ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Siegfried, Detlef, Time is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 41), Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 840 S., 53 s/w-Abb., geb., 49,00 €.

Haben Musik- und Kleidungsstile eine politische Dimension? Verändern Wandlungen im privaten Geschmack und Verhalten die politische Kultur? Was bisher vor allem Lebensreformer und Alternativbewegte behaupteten, das behandeln im kulturhistorischen Paradigma inzwischen auch Geschichtswissenschaftler als ernst zu nehmende Frage. Detlef Siegfried hat in seiner 2005 in Hamburg angenommenen Habilitationsschrift jenen Abschnitt der westdeutschen Geschichte untersucht, der sich für eine empirische Prüfung des angedeuteten Zusammenhangs geradezu aufdrängt: die ,,langen" Sechzigerjahre von 1959 bis 1973. Die Zeitgenossen waren damals überzeugt, eine Kulturrevolution zu erleben - und Siegfried kommt, um es in einem Wort zu sagen, zu einem ähnlichen Ergebnis.

Im Mittelpunkt seines Interesses steht der Zusammenhang zwischen ,,Konsum und Politik", genauer: zwischen der nach zeitgenössischen wie historischen Maßstäben unvergleichlichen Ausweitung der Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, die der massenhafte Gebrauch von Gütern und Dienstleistungen damals eröffnete, und der parallel laufenden Zunahme von politischem Interesse und politischer Einmischung der Bevölkerung, insbesondere der Jüngeren. Siegfried widerlegt zunächst einmal überzeugend die bis heute verbreitete Auffassung, ,,Konsum" bewirke ,,Entpolitisierung" - ohne nun einen umgekehrten Zusammenhang als allgemein gültig zu postulieren. Vielmehr untersucht er die besonderen Bedingungen der 1960er Jahre, unter denen konsumvermittelte Pluralisierung der Lebensstil-Optionen Motive, Impulse und Instrumente für Forderungen nach einer deutlich stärker partizipativen und ethisch fundierten politischen Kultur lieferten. Dazu beleuchtet er zentrale Felder der entstehenden Jugendkultur, insbesondere die (im Wesentlichen aus dem englischsprachigen Raum gespeiste) populäre Musik und die meist eng damit verknüpften Szenen und Netzwerke der Sub- und Gegenkultur. Beat- und Rockmusik wurde in diesem Jahrzehnt vom Sammelpunkt einer Minderheit zur kommerziell vermittelten Massenkultur; sie diente als symbolisches Instrument zur Konstituierung einer sich kritisch verstehenden Jugendgeneration und rief anhaltende gesellschaftliche Auseinandersetzungen hervor. Im Wechselspiel von Rebellions- und Authentizitätsansprüchen der Akteure einerseits, Vermarktung durch die Kulturindustrie andererseits entwickelte sich daraus eine außerordentliche Dynamik der Selbstüberbietung und Radikalisierung.

Für die gesellschaftshistorischen Implikationen dieser Entwicklung ist das Stichwort Konsum mehrfach bedeutsam. Nicht nur, weil die neue Jugendkultur den intensiven Gebrauch von Waren (Schallplatten, Unterhaltungselektronik, Kleidung, Getränke etc.) verlangte. Der sich abzeichnende neue Gesellschaftszustand wurde von der kritischen Intelligenz mit großer Sorge kommentiert: Die Orientierung der Massen auf Genuss und Konsum würde das politische Engagement und damit die demokratische Ordnung schwächen; dem müsse man durch intensivierte Aufklärung begegnen. So entstand bereits zu Beginn der 1960er-Jahre ein hoher, konsumkritisch motivierter Politisierungsdruck, von dem eine über die Frankfurter Schule vermittelte Linie direkt nach ,1968' führt.

Zugleich liest Siegfried die sich ausweitende und ausdifferenzierende Jugendkultur als Indikator für den von Ronald Inglehart formulierten Wertewandel hin zum Postmaterialismus. Neue Konsummöglichkeiten eröffneten Handlungsoptionen und förderten so Selbstentfaltungsansprüche, die in vielen Lebensbereichen mit tradierten Ordnungen kollidierten. Vor diesem Hintergrund wurde schon in den frühen 1960er-Jahren versucht, populärer Musik einen radikal demokratischen, antimilitaristischen, gegen die NS-belastete etablierte Generation gerichteten Impetus zuzuschreiben. Das fand jedoch nur begrenzt Widerhall; die breite Politisierung der individuellen Wünsche, neue Lebens- und Erfahrungsmöglichkeiten zu erproben, ging vor allem darauf zurück, dass Jugendliche dabei anhaltend auf Widerstände und Attacken von Bürgern und Staat stießen: gegen Beatmusik, ,,Gammler", lange Haare bei Jungen, Hosen und kurze Röcke bei Mädchen, gegen Musiklokale wie den Hamburger Star-Club und gegen Medien, die wie Twen, Pardon und Konkret veränderten Ansprüchen und Wertvorstellungen Ausdruck gaben. So wurden private Lebensvorstellungen und Stilexperimente mit dem Thema gesellschaftlicher Veränderung verknüpft - und das machte die Jugendkultur anschlussfähig für politische Projekte, die wie die antiautoritäre Bewegung sozialistische Forderungen mit dem praktischen Aufbau von ,,Gegenmilieus" (Rudi Dutschke) und alternativen Lebensformen verbanden.

