ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Martin Scharfe, Über die Religion. Glaube und Zweifel in der Volkskultur, Böhlau Verlag, Köln etc. 2004, XII / 331 S., geb., 34,90 €.

Eigentlich hat der Münchner Theologe und Historiker Friedrich Wilhelm Graf in seiner neuesten Essaysammlung ,,Die Wiederkehr der Götter" (1) alles Notwendige zu den immer wieder zu beobachtenden Versuchen gesagt, eine Frömmigkeitsgeschichte ohne Glaubensinhalte, eine kirchliche Mentalitätsgeschichte ohne Theologie und eine Kirchengeschichte ohne Christentum zu schreiben. Wer Wirtschaftsgeschichte ohne Berücksichtigung von Markttheorien, wer Architekturgeschichte ohne Baupläne oder Sprachgeschichte ohne Grammatik betreibt, überschreitet schnell die Grenze von der wissenschaftlichen Distanzwahrung hin zur Verfehlung des Themas. In der Kirchen- und Christentumsgeschichte ist dieses Phänomen sogar recht häufig festzustellen. Die Verfechter prononciert kirchen- und christentumsgeschichtlicher Perspektiven, die ihre innere und äußere Distanz allem Kirchlichen und Christlichen gegenüber stark betonen und in ihren eigenen Forschungen Vertreter einfacher Modernisierungs- und Säkularisierungsmuster sind, bewegen sich auf dieses als feindlich empfundene Forschungsfeld, um ihre geradezu stereotypen Werturteile mehr als bestätigt zu finden: ,,Wer das Verschwinden der Religion, mit guten Gründen vielleicht, erhofft, wird sich gedulden müssen" (S. 252). Die self fulfilling prophecy lässt sich hier wie unter dem Brennglas studieren. Für einen ,distanzierten' und ,kritischen' Wissenschaftler liegt Theologie jenseits der ,Ekelschwelle' des modernen, aufgeklärten Menschen. Da diesem folglich nicht zugemutet werden kann, sich mit Theologie oder dem für ,,Ketzer-, Hexen- und Judenverfolgungen [...]" (S. 6) verantwortlichen Machterhaltungsapparat ,Kirche' zu befassen, meint er feststellen zu können, mit wie vielen Themen sich Theologen angeblich noch nie beschäftigt haben. Hierzu ist in den meisten Fällen nur zu sagen, dass Lesen bisweilen vor Entdeckungen schützt.

Entdeckungsfreudig ist der ehemalige Marburger Professor für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft Martin Scharfe. Er hat 331 Seiten ,,Über die Religion" geschrieben, interpretiert diese als ,,eine der zentralen Kulturleistungen" sowie im Licht des Prometheus-Mythos als ,,Illusion" (X) und vermarktet diese klassischen Topoi der Religions- und Christentumskritik selbstbewusst als innovativen programmatischen Neuansatz zumindest für eine kulturwissenschaftlich verstandene Ethnologie.

Diesen Neuansatz in methodischer Hinsicht und im Hinblick auf die empirischen Validierungsstrategien etwas näher zu betrachten ist lohnend. Scharfe ermuntert in der idealtypischen Gegenüberstellung von Theologenkirche und ,gewöhnlicher' Volksreligiosität zu einer ,,unvoreingenommenen" Wahrnehmung aller Erscheinungsformen des Religiösen ,,als Menschen-Werk" (ebd.). Dazu gehören, so Scharfe, allerdings durchaus ,,nicht Glaubensfragen [...] oder Probleme, die von den Theologen erörtert zu sehen wir gewohnt sind" (ebd.). Scharfes Erkenntnisgegenstand ist vielmehr die Alltagsreligion, seine Erkenntnismethode ,,überkonfessionell" und ,,überhistorisch" (ebd.). Er postuliert weiter, die Interdependenz von Glauben und Zweifel stelle eine erhebliche Forschungslücke dar, ja seine Nichtbehandlung ,,wie auf Verabredung hin" deute auf die ,,ins herkömmliche Christentum eingesponnene Lage und Mentalität" (XI) der mit Religionsgeschichte Beschäftigten hin. Scharfe konzediert sogar, den derartig Befangenen sei ,,kein Vorwurf zu machen" denn ,,der Fehler - der gravierende Fehler! - geschah unbewusst." (ebd.). Auch den religionsgeschichtlich befassten Volkskundlern zu Beginn des 20. Jahrhunderts sei es durchaus nicht übel zu nehmen, dass sie den Durchbruch zu einer ,,modernen Volksreligionswissenschaft" noch nicht geleistet haben: ,,Sie sind noch nicht frei; sie stehen noch im Bann ihrer eigenen kulturellen Herkunft [...]" (S. 32) und damit des Christentums im Abendland - denn: Freiheit ist zunächst einmal Freiheit vom Christentum.

