Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Jutta Schwarzkopf, Unpicking Gender. The Social Construction of Gender in the Lancashire Cotton Weaving Industry, 1880-1914, Ashgate Publishers, Aldershot etc. 2004, XI + 228 S., geb., $ 99,00.
Jutta Schwarzkopf zeigt mit ihrem Buch über die soziale Konstruktion von Geschlecht (gender) bei Weberinnen und Webern in der nordwestenglischen Baumwollindustrie während deren letzter Blütezeit vor dem Ersten Weltkrieg, dass lang gehegte Paradigmen der Industriegeschichte dann aufgegeben werden müssen, wenn eine hermeneutische Quellenarbeit unter geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen eine dichte Beschreibung der Akteurinnen während ihres Arbeitsprozesses und in der Lebenswelt ihres Familienhaushaltes erlaubt. Die Autorin entfaltet die Potenziale künftiger Forschungsziele der Arbeitergeschichte im Rahmen der neueren Kulturgeschichte, denn Arbeiterinnen, denen lange eine häusliche Orientierung als defensiv angelegtes Primärziel ihrer Lebensverhältnisse nachgesagt wurde, können jetzt als selbstbewusste Gestalterinnen ihrer Arbeits- und Familienverhältnisse analysiert werden.
,,Unpicking gender", der schöne Titel des Werkes, bezeichnet ein erkenntnistheoretisches Paradigma, nämlich die selbstbewusste Zuordnung von Geschlecht als Akteurshandeln. Es wird von Schwarzkopf kongenial mit der für den Arbeitsprozess zentralen Tätigkeit des Legens von Webfäden parallelisiert. Das Gendering der Frau ist somit als ein gestaltender Akt in vorgegebenem Rahmen zu verstehen. Die genuine Leistung der Autorin besteht darin zu zeigen, dass es sich dabei sowohl um eine eigenständige soziale als auch um eine eigenständige diskursive Realität handelte. Analog ihrer Kompetenz zur Organisation des eigenen Arbeitsprozesses entfalteten die Weberinnen soziale Kompetenz zur Organisation ihrer eigenen Geschlechterverhältnisse. Damit können ihre Alltagspraxis und deren Ausdeutung als eine geschlechterhistorisch lokalisierte Lebenspraxis unter ähnlich eigenständig positionierten Beurteilungskriterien erfasst werden. Gender ist dann nicht mehr als ein Stigma der Unterdrückung zu identifizieren, so wie das zahlreiche Autorinnen vor Schwarzkopf irrigerweise, aber politisch sehr korrekt getan haben, sondern als ein Schlüssel zur aktiven Lebensgestaltung, als ein Baustein zur zivilgesellschaftlichen Modernisierung der Industriellen Welt.
Komplementär kann dann auch das doing gender des Mannes stereotypisierter Fremdzuschreibungen abschütteln und seine alltagsgeschichtliche Ambivalenz zeigen. Einerseits wurde Männlichkeit auch in der Lancashire-Baumwollindustrie als Herrschaftsmagnet der Wenigen inszeniert, andererseits öffnete sich Männlichkeit in der Doppelverdiener-Familie der Kooperation in einer eher als gleichwertig angesehenen Partnerschaft.
Dass die Geschlechtergeschichte die Analyse männlicher und weiblicher Erfahrungsperspektiven kongenial vereinen kann, um daraus eine maximale Horizonterweiterung von Selbst- und Fremdbildkonstruktionen in der dichten Beschreibung der Alltagsgeschichte von Arbeitern und Arbeiterinnen abzuleiten, diese Erkenntnis ist das methodisch und theoretisch herausragende Verdienst der Hannoverschen Habilitationsschrift Schwarzkopfs. Dank glücklicher Umstände konnte sie die ausführlichen Hinterlassenschaften von Unfall- und Kontrollkommission sowie die in den 1970er Jahren aufgenommenen Interviews des ,,Lancashire cotton weaving projects" von Weberinnen aus den verschiedenen Webereidistrikten von Lancashire erstmals und in bewundernswert großer Intensität mittels einer unaufdringlichen hermeneutischen Inhaltsanalytik auswerten und damit Diskursgeschichte im besten Sinne schreiben. Schwarzkopf analysiert auf dieser Grundlage die Arbeitsverhältnisse der Spinner und Weberinnen in Lancashire als eine hoch reflektierte diskursive Realität von Motivationen und Handlungsoptionen des eigenen Berufserfolgs.
