ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Geyer/Lucian Hölscher (Hrsg.), Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft. Transzendenz und religiöse Vergemeinschaftung in Deutschland, Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 490 S., 15 s/w-Abb., kart., 32,00 €.

Die Säkularisierungsthese steht massiv unter Beschuss. Lange Zeit hatte sie den Blick auf religiöse Phänomene wenn auch nicht gänzlich versperrt, so doch jedenfalls reichlich getrübt. Inzwischen jedoch liegen einige Arbeiten vor, die der Säkularisierungsthese und vorschnell konstatierten Epochentrends ebenso skeptisch gegenüberstehen wie dem lähmenden Schutzpanzer der traditionellen Kirchengeschichte. Anfänglich bewegten sich diese Studien noch meist im Kontext der Nationalismusforschung - der vorliegende Sammelband indes liefert ein überzeugendes Beispiel dafür, dass sich die geschichtliche Bedeutung der Religion auch auf anderem Terrain vielfältig und gewinnbringend aufzeigen lässt. Die Herausgeber, Michael Geyer und Lucian Hölscher, verzichten in diesem Zusammenhang zu Recht auf eine theoriegesättigte - die historische Forschung unnötig einengende - Definition dessen, was Religion wohl möglich ist oder nicht ist. In heuristischer Perspektive rücken sie stattdessen den Begriff der Transzendenz ins Zentrum ihres Interesses. In diesem Sinne beschäftigt sich der Band mit den jeweils zeitgenössischen, überaus unterschiedlichen und sich wandelnden Formen und Inhalten der Religion und entfaltet dabei ein umfangreiches ,,Spektrum möglicher Transzendenzentwürfe" (S. 11). Die insgesamt 18 Beiträge konzentrieren sich in diesem Zusammenhang auf das Problem der religiösen Vergemeinschaftung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Sehr bewusst ist in diesem Rahmen von Vergemeinschaftung die Rede, auf diese Weise geraten ,,Organisations- und Assoziationsformen" verschiedenster Art und Größe in den Blick, die weit unterhalb der Nation agierten (S. 10).

Susan Crane zum Beispiel rekonstruiert die Entstehung und Gestaltung transkonfessioneller Gemeinschaften deutscher Migranten in Südrussland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie widmet sich dabei vor allem der Bedeutung von Franz von Baader und Ignaz Lindl und thematisiert, inwiefern innerhalb dieser Bekenntniszirkel ,,the necessity of national boundaries and confessional divides" in Frage gestellt wurde (S. 58). Mit einem ganz anderen Thema beschäftigt sich der Beitrag von Anthony Steinhoff. Er spürt den Formen der ,,diffusive Christianity" in deutschen Großstädten um 1900 nach und dekonstruiert in diesem Kontext ,,the myth of the secular city" (S. 118f.). Nicht nur Clubs und Vereine, auch Schulen und Zeitschriften eröffneten dem Großstadtmenschen zahlreiche Möglichkeiten der religiösen Vergemeinschaftung ,,without ever setting foot in church" (S. 140). Vergleichbare Themen behandeln die Studien von Rita Panesar und Todd Weir. Während Rita Panesar das breitgefächerte Zeitschriftenwesen im Kaiserreich einer eingehenderen Betrachtung unterzieht, erörtert Todd Weir die religiösen Dimensionen der Freireligiösen Gemeinde in Berlin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - im Schnittpunkt von Atheismus, Monismus und Sozialismus. Nicht den städtischen, sondern den ländlichen Aspekten des religiösen Lebens widmet sich im Gegensatz hierzu die sehr lesenswerte Analyse von Tobias Dietrich. Sein Beitrag untersucht einen weitreichenden Entkonfessionalisierungsprozess unter dem einigenden Dach der identitätsstiftenden Dorfgemeinschaft und konstatiert in diesem Zusammenhang insgesamt eine ,,Verdörflichung des Christlichen" zwischen Mitte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts (S. 179). Ob man diese Form der ,,Dorfreligion" sogleich als ,,Zivilreligion" charakterisieren sollte, ist hingegen fragwürdig.

