölf Millionen Menschen waren während des Zweiten Weltkrieges als ausländische Zwangsarbeiter in Deutschland. Ein Massenphänomen und eine Gruppe, die in der Endphase maßgeblich zum Opfer von Exzessen und Verbrechen wurde, stellt Andreas Heusler in seinem Beitrag ,,Gewalt gegen ausländische Zwangsarbeiter in der Endphase des Zweiten Weltkrieges" fest. Die millionenfache ,,Präsenz des Fremden" wurde als Bedrohung wahrgenommen, noch verstärkt durch die militärische Bedrohung ,,von Außen". Da sich in den letzten Kriegsmonaten die Lebens- und Versorgungssituation der Zwangsarbeiter drastisch verschlechterte, kam es vermehrt zu Fällen von ,,Hungerkriminalität", was die durch die Propaganda unterfütterten Ressentiments gegen diese Menschen noch zusätzlich zu bestätigen schien. Eine Verschärfung und Brutalisierung der Maßnahmen gegenüber Zwangsarbeitern sowie Polizei- und Justizwillkür sind kennzeichnend für die Endphase.

,,Die Wahrnehmung von Holocaust-Tätern in der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel der Mauthausen-Prozesse" hat Jörg Zedler untersucht. Anhand von Strafurteilen gegen Täter aus dem KZ Mauthausen, die Endphasenverbrechen zum Gegenstand hatten und der entsprechenden Berichterstattung in bundesdeutschen Zeitungen zeigt Zedler drei Stereotype auf, die gleichsam für Phasen in der justitiellen Ahndung und der Entwicklung von Täterbildern in der Gesellschaft stehen.

Den Abschluss des Sammelbandes bilden vier Diskussionsbeiträge. Ute Gerhardt gibt einen Einblick in die Sicht der USA auf die Verbrechen der Endphase. Frühzeitig sahen die USA in ihnen Gewalttaten, die eine Fortführung, Steigerung und Eskalation der Grausamkeiten des NS-Regimes darstellten. Nach dem Überfall und der Besetzung anderer Länder, kehrte nun, auf dem Rückzug auf das deutsche Reichsgebiet, die Gewalt als ,,verwildetes Morden" wieder zurück - ,,bis nur noch Deutschland Schauplatz deutscher Verbrechen war". Einen (allzu kurzen) Überblick gibt Ernst Harnisch über Verbrechen gegen Kriegsende in Österreich. Jan-Oliver Decker blickt auf die Darstellung von Endphasenverbrechen in aktuellen Film- und Fernsehproduktionen. Er stellt, u.a. am Beispiel des Kinoerfolges ,,Der Untergang", neben Rückgriffen auf die 1950er-Jahre und einer Wiederbelebung des Mythos von der ,,Stunde Null" auch die Inszenierung der Opfererfahrung des gesamten deutschen Volkes fest. Letzteres unterstreicht Ulrike Jureit mit ihren kritischen Überlegungen zu der kollektiven Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg.

Der Sammelband bietet anhand seiner Einführungstexte und der Einzelbeiträge mit darin enthaltenen Fallbeispielen und Darstellungen eine gute und wissenschaftlich fundierte Übersicht der NS-Endphasenverbrechen. Einen Anspruch auf Vollständigkeit, Systematisierung und vergleichende Analyse hat die Publikation nicht. Ein solches Werk steht noch aus und erscheint angesichts der Lektüre und vorgestellten Forschungsergebnisse in seiner Erforschung dringlicher denn je.

Diana Gring, Hannover


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 12. März 2007