Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Die zu besprechenden Bände bilden den Ausgangspunkt eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Editionswerks, das sich die Dokumentation aller Verfassungen und Menschenrechtsverbürgungen zwischen 1776 und 1849 einschließlich ,,offizieller, aber fehlgeschlagener Projekte" zum Ziel setzt. Geplant sind insgesamt 26 Bände, mit denen etwa 50 Länder erfasst werden sollen. Die Quellen werden stets in der Originalsprache wiedergegeben, analog sind auch die Einführungen, bibliographischen Annotationen und ergänzenden Anmerkungen der Bearbeiter in der jeweiligen (modernen) Landessprache verfasst, die wiederum, wie im Fall Ungarns, nicht identisch mit der (hier teils lateinischen) Quellensprache sein muss. Die beiden Bände weisen unterschiedlich lange Sachregister auf, wobei der Englandband erstaunlicherweise mit nur 16 Hauptbegriffen auskommt. Unterschiede zeigen sich auch bei den editorischen Annotationen, die im Österreich-Beitrag deutlich ausführlicher als in den anderen Länderbeiträgen ausgefallen sind.
Das Projekt ,,Verfassungen der Welt vom späten 18. Jahrhundert bis Mitte des 19. Jahrhunderts" stellt das Pendant eines seit längerem im Aufbau befindlichen und bereits mit mehreren umfassenden Teillieferungen in Erscheinung getretenen noch größeren Vorhabens dar, das sämtliche Verfassungen von 1850 bis heute in Form einer Mikrofiche-Edition erfassen soll. Initiator und Leiter ist der Kasseler Historiker Horst Dippel, der die Mikrofiche-Lieferungen selbst herausgibt und für die Printbände des Darstellungszeitraums 1776 bis 1850 als Reihenherausgeber (Editor in Chief) verantwortlich zeichnet. Beide Editionsstränge zielen auf eine lückenlose Materialsammlung und sollen laut Vorwort Dippels dazu beitragen, der eingeschränkten Zugänglichkeit der Quellen des modernen Konstitutionalismus Abhilfe zu verschaffen. Dabei besteht für den verfassungsgeschichtlich noch einigermaßen überschaubaren Zeitraum bis Mitte des 19. Jahrhunderts offenbar das Ziel, eine zusammenhängende, auf Lizenzbasis zu erwerbende elektronische Datenbank aufzubauen. Schon jetzt werden Faksimiles der in den Buchbänden erfassten Dokumente als Online-Ausgabe kostenfrei zur Verfügung gestellt.
Der von Dippel konstatierten ,,weit verbreiteten Unkenntnis" moderner Verfassungsdokumente kann mit Blick auf die hier zu besprechenden, jeweils 350-seitigen Bände zur Verfassungsgeschichte des britischen Vereinigten Königreichs zwischen 1782 und 1835 sowie zur konstitutionellen Entwicklung Österreichs, Ungarns und Liechtensteins im Zeitraum von 1791 bis 1849 zum Teil gefolgt werden: Während die britischen Verfassungsdokumente ausschließlich den auch außerhalb Englands recht gut greifbaren offiziellen Gesetzessammlungen (Statutes of the United Kingdom of Great Britain and Ireland) entnommen sind, wäre die Auffindung der vorgestellten Verfassungstexte der österreichischen Länder von der Tiroler Verfassung des Jahres 1816 bis zu den diversen Landesverfassungen des Jahres 1849 in der Tat nur mit größerem Aufwand zu bewerkstelligen, in einigen Fällen müsste der mühsame Gang ins Archiv angetreten werden. Dies gilt auch für die von Paul Vogt besorgte Verfassungsdokumentation für das Fürstentum Liechtenstein 1808-1849. Da die Wiedergabe der Dokumente durchgängig nach dem ersten Druck (ggf. auch der ersten Handschrift) erfolgt, wird zudem der größtmögliche Grad von Authenzität geboten, was den Gebrauchswert der Edition deutlich steigert. Dies gilt gerade gegenüber den im Internet verstreuten, respektive in elektronischen Verfassungsportalen auffindbaren Verfassungstexten.