Die Bedeutung einzelner Personen für neuartige Formen der religiösen Vergemeinschaftung nehmen am Beispiel des Personenkults um Goethe und Nietzsche die Beiträge von Janet Boatin und Thomas Mittmann in den Blick. Janet Boatin beschäftigt sich mit der Geschichte der 1885 gegründeten Goethe-Gesellschaft und rekonstruiert die in diesem Umfeld gepflegte ,,Kunstreligion", die insbesondere der Herstellung einer ,,spezifischen Emotionalität" diente (S. 229 u. 237). Thomas Mittmann analysiert die Nietzsche-Rezeption zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus im Rahmen ,,der Konstruktion von alternativen Ersatzreligionen" (S. 253). Zwar wurde Nietzsche gerade wegen seiner Verurteilung des Christentums auch innerhalb des Christentums nicht nur wahr- sondern teilweise auch aufgenommen. Konstitutiv aber wurde seine Philosophie vor allem für die Entstehung ,,individualisierter Diesseitsreligionen" (S. 276).

Einen nach meinem Dafürhalten diskussionsbedürftigen Überblick zur Erosion des katholischen Milieus seit den Fünfziger- und Sechzigerjahren bietet Mark Edward Ruff. Zweifelsohne erfuhr die Sozialgestalt des Katholizismus in der Bundesrepublik einschneidende Veränderungen sowohl in Hinblick auf das Vergemeinschaftungspotenzial innerhalb des Milieus als auch in Bezug auf die gesellschaftliche Rolle kirchlicher Institutionen. Indes: Vorschnell - ohne Religion gleichfalls kommunikationsgeschichtlich in den Blick zu nehmen - ist in diesem Kontext von einer ,,dechristianization of society" die Rede (S. 377). Die gesellschaftliche Relevanz des Christentums aber lässt sich nicht allein auf der Grundlage seiner Sozialgestalt bestimmen. Einen solchen kommunikationsgeschichtlichen Zugriff wählt vor allem der Beitrag von Benjamin Ziemann. In vorrangig systemtheoretischer Perspektive und vollauf überzeugend rekonstruiert er den in den Sechziger- und Siebzigerjahren massiv vorangetriebenen und überaus ambivalenten Versuch der katholischen Kirche, der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft mit einer Verweltlichung der Kirche und einer ,,Betonung der Immanenz" zu begegnen (S. 403). Eine ebenfalls sehr lesenswerte Studie widmet Dagmar Herzog der Geschichte der sogenannten Gott-ist-tot-Theologie in den Sechziger- und Siebzigerjahren und deren einflussreichsten Vertreterin in der Bundesrepublik: Dorothee Sölle. Zu Recht betont sie an dieser Stelle die anhaltende Bedeutung der Religion in diesem Zeitraum steigender Kirchenaustritte und sinkender Gottesdienstbesuche: ,,The mid-1960s to early 1970s could be seen as a time of rethinking God as much as of rejecting God" (S. 434). Die Beiträge von Benjamin Ziemann und Dagmar Herzog dokumentieren nicht zuletzt, dass die Religionsgeschichte in der unmittelbaren Zeitgeschichte mehr und mehr Fuß fasst.

Fazit? Der vorliegende Sammelband bietet einen nicht nur sehr interessanten, sondern auch überaus facettenreichen und insgesamt überzeugenden Einblick in die Religionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Dankenswerter Weise geht er über die inzwischen recht ausgetretenen Bahnen der Nationalismusforschung hinaus und eröffnet in diesem Kontext zahlreiche neue Fragestellungen und Themenfelder. Ob der Begriff der Transzendenz - fernab seiner heuristischen Inanspruchnahme - die Probleme löst, die sich im Umgang mit dem Begriff der Religion stellen, bleibt nach meinem Dafürhalten allerdings fraglich. Auch der Begriff der Transzendenz obliegt schließlich der Deutungsmacht der jeweiligen Zeitgenossen.

Pascal Eitler, Bielefeld


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 12. März 2007