ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Thelen (Hrsg.), Roma in Europa. Vom Objekt der Ausgrenzung zum Subjekt politischen Handelns, Friedrich Ebert Stiftung, Skopje 2005, 257 S., brosch., kostenfrei.

In einer klugen Typologie zur Geschichtsschreibung über Zigeuner und Zigeunerpolitik hat die französische Historikerin Henriette Asséo 1978 den vielleicht wirkungsmächtigsten dieser Ansätze als Versuch gekennzeichnet, die Geschichte der Zigeuner mit derjenigen der gegen sie gerichteten Repression zu identifizieren: Die Zigeuner firmierten dort als groupe reflet, vermittels derer man Staat und Gesellschaft den Spiegel vorhalte. Eine solche Sichtweise würde, wenn man sie verabsolutierte, die Zigeuner auf den Status des ewigen Opfers reduzieren und ihnen kategorisch die Möglichkeit zur Eigenaktivität absprechen. Die Texte, die in Peter Thelens Buchedition gesammelt vorliegen, setzen den Schwerpunkt hingegen - der Untertitel macht das deutlich - auf die Möglichkeiten und Schwierigkeiten des politischen Handelns der Betroffenen selbst. Dies wird an Beispielen aus Makedonien, Serbien, Montenegro und Ungarn - nicht jedoch an westeuropäischen Beispielen wie Spanien, Frankreich oder Großbritannien - sowie an den Chancen exemplifiziert, die sich den Roma in den Institutionen der EU bieten oder die sie sich selbst dort erstritten haben. Hervorzuheben ist überdies, dass es sich, bisher noch ganz unüblich, bei einem Gutteil der Autoren um Roma handelt.

Wie viele als Roma und Fahrende klassifizierte Personen in Europa leben, wissen wir nicht sicher. In den 1980er Jahren wurde ihre Zahl zwischen zwei und fünf Millionen Menschen geschätzt, 1997 ging die Kommission der Europäischen Gemeinschaften von einer Größenordnung zwischen sieben und achteinhalb Millionen aus. Über die Hälfte von ihnen lebt im östlichen Teil des Kontinents. Für die Länder der EU gehen vorsichtige Schätzungen derzeit von drei Millionen Roma aus. Im Gefolge der nächsten Erweiterungsrunde wird diese Zahl noch einmal erheblich anwachsen, allein Rumänien zählt zwischen anderthalb und drei Millionen Roma.

Diese europäische Roma-Bevölkerung ist recht inhomogen, was eine gemeinsame Politik schwierig macht: Ihre Vergesellschaftung verläuft zwischen soziokulturellem Für-Sich-Sein und weitgehender Integration in die Mehrheitsgesellschaft, zwischen ländlicher und städtischer Lebensweise, hoher Erwerbslosigkeit, Lohnarbeit in der Industrie und selbständigem Kleinhandel. Wenige gelangen zu Wohlstand oder in intellektuelle Berufe, die meisten verbleiben in Armut. Zahlreiche Roma kommunizieren in der jeweiligen Landessprache, andere bevorzugen das in mehrere Dialekte unterteilte zigeunereigene Romanes. Die Gruppe der Umherziehenden ist bei weitem in der Minderheit; die Mehrheit lebt sesshaft oder teilsesshaft. Die meisten folgen einem der christlichen Bekenntnisse. Vor allem im ehemaligen Jugoslawien, in Albanien und Bulgarien finden sich aber auch zahlreiche muslimische Roma. Die parteipolitischen Orientierungen variieren erheblich; Parteigründungen, die um das Selbstverständnis als Roma kreisen, sind bisher vergleichsweise erfolglos, da sie zumeist sektenartigen, von immer neuen Spaltungen und Allianzen geprägten Charakter tragen.

Insgesamt, so hebt Peter Thelen in seiner instruktiven Einführung ,,Der lange Weg zur politischen Partizipation" hervor, unterscheidet sich die europäische Roma-Bevölkerung von den sonstigen nationalen und ethnischen Minoritäten auf diesem Kontinent insofern, als sie in ganz Europa lebt, durchweg mit negativen Klischees behaftet wird und in der Regel der am stärksten diskriminierte Bevölkerungsteil des jeweiligen Landes ist. So lag im Jahre 2003, um nur dieses eine Beispiel zu zitieren, die durchschnittliche Arbeitslosenquote in der Slowakei bei 14,2 Prozent, während sie unter den Roma 87,5 Prozent betrug.

In Ländern wie Belgien, den Niederlanden und Luxemburg, in den skandinavischen Staaten und im Baltikum sind die absoluten Zahlen und der Prozentanteil der als ,Zigeuner' eingestuften Personen gering, in anderen Ländern - insbesondere in Rumänien, Bulgarien, der Slowakei, Ungarn und Spanien - recht hoch. In manchen Staaten spielte und spielt so etwas wie ,Zigeunerpolitik' eine erhebliche und relativ eigenständige, in anderen eine geringe oder fast gar keine Rolle. All das wiederum hängt nicht allein von der Größe der jeweiligen Zigeunerpopulation ab. Auch politische und kulturelle Traditionen, das Gewicht solcher Leitvorstellungen wie ,Nation', ,Volk' oder ,Klasse', die entsprechende nationale Minderheitenpolitik und die Grundlinien der Wirtschafts- und Sozialpolitik haben Einfluss. Hinzu kommt die politische und ökonomische Gesamtkonstellation: der Entwicklungsgrad der Demokratie und der Partizipationschancen für ethnische Minderheiten, Agrar- oder Industriegesellschaft, Frieden oder Krieg - letzterer vielfach, wie zuletzt im Kosovo, verbunden mit der Aktivierung des Klischees vom ,Zigeuner' als Agenten oder Kollaborateur der jeweiligen Gegenseite.