Der der Edition zugrunde liegende Verfassungsbegriff sowie die Ländereinteilung der Bände sind auf die Gegenwart gerichtet, d.h. nicht die historischen, sondern die zur Zeit geltenden Staatsgrenzen werden zum Maßstab gemacht. Dabei handelt es sich um ein klares Auswahlprinzip, das freilich seinen Preis fordert: Historische Einheiten und Zusammengehörigkeiten werden künstlich auseinander dividiert, von der Landkarte verschwundene Staaten werden nur noch mittelbar greifbar und es besteht die Gefahr schiefer verfassungsgeschichtlicher Traditionsstiftungen. Dementsprechend findet das nach vielhundertjähriger Existenz im Ersten Weltkrieg zerfallene habsburgische Vielvölkerreich im Österreich-Band nur dort Beachtung, wo die gesamtstaatliche Ebene in verfassungsurkundlicher Form explizit angesprochen ist: im Rahmen der ,,Pillersdorf-Verfassung" vom 25. April 1848 sowie dem Kremsierer Verfassungsentwurf und der oktroyierten Märzverfassung (beide vom 4. März 1849), die notabene unisono die ,,Untheilbarkeit" der ,,constitutionellen Erbmonarchie" deklamieren. - Auf der darunter liegenden Administrationsebene werden konsequenterweise ausschließlich die Verfassungen derjenigen Länder aufgeführt, die zur österreichischen Republik von heute zählen: Kärnten, Nieder- und Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol, Vorarlberg, nicht jedoch Krain, Galizien, Böhmen, Mähren, Illyrien, Siebenbürgen etc. Ebenso konsequent wird schließlich Ungarn separat dokumentiert, obwohl es im Untersuchungszeitraum staatsrechtlich dem differenzierten Föderalismus der k.k.-Monarchie angehörte.
Das Bekenntnis des Herausgebers zum modernen Konstitutionalismus als eines ,,beispiellosen Erfolgs" korrespondiert mit einer kategorialen Verfassungsbegrifflichkeit, die in Anlehnung an die klassische Formulierung des Artikels 16 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung vom 26. August 1789 auf die Menschen- und Bürgerrechte respektive das Gewaltenteilungsprinzip abhebt. Die für die historische Verfassungsgeschichtsschreibung eigentlich charakteristische Spannung zwischen Norm und Wirklichkeit wird damit ziemlich einseitig zugunsten des normativen Verfassungsbegriffs aufgelöst. Der Rezensent ist sich aus eigener Editionserfahrung der Stichhaltigkeit des Arguments bewusst, dass bei derart groß angelegten Unternehmungen schmerzliche Ausschlusskriterien in Kauf genommen werden müssen, um die Durchführung überhaupt erst möglich zu machen. Gleichwohl muss die Bemerkung erlaubt sein, dass die von Dippel als ,,schlicht und einfach unbekannt" apostrophierte ,,Geschichte des modernen Konstitutionalismus" ihre ärgsten Fehlstellen wohl weniger auf der Ebene der Verfassungsrechtsgeschichte denn der konstitutionellen Realgeschichte aufweist, deren Berücksichtigung Dippels These vom modernen Konstitutionalismus als ,,einzigartiger Erfolgsgeschichte" bereichern, aber auch hinterfragen müsste.
Die mit den definitorischen Vorgaben der Quellenedition zusammenhängenden Probleme treten in dem von Ilse Reiter besorgten Beitrag ,,Verfassungsdokumente Österreichs 1816-1849" deutlich zu Tage. Berücksichtigt wurden hier ausschließlich Texte, die entweder als Reichs- und Landesverfassungen in Kraft traten bzw. durch den Reichstag, Landtag oder die kaiserliche Regierung erstellt und verantwortet wurden. Damit beginnt Österreichs Verfassungsgeschichte auf der zentralstaatlichen Ebene erst mit der unter dem Druck der Wiener Revolutionsereignisse oktroyierten ,,Pillersdorf-Verfassung" vom 25. April 1848 und finden auf der Länderebene nur die - altständische - Verfassung Tirols (1816), das Dekret zur Wiederherstellung der ständischen Verfassung Vorarlbergs (1816) sowie ein Verfassungsentwurf für Salzburg (1827) und ein weitreichender Geschäftsordnungsbeschluss des niederösterreichischen Landtags aus dem Jahr 1844 Berücksichtigung. Demgegenüber bleiben bedeutende konstitutionelle Vorleistungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts ungewürdigt. Dies gilt namentlich in Bezug auf das dem Gedankengut der Wiener Naturrechtsschule um Karl Anton von Martini entstammende Westgalizische Gesetzbuch des Jahres 1797 mit seiner dezidierten individualrechtlichen Programmatik, aber auch für genuin aufgeklärte Gesetzgebungsmaßnahmen Josephs II., wie die Aufhebung der Leibeigenschaft oder die Toleranz- und Zensurpolitik zu Beginn seiner Alleinherrschaft. Unbeachtet bleiben ferner Strukturveränderungen herrschaftsdifferenzierenden, perspektivisch dem Gewaltenteilungsmodell zuarbeitenden Charakters - man denke hier etwa an die von Erzherzog Carl gegen die Bedenken des Kaisers durchgesetzte Errichtung eines ,,Staats- und Konferenzministeriums" (1801), mit dem die Unabhängigkeit der Regierungspolitik gegenüber der Krone signifikant vergrößert werden und das (monarchische) Ministerverantwortlichkeitsprinzip an die Stelle der absolutistischen ,,Vielregiererei" treten sollte. Summa summarum führt die den Editionsvorgaben geschuldete normative Engführung des Verfassungsbegriffs dazu, dass sich die für Österreichs Verfassungsgeschichte konstitutive Traditionslinie der Konstitutionalisierung aus aufgeklärt-absolutistischer und administrativ-bürokratischer Wurzel im vorliegenden Band nicht wieder findet.