In drei größeren Kapiteln setzt Scharfe sein Programm einer Beschreibung religiöser Praxis ,,,von außen her'" (X) um. Ein ausführlicher methodischer Teil ,,Problem und Methode", dessen Einführung bezeichnenderweise ,,Interesse und Intentionen" übertitelt ist (S. 1-45), variiert die Hauptthese von Gott als Reflex menschlicher Bedürftigkeit. Das zweite Kapitel präsentiert im Stil des Panoptikums ,,Figuren, Gebärden und Szenen des Glaubens" als ,,die bunte, manchmal fast bizarr anmutende Welt christlich-religiöser Kultur" (S. 120). Das dritte Kapitel behandelt ,,Figuren, Gebärden und Szenen des Zweifels." Die Auseinandersetzung mit Scharfes Darstellung wird einerseits durch das Textgenre der Christentumsparodie mit dem so genretypischen wie konsequenten Gestus der Bloßstellung von Frömmigkeitskultur erschwert, andererseits durch den Umstand, dass der Autor sowohl den historischen als auch theologischen Forschungsstand kaum zur Kenntnis nehmen will und sich nicht auf eine Diskussion der einschlägigen Forschungsgeschichte einlässt. Obwohl gerade die religiöse Mentalitätsgeschichte zu den Forschungsbereichen einer sich integrativ verstehenden kirchlichen Zeit- und Sozialgeschichte gehört, die zu einem anregenden Austausch zwischen Historikern und Theologen führt.

Auch Scharfes stark typologisch orientierte ,,Geschichte der Gottlosigkeit" enthält wenig Substanz für eine sachorientierte, kritische Auseinandersetzung um Forschungspositionen bzw. Deutungstraditionen. Besonders ärgerlich macht sich die konsequente Ausblendung des historischen Forschungsstandes z.B. beim Thema des sozialistischen Freidenkertums im Unterkapitel über die ,,Neuere Geschichte des Zweifels" (S. 225-245, hier S. 242 f.) bemerkbar. Für seinen wissenschaftlichen Zugriff charakteristisch ist die Einleitung zu Scharfes erster Belegfußnote, die sich auf die kirchliche Reaktion auf die Freidenker bezieht: ,,Ich führe nur zwei fast wahllos herausgegriffene Beispiele an [...]" (S. 298, Fn. 286 zu 242).

Zu Beginn seines Vorwortes zitiert Scharfe Friedrich Schleiermachers Diktum, ,,von alters her sei der Glaube nicht jedermanns Ding gewesen" (IX). Das trifft vollkommen zu und steht außer Frage. Eine verpasste Chance für die Konsolidierung einer konzeptionell orientierten, offenen, historisch-kritischen und theologisch aufgeklärten Religionsgeschichte ist, dass Scharfe, der sich nach eigenem Bekunden in fast einem Viertel seiner Publikationen mit dem Thema Volksreligiosität befasst hat (XII), ein Patchwork aus uralten Motiven und Argumenten der Christentumskritik als innovativen Neuansatz einer kulturwissenschaftlich-ethnologischen Frömmigkeitsforschung präsentiert.

Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe


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