In Fortführung der neueren Forschung zu ,1968' arbeitet Siegfried heraus, wie sich bei den Protagonisten radikale Konsumkritik (die Kaufhausbrandstiftung vom April 1968 durch spätere RAF-Mitglieder ist da durchaus symptomatisch) mit einer auf subjektiven Genuss bezogenen Wendung gegen Askese und Disziplin verbanden - Wertmuster, die in der konservativen Kulturkritik wie in der Arbeiterbewegung eine Hauptrolle spielten. Die antiautoritären Aktivisten/innen zählt Siegfried wegen ihres reflektierten Hedonismus zur Avantgarde des Wertewandels in Richtung auf Selbstentfaltung und (postmaterialistischen) Genuss. Hierin trotz des politischen Scheiterns der antiautoritären Bewegung und der anschließenden leninistisch-maoistischen Wende der Studentenbewegung eine bleibende kulturelle Hinterlassenschaft der Sechzigerjahre zu sehen, ist plausibel. Dafür spricht auch die nicht erwähnte, anfangs der 1970er-Jahre von linkssozialdemokratischer Seite inspirierte Debatte über die Qualität des Lebens, die Impulse einer reflektiert hedonistischen Konsumkritik mit kapitalismuskritischer Stoßrichtung aufnahm.

In diesem Zusammenhang werden jedoch Grenzen der Leitfrage nach ,,Konsum und Politik" deutlich. Im weitesten Sinn schließt fast jede Tätigkeit in der arbeitsteiligen modernen Gesellschaft Verbrauch ein, und Siegfried entgeht nicht immer der Gefahr, dass es dem Sammelbegriff an Trennschärfe und analytischer Kraft fehlt. Lag die Spezifik der sub- und gegenkulturellen Szenen der 1960er und insbesondere der Protestbewegungen darin, dass man vom diversifizierten Güterangebot mit Vergnügen Gebrauch machte, teilweise sogar in demonstrativer Form wie bei der öffentlichkeitswirksamen Inszenierung provokativer oder ,revolutionärer' Kleidungsstile? Oder bewegten sich die Aktivisten damit - um eine zeitgenössische Formulierung aufzunehmen - nur wie der Fisch im Wasser der Gleichaltrigen? Könnte nicht die von Siegfried herausgearbeitete Dominanz von Schülern und Studenten, von bildungsorientierten und intellektuellen männlichen Milieus analytisch bedeutsamer sein? Hier waren spezifische Selbstentfaltungs-, Mitsprache- und Genussvorstellungen bestimmend; nach eigenem Verständnis nutzte man die erweiterten Möglichkeiten souverän, suchte die Konsumfixierung der Massen aufzubrechen und Wünsche nach einem reicheren, befriedigenden Leben gegen Mechanismen und Zwänge der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung zu mobilisieren.

Die Spezifik lag wohl in den Sinngebungen und entsprechenden Praktiken, und insofern böte das Konzept ,,Wertewandel" mit entsprechender sozialer und milieuspezifischer Differenzierung vielleicht einen besseren analytischen Leitfaden als ,,Konsum". Zum Thema Konsum gehört ein Abschnitt über Motorisierung, der trotz vieler kluger Einsichten wenig zum Verständnis der Politisierung der 1960er-Jahre beiträgt; das für die Jugend- und Gegenkultur zentrale Motiv einer Befreiung der Sexualität hingegen wird nur schwach ausgeleuchtet. Doch wäre gerade hier jene körperlich gegründete Erfahrungsdimension zu fassen, die dem Gefühl von Aufbruch, dem Konflikt mit der tradierten bürgerlichen Ordnung und den politisch aufgerufenen Befreiungsversprechen Evidenz verleihen konnte. Gleiches gilt für Beat- und Rockmusik sowie für das Tanzen; hier waren Ausbruch, Energie, Ermächtigung, Gemeinsamkeit noch vor aller Versprachlichung auf eine Weise zu erleben, die eine ausgeprägte Affinität zu antiautoritären Interpretationen und den vorgelebten Alternativen der Gegenkultur aufwies.