Eine große Leistung des Buches besteht in der detaillierten Darstellung von Arbeitsabläufen, von Abhängigkeitsverhältnissen und der kulturellen Steuerung von Fachkompetenz. Aus dieser beruflichen Realität erschließt die Autorin eine zweite Ebene, nämlich diejenige der individuellen Lebensführung. Beides komplettiert den Anspruch der Autorin, eine diskursiv untermauerte Alltagsgeschichte der Lebenswelt der Weberinnen in Lancashire vorzulegen. So kann Schwarzkopf auf beiden Ebenen eine hohe kommunikative Kompetenz der Akteur/innen analysieren, welche ihnen die Gestaltung der eigenen Berufssozialisation, der eigenen Haushaltsführung sowie des gemeinsamen Familienlebens ermöglichte. Daraus entsteht zunächst ein umfassendes Gesamtbild männlicher und weiblicher Professionalisierungsstrategien unter dem Einfluss der industriellen Arbeitswelt.
Spinnen und Weben wurden in sehr unterschiedlicher Weise als erlernte und damit als qualifizierte Tätigkeiten angesehen. Sie prägten das Selbstverständnis von auf den Arbeitsprozess bezogenen Fähigkeiten und Fertigkeiten als eine spezifische Kompetenz (skill) entscheidend. Für Frauen wurde das Weben zur einzig erreichbaren qualifizierten Arbeit, während das Spinnen an den halbmechanischen spinning mules als Domäne der Männer galt. Letztere konnten als "Barfuß-Aristokraten" (Barfüßigkeit als Arbeitsschutz gegen den glitschigen Boden in der Spinnerei) die Kontrolle über den gesamten Arbeitsprozess behalten und sich damit einen respektablen Lebensstandard erwirtschaften. Eine weitere männliche Spitzenstellung erreichten die Einrichter der Webstühle, die eine spezifisch männliche Selbstcodierung überlegener Arbeit kultivierten. Demnach besaßen Einrichter physische Kraft, sie profitierten von geheim gehaltenen Handwerker-Fertigkeiten und sie vermittelten deshalb unantastbare Autorität. Und sie entschieden über Einstellung und Kündigung von Webern und Weberinnen.
Frauen als angelernte Weberinnen besaßen dennoch einen besonders großen Handlungsspielraum, weil sie in großer Zahl gleichzeitig an den Webstühlen in der Fabrik arbeiteten und ihre Tätigkeit autonom verrichteten. Im Unterschied zu vielen anderen qualifizierten Handarbeiten erhielten Frauen denselben Stücklohn wie ihre männlichen Kollegen, die als Weber die gleiche Arbeit verrichteten. Dieser Umstand stürzte die Weber in ein schweres Dilemma ihres Selbstwert-Bewusstseins. Um dennoch Überlegenheitsgefühle kultivieren zu können, profilierten sie ihre physische Kraft als qualitatives Unterscheidungsmerkmal gegenüber der Frauenarbeit. Nachdem die Technik der Webstühle aber schon so weit perfektioniert worden war, dass allein die Geschicklichkeit über den Produktionserfolg entschied, setzte sich schnell eine völlige Auflösung der gender-Spezifik in der Arbeit des Webens durch. Zusammen mit der Einsicht, dass ihre Ausbildung gleichwertig mit derjenigen der Männer war, stabilisierte dieses Wissen die kollektiven Selbstbilder der Frauen ("discursive self-determination", S. 59) in Richtung auf eine völlige Emanzipation von Geschlechter-Stereotypisierungen im Arbeitsprozess.
Schwarzkopf kann detailliert aufzeigen, wie diese Prozesse der kollektiven Selbstverständigung vermittelt wurden und wie sie ihr diskursives Potenzial entfalteten. Damit kann die Fertigkeit des Webens als Basis eines sozialen Konstituierungs- und Identifikationsprozesses von selbstbestimmter Arbeits- und Lebenspraxis analysiert werden. Demzufolge konstituierten die Arbeitsabläufe durch spezifische Akkulturationsprozesse den sozialen Status der Arbeiter/innen. Das Gendering hatte eine entscheidende Rolle als eine grenzüberschreitende Sozialkompetenz eingenommen. Die Ausgestaltung des Webens wurde infolgedessen zum Emanzipationsgenerator von kollektiven Selbstbildern und Handlungsweisen, die das Selbstbewusstsein und die Steuerungskompetenz der Arbeiterinnen grundierten und festigten. Schwarzkopf kann zeigen, dass es mitnichten objektive Gegebenheiten waren, die auf die Frauen einwirkten und sie etwa zu Sklavinnen ihrer Arbeit gemacht hätten, sondern für die Allermeisten war das blanke Gegenteil der Fall: Die Weberinnen nutzten die Chance zur Spezialisierung, um ihre Kompetenzen zu erweitern und auf der Grundlage hoher Erwerbslöhne auch die eigenen Haushalte und das Familienleben rational zu planen mit dem Ziel, den Lebensstandard ihrer Familien zu erhöhen.
