ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rolf-Ulrich Kunze, Nation und Nationalismus (Kontroversen um die Geschichte), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, VIII + 126 S., kart., 16,90 €.

Das Buch ist Teil der Reihe ,,Kontroversen um die Geschichte", die Arnd Bauerkämper, Peter Steinbach und Edgar Wolfrum seit 2002 für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft betreuen. Deren Grundlagen skizzieren die drei Herausgeber in einem kurzen Vorwort: Mit Blick auf die voranschreitende Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen ist die - bis dato zwölf Bände umfassende - Reihe als didaktisierte und handfeste Einführungsliteratur gedacht, die Lehrenden, Studierenden und Examenskandidaten helfen soll, sich auf Lehrveranstaltungen oder Prüfungen vorzubereiten. Die themen- oder epochenspezifischen, bislang zwischen 120 und 174 Seiten starken Bände sind jeweils wichtigen Forschungs- und Prüfungsfeldern der Neuzeit vorbehalten und weitgehend einheitlich aufgebaut (etwa zur DDR, zur Aufklärung oder als besonders gelungenes Beispiel der Band von Ewald Frie zum Deutschen Kaiserreich). Einer Einleitung folgt ein Überblick, in dem die ausgewählten Auseinandersetzungen in einen weiteren Kontext eingeordnet werden. Daran schließt sich der mit ,,Forschungsprobleme" überschriebene Hauptteil an, der sechs bis acht Kontroversen entfaltet; eine ausgewogene Bilanz des Forschungsstandes soll alles abrunden. Grau unterlegte Marginalien, Sach- und Personenregister helfen bei der raschen Orientierung, ein Literaturverzeichnis weist den Weg in die Verästelungen des jeweiligen Forschungsstandes.

An diesen Vorgaben ist der Band des Karlsruher Historikers Rolf-Ulrich Kunze über Nation und Nationalismus zu messen. In seiner knappen Einleitung stellt er Leitfragen der interdisziplinären Nationalismusforschung vor, die vor allem um soziale Trägerschichten und Funktionen, um Konstruktionsmechanismen, Entstehungsbedingungen oder Wahrnehmungsmuster des Nationalen und der Nationalstaaten kreisen. Der Überblick begründet Themenauswahl und Vorgehensweise, umreißt drei Phasen der Nationalismusforschung (vor 1882, 1882-1983, seit 1983), reiht knapp kommentiert 19 Definitionsversuche von Nation und Nationalismus aneinander (S. 18-24) und nennt einige Grundprobleme der Forschung. Im Hauptteil nimmt Kunze dann sechs ,,Hauptforschungsfelder" in den Blick: Diese Felder sollen ,,sowohl der Bedeutung typologisierender wie problemgeschichtlicher Ansätze Rechnung tragen und einen Eindruck von Wendepunkten der Forschung zum Thema Nation und Nationalismus [...] vermitteln" (S. 8). Die Felder sind unterteilt in Typologien (S. 27-48), Theorien (S. 48-87), Modernisierung, nation-building und Nationalismus (S. 87-93), integralen Nationalismus (S. 93-96), Nationalismus und Region (S. 97f.) sowie Recht und Nation (S. 98-105). In diesen Kapiteln erfährt der Leser viel Wissens- und Lesenswertes, etwa über die Anfänge der Nationalismusforschung mit Ernst Renan, über die Unterscheidung in Kultur- und Staatsnation bei Friedrich Meinecke, über die sieben Hauptfunktionen des Nationalstaates auf Basis des kommunikationstheoretischen Ansatzes nach Karl W. Deutsch oder auch über die als einseitig kritisierte, säkularisierungsgeschichtliche Nationalismusdeutung Hans-Ulrich Wehlers. All das ist angesichts der kaum noch überschaubaren Forschung zum Thema ebenso zu begrüßen wie die wiederholte Betonung, dass Nation und Nationalstaat seit Benedict Andersons wegweisender Studie nur als gedachte Ordnungen und damit als konstruiert zu begreifen sind. Positiv zu würdigen sind auch der modernisierungsgeschichtliche Seitenblick auf das niederländische Fallbeispiel oder die knappe Vorstellung des wechselseitigen Spannungsverhältnisses von (föderaler) Nation und Region. Ein Kapitel über aktuelle Forschungstrends der 1990er-Jahre rundet den Hauptteil schließlich ab (S. 105-111). Dessen recht heterogene Ausführungen hätten sich besser mit dem zweiseitigen, den Band beschließenden Ausblick zu Lehren und Perspektiven der Nationalismusforschung (S. 112f.) verknüpfen lassen. Das Reihenkonzept hätte ja ohnehin eine Bilanz des Forschungsstandes erwarten lassen.

Bei aller analytischen Detailarbeit und Mut zur Synthese vermag die Studie als Lehrbuch nicht restlos zu überzeugen: Die Vorgehensweise Kunzes lässt die Zielgruppe der Reihe, die Studierenden, mit den sechs, sehr ungleichgewichtig abgehandelten Forschungsproblemen weitgehend alleine. Für diese wäre es gewiss ertragreicher und damit leichter zu lernen, wenn die Konjunkturen des wissenschaftlichen Streits um Nation und Nationalismus deutlicher entlang politisch-gesellschaftlicher Umbrüche ausgerichtet und damit auch mit realhistorischer Substanz unterfüttert gewesen wären. Sodann: Welchen didaktischen und analytischen Sinn macht eine Einteilung in die drei grobmaschigen Phasen der Nationalismusforschung (vor Renan, von Renan bis Anderson, nach Anderson)? Mir jedenfalls will er sich nicht erschließen, und in einer Prüfungssituation hilft das nun auch nicht wirklich weiter. Und: Das Quellen- und Literaturverzeichnis wäre als Orientierungshilfe sicher zweckdienlicher, wenn es klarer entlang von Forschungskontroversen und nicht nach der chronologischen Nennung im Buch gegliedert wäre, wobei ohnehin nicht deutlich wird, was Quelle und was Literatur ist. So bleibt nach der Lektüre insgesamt eine gewisse Ratlosigkeit, auch weil der Band sich nur schwerfällig in das Reihenkonzept fügt, denn es werden eben Forschungsfelder und keine Kontroversen behandelt.

Nils Freytag, München


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 12. März 2007