Die Stigmatisierung der ,Zigeuner' von außen und die defensive Gegenstigmatisierung von innen sind, wie Peter Thelen in seiner Einführung und die Länderbeispiele aus Makedonien, Serbien und Montenegro aufzeigen, wenig dazu angetan, die Betroffenen in die gesellschaftlichen und politischen Institutionen der Mehrheitsgesellschaft einzubinden. Strikte Dichotomien schwächen in der Tat die soziale Position des Vermittlers. Sie nötigen dazu, sich entweder ganz für die eine oder ganz für die andere Seite zu entscheiden. Insofern konnten sich Roma-Bürgerrechtsbewegungen und später dann auch Roma-Parteien erst seit den 1970er Jahren und damit zu einem Zeitpunkt dauerhaft etablieren, als sich die Kontakte zwischen Mehrheitsbevölkerung und ,Zigeuner'-Minderheiten vervielfacht hatten. Sie waren zudem auf Intellektuelle als Führer angewiesen, die mit den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft vertraut waren und ihnen mehr trauten, als eine unversöhnliche Dichotomie von ,Wir' und ,Die Anderen' das zugelassen hätte. Und sie setzt die Anverwandlung solcher Begriffe wie ,Nation' und ,Ethnie' voraus, die ein grenz- und gruppenübergreifendes Selbstverständnis und eine europaweit oder gar global gemeinte Konstruktion solcher Termini wie ,Roma' oder ,Sinti und Roma' und in diesem Sinne den Versuch einer invention of a nation unter den Roma überhaupt erst zu denken ermöglichen.

Peter Thelen selbst versteht die Roma als eine ethnische oder nationale Minderheit in ihren jeweiligen Heimatländern, zugleich als eine transnationale Minderheit in Europa und als eine Nation im Sinne des austromarxistischen Verständnisses dieses Begriffs als eines nicht auf ein bestimmtes Territorium fixierten Personenverbundes. Während die ersten beiden Bestimmungen wenig umstritten sein dürften, wirft der Terminus ,Nation' doch Probleme auf. Wenn man ihn, wie Peter Thelen es tut, als eine ,,große Gruppe von Menschen" versteht, , die besteht ,,aufgrund ihres Bewusstseins, das aus gemeinsamer Sprache, Kultur, Religion oder Geschichte entstanden ist und eine Nation sein will, um ihrem politischen Willen Geltung zu verschaffen" (S. 49 f.), so ist die Applikation dieser Definition auf die Roma in der Tat nicht unproblematisch. So spricht ein Großteil der Roma inzwischen überhaupt kein Romanes mehr. Und entgegen den Behauptungen der Roma-Bürgerrechtsaktivisten Rajko Djuric und Marcel Courthiade, die in diesem Buch für eine - bisher noch gar nicht konstruierte - Standardversion des Romanes als notwendige Voraussetzung für die Konstituierung einer transstaatlichen Roma-Nation plädieren, haben sich die diversen gesprochenen Romanes-Varianten laut linguistischer Forschung doch soweit voneinander entfernt, dass sich beispielsweise deutsche Sinti und rumänische Roma kaum mehr miteinander verständigen können. Auch die geschichtlichen Erfahrungen der Roma und ihr bislang infolge unzureichender Bildungschancen nur rudimentär entwickeltes Geschichtsbewusstsein haben sich in den einzelnen europäischen Ländern seit der Frühen Neuzeit erheblich auseinander entwickelt, was sich etwa am Beispiel der spanischen Gitanos, der deutschen Sinti und der überaus heterogenen rumänischen Romagruppen leicht zeigen lässt. Insofern stellt sich die Konstruktion einer Roma-Nation, die sich angesichts der bis nach Südamerika und Australien verbreiteten Roma-Populationen übrigens nicht allein auf Europa erstrecken könnte, eher als Wunschtraum einiger Roma-Intellektueller und Roma-Organisationen nichtrepräsentativen Charakters dar, denn als wirkungsmächtiger und handlungsleitender Faktor in den überaus heterogenen Zigeunerpopulationen.

Solche Einwände sollen nicht den Verdienst Peter Thelens und seiner Autoren schmälern: Das Buch ,,Roma in Europa" weist eindringlich darauf hin, dass die Lage und Entwicklungsperspektiven der Roma für die EU und ihre Mitgliedsländer eine Nagelprobe auf die Nachhaltigkeit und soziale Ausgleichsfähigkeit des europäischen Politikmodells sind und auf lange Jahrzehnte bleiben werden.

Michael Zimmermann, Essen


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