Das gelang in den allermeisten Fällen und zwar auch deshalb, weil erwerbstätige Ehemänner diese Handlungsrationalität übernahmen. Sie war eine Rationalität gleicher Lebenschancen, die aufgrund der Rationalität des gleichen Lohnes legitimiert werden konnte. Marktchancen legitimierten damit Lebenschancen. Sie motivierten Familienväter zur Beteiligung an zentralen Haushaltsfunktionen, sofern die Frauen ihre Hausarbeit durch Fabrikarbeit substituierten. Was heutzutage als Innovation des Familienlebens im 21. Jahrhundert angepriesen wird, war in den Webereidistrikten von Lancashire schon weitaus früher erreichbar. Wenn ihre Frauen im Tagesablauf unabkömmlich waren, sprangen die ebenfalls erwerbstätigen Männer ein: Sie versorgten ihre Kinder während der Mittagspause mit dem warmen Mittagessen und sie übernahmen Aufsichtsfunktionen und Wege.
Zentralen Raum nimmt in Schwarzkopfs Pionierstudie die Politisierung der Frauen in Lancashire ein, die zu den wichtigsten proletarischen Parteigängerinnen der Frauenwahlrechts-Bewegung in der Provinz geworden waren. Bei der Gewerkschaftsmitgliedschaft stießen sie aber bereits an ihre Grenzen. Einrichter waren zu 100 Prozent gewerkschaftlich organisiert und sie entschieden über die Einstellung und die Kündigung der Weberinnen, absorbierten also die höchsten Machtpotentiale im Arbeitsprozess, während die Frauen keine Aufstiegschancen besaßen. Ihre Grenzen fanden Viele in der unüberwindlichen Hürde sich genügend Fähigkeiten anzulernen, was zu wiederholten Selbstmorden führte, weil die jungen Werberinnen mit den komplizierten Arbeitstechniken überfordert waren. Für die Historikerin Schwarzkopf war die Überlieferung dieser individuellen Schicksale ein Glücksfall. Sie hat die mündlichen und schriftlichen Materialien der späteren Jahre auswerten können und dabei festgestellt, dass sie weitgehend identische Arbeitsverhältnisse wie 70 Jahre zuvor widerspiegelten. Darüber hinaus wertete sie die einschlägigen Fach- und Gewerkschaftszeitschriften der Berufsverbände aus.
Mit diesen überaus aussagefähigen Quellenbeständen konnte sie in einer der am besten erforschten Industrieregionen weltweit dennoch eine völlige Standort-Korrektur unserer Kenntnisse über die Arbeiter/innengeschichte vornehmen. Sie berücksichtigt sowohl die Facetten der regionalen Industrialisierung als auch die Rationalität des Familienalltags, neben dem innovativen Genie des Fabrikalltags der Weberinnen. Schwarzkopf hat ein auch stilistisch überaus lesenswertes und didaktisch geschickt aufbereitetes Buch geschrieben, das die gesamte Breite der Literatur gekonnt in den Erzählstrom integriert. Und dennoch ist das Buch mit wenig mehr als 200 Seiten so kurz geblieben, wie man es von einer angelsächsischen Autorin erwartet. Wie auch immer die internationale Rezeption dieses ersten Standardwerkes einer geschlechtergeschichtlichen Arbeiter/innengeschichte ausfallen wird, es wäre unzweifelhaft noch besser, wenn möglichst bald eine hervorragende deutsche Übersetzung auf dem Markt erscheinen würde, um es auch in der hiesigen Forschungslandschaft und in der universitären Lehre zu verankern. ,,Unpicking Gender" könnte nämlich ein Ansatzpunkt dafür sein, die in der Protoindustrie-Debatte festgefahrene nationale Forschung über die europäische Industrialisierung von einem neuen Standpunkt aus aufzunehmen und damit auch der Arbeiter/innengeschichte neue Impulse zu verleihen.
Georg Wagner-Kyora, Hannover