Es ist zu hoffen, dass die Forschung Siegfrieds Ansätze zur Integration populärkultureller Entwicklungen aufnimmt. Generelle Kausalitätsaussagen sind allerdings nicht zu erwarten. Die Studie deutet darauf hin, dass Lebensstilphänomene wie Musik, Tanz, Kleidung als solche unaufhebbar mehrdeutig und nicht einer bestimmten politischen Richtung (links oder rechts, konservativ oder progressiv) zuzuordnen sind. Ob und wie sich privater Lebensstil mit einzelnen sozialen und politischen Bewegungen verbindet, hängt vom Kontext ab, von der Fähigkeit der Akteure in Politik und Medien, eine Verknüpfung zwischen populärkulturellen Erfahrungen und Stimmungen einerseits, konkreten sozialen und politischen Trends, Images und Forderungen andererseits herzustellen. Wenn der Minirock im Deutschland der 1960er-Jahre eher progressiv konnotiert war, dann in erster Linie infolge der negativen Zuschreibungen seitens der Vertreter/innen des geschlechter- und sexualpolitischen Status quo; und musikalisch ist im Einzelfall kein Unterschied zwischen Punk- und Nazirock auszumachen.

Ob Populärkultur aus sich heraus Effekte auf die soziale Machtverteilung und -ausübung hat (um so den Kern des Politischen zu umreißen) oder ob eher von Autonomie und Dominanz politischen Handelns auszugehen ist, das wird also an weiteren Studien zu erörtern sein. Bei Siegfried zeigt sich eine Tendenz, die Eigenständigkeit der politischen Ziele in den Protestbewegungen eher gering zu schätzen; die gegenkulturellen Aktivitäten seien ,,lediglich besonders zugespitzte Erscheinungen des allgemeinen Trends zur Differenzierung der Lebensstile und repräsentierten einen [...] eigensinnigen Umgang mit Konsumangeboten, der in weniger expliziter Form auch die Praxis der Konsumtion an sich kennzeichnete" (S. 754). Zwar wird man mit Siegfried die wesentlichen Auswirkungen von Populärkultur und Protestbewegungen der 1960er-Jahre in einer stärker partizipativen Ausrichtung des politischen Systems und einer deutlichen Pluralisierung der Lebensformen inklusive kleinräumiger Alternativexperimente sehen können. Doch ist wohl die Eigenständigkeit kapitalismuskritischer Motive und Argumentationen auch in der Gegenkultur deutlich höher anzusetzen. Ihre theoretische und praktische Konsumkritik behandelte Zwänge und deformierende Wirkungen dessen, was heute Konsumismus genannt wird, gerade als repräsentatives Symptom für Fehler und Folgen des kapitalistischen Systems überhaupt, und sie stand dabei in der langen und damals durchaus lebendigen Tradition von Lebensreform- und Genossenschaftsbewegung. Momente politischer und ideologischer Eigenständigkeit, die in den 1960er-Jahren aufgenommen wurden und bis heute weiter wirken, sollten nicht im alltagskulturellen Trend einer individualisierenden Pluralisierung der Lebensstile und Konsummuster verschwimmen.

Diese Anmerkungen berühren nicht die eindrucksvolle Leistung der Studie, die ein geradezu enzyklopädisches Panorama der musikbezogenen Populär- und Gegenkultur der 1960er-Jahre und ihrer Verschränkung mit Politik und Protest zeichnet. Gegründet auf imponierende Quellen- und Literaturkenntnis, vermittelt Siegfried ein komplexes und differenziertes Bild, das er souverän und mit scharfem Blick für symbolisch-kulturelle Verschiebungen erörtert; hier überzeugen Interpretationen und Urteile stets. Für die weitere Forschung besonders hervorzuheben sind die durchgängige Berücksichtigung der Geschlechterfrage, die die männliche Dominanz in den Popmusikszenen und ihrer Politisierung erhellt, und die innovative Analyse der Handlungsmöglichkeiten ethisch-politisch motivierter Unternehmer im Medienbereich.

Hier liegt ein Standardwerk vor, allerdings eines zum akademischen Nachschlagen; eine deutliche Straffung des ausgebreiteten Materials wäre für die nicht professionelle Lektüre eindeutig ein Gewinn. Die chronologische Gliederung in vier Hauptkapitel, die jeweils eine Phase der Jugendkultur und ihrer Politisierung von den materiellen Grundlagen her darstellen, führt zu Redundanzen und Wiederholungen; das hemmt die Entwicklung von Argumentationslinien, die die Leser mitziehen könnten durch das kulturrevolutionäre Jahrzehnt. Gar nicht laut genug loben kann man die Redaktion des Bandes, der fast frei ist von Druck- und anderen Fehlern - bei der Fülle der Namen und Titel schlicht vorbildlich!

Kaspar Maase, Tübingen


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 12. März 2007