Die von András Cieger besorgte Sammlung von Verfassungsquellen zum Königreich Ungarn konzentriert sich ganz auf die Jahre 1791 (drei Quellen) und 1848 (acht Quellen) als den großen Krisenjahren des Habsburgerreichs. In der Tat stand zu diesen Zeitpunkten nicht nur die Verbindung zwischen Wien und Buda-Pest zur Disposition, sondern wurden auch die bisherigen Standards der ungarischen Verfassungsverhältnisse in Frage gestellt bzw. mit der Revolutionsverfassung von 1848 ein nahezu parlamentarischer Antwortversuch unternommen. Während die Quellenauswahl der verfassungsgeschichtlichen Komplexität des Revolutionsjahrs gerecht wird, bleiben die zwischen 1791 und 1848 geführten Diskussionen und Konflikte um die Einbezogenheit Ungarns in das Reich allerdings undokumentiert. Dies gilt etwa im Hinblick auf die Ungarn betreffenden Konsequenzen der Umgründung Österreichs zum Kaisertum (1804) oder hinsichtlich der komplizierten, dem Selbstverständnis eines ,,freien Landes" (Gesetzesartikel 10 von 1791) nur bedingt Rechnung tragenden Verflochtenheit der ungarischen Landesbehörden mit den zentralen Wiener Institutionen.
Das oben apostrophierte Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit ist im Hinblick auf das bekanntermaßen ohne geschriebene Urkunde konstitutionell und parlamentarisch gewordene britische Vereinigte Königreich mit Händen zu greifen. So macht der Herausgeber des Teilbandes darauf aufmerksam, dass im britischen Fall nicht selten die Praxis gegenüber der Norm die größere verfassungsgeschichtliche Evidenz aufweist: ,,Indeed, it might be argued that most British civil liberties existed not because a constitutional law had created them, but because no laws existed to say such liberties could not be exercised." (Introduction, S. 12). In der Umsetzung führt dies zu einer Auswahl von Dokumenten, die die Erweiterungen, Modifizierungen und Restriktionen des konstitutionellen Arrangements anzeigen und einen aufschlussreichen Eindruck von der Komplexität und Variabilität des britischen Verfassungslebens vermitteln. Das vom Herausgeber zunächst im Sinne eines Defizits angesprochene Fehlen der ,,written constitution" erweist sich für den Band mithin ebenso wenig als Nachteil wie dies im Hinblick auf die Evolution des britischen Konstitutionalimus der Fall gewesen ist. Befremdlich erscheint allerdings das Abbrechen der Darstellung mit dem Jahr 1835, vollzog sich unmittelbar danach doch - auf informelle Weise - der Übergang zum parlamentarischen System.
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass Dippels großes Editionsprogramm der modernen ,,Wissensgesellschaft" und namentlich allen Verfassungswissenschaftlern einen hoch zu schätzenden Dienst leistet. Sein Nutzwert kann durch die angekündigte Bereitstellung einer elektronischen Datenbank mit allen Texten in Originalsprache und englischer Übersetzung weiter ausgebaut werden. Verfassungshistoriker werden sich allerdings nicht mit den hier aufgeführten Texten begnügen können, sofern sie nicht Verfassungsrechtsgeschichte betreiben wollen, sondern an einer integrativen Verfassungsgeschichtsschreibung in der Tradition Otto Hintzes interessiert sind, wofür der Rezensent auch an dieser Stelle eine Lanze brechen möchte.
Arthur Schlegelmilch, Hagen