ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Philipp Müller, Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentliche Dramatisierung von Verbrechen im Berlin des Kaiserreichs, Frankfurt/Main 2005, 424 S., kart., 39.90 €.

Die mediale Verbrechersuche ist im heute bestens vertraut. Tageszeitungen oder Fernsehsendungen wie Aktenzeichen XY liefern anschauliche Hinweise, die nicht nur zahlreiche mehr oder weniger hilfreiche Hinweise aus der Bevölkerung zur Folge haben, sondern auch zahllose neugierige Mediennutzer anzieht, die mit Angstlust die Story verfolgen. In beiden Fälle sind die Zuschauer aktiv oder zumindest emotional in die Verbrechensjagd eingebunden. Philipp Müllers Dissertation geht diesem Phänomen der öffentlichen Verbrechersuche anhand von zwei Fallstudien aus dem Jahr 1906 nach. Er untersucht einerseits den bis heute bekannten Fall des ,,Hauptmann von Köpenick", andererseits die Jagd des heute unbekannten Mörders Rudolph Hennig. Ziel seiner Arbeit ist es, die gesellschaftliche Bedeutung zu ermitteln, die ,,die Partizipation der Vielen" am Verbrechen hatte. Damit interessieren ihn weniger das Verbrechen und die Verbrecher selbst, als die öffentliche Wahrnehmung und die Interaktion zwischen Polizei, Massenmedien und der Berliner Bevölkerung. Sein reflektierter Ansatz ist somit ein Beitrag zu einer Mediengeschichte, die Formen der eigensinnigen aktiven Medienaneignung untersucht. Die Berliner Zeitungen und die Polizeiakten dienen ihm dabei als wichtigste Quellengrundlage.

Müllers erstes Kapitel fasst zunächst anhand der vorliegenden Literatur die Entwicklung der Berliner Massenpresse um 1900 zusammen. Interessant ist hierbei insbesondere sein Überblick über die bislang wenig beachteten Leser-Blatt-Bindungen, die Lesekultur und den Heinze-Prozess, auch wenn letztere Passagen im Abschnitt zur Presselandschaft etwas eingeschoben wirken. Lesenswert ist besonders der anhand von Akten herausgearbeitete Abschnitt über die Entwicklung der Öffentlichkeitsarbeit der Polizei. Er zeigt, wie die Polizei trotz ihrer (oft antisemitischen) Vorurteile die Kooperation mit der liberalen Massenpresse einübte, um Zeugen zu finden. Obgleich die Polizei das Publikum nicht als ein mündiges Kollektiv wahrnahm, sei sie so mit ihm in einen Dialog getreten und habe dabei genau jene ,,Sensationen" verbreitet, von denen sie sich stets abgrenzte. Die Presse wiederum übernahm, mit Ausnahme der SPD-Blätter, diese amtlichen Meldungen erstaunlich unverändert und ohne eigene Recherchen. Allerdings versahen die liberalen Zeitungen sie mit Kommentaren, die eine Kritik an der Polizeiermittlung nicht ausschlossen. Wie Müller mit Verweis auf einige Verbrechen unterstreicht, reagierten die Leser hierauf mit einer ,,sinnlichen Teilnahme".

Der zweite, weitaus umfangreichere Teil des Buches geht den beiden Fallstudien nach. Die Suche nach dem ,,Hauptmann von Köpenick" und Hennig werden ineinander verschränkt nach den unterschiedlichen Stationen der ,,Verbrechenssensation" untersucht - von der Entdeckung der Tat bis hin zur Gerichtsverhandlung. In beiden Fällen habe dabei die Sensation der Fälle auf der ,,möglichen Unmöglichkeit" beruht und ein Nebeneinander von ,,Sinn und Sinnlichkeit" geschaffen. Anhand von zahlreichen Zuschriften, die bei der Polizei eingingen, belegt Müller die aktive Partizipation der Zeitungsleser an der Verbrechensaufklärung. Nicht materielle Motive, sondern der Wunsch nach der Teilhabe an der Sensation habe zu den zahllosen, meist völlig haltlosen Anzeigen geführt. Die Denunzianten stammten aus allen Schichten, wobei Selbstständige stark überproportional vertreten waren. Die Zeitungen förderten diese Suche nicht nur mit ihren Berichten, sondern mit hohen Belohnungen. Während die Medien wiederum die Verbrechenssuche selbst thematisierten und so die Story am Leben hielten, suchte die Polizei nach Selektionsmechanismen bei den Aussagen. Neben einem generellen Misstrauen orientierte sie sich besonders am moralischen Lebenswandel der Aussagenden.

Zu den Stärken dieser Abschnitte zählen besonders die Passagen, die die karnevalesk-spielerische, eigensinnige und mitunter irrational erscheinende Partizipation an der Verbrechersuche schildern. So liefen etwa vor dem Polizeipräsidium Angehörige von Unterschichten mit jenen grünen Mützen und Filzschuhen verkleidet vorbei, wie sie der Mörder angeblich getragen hätte. Auf diese Weise spotteten sie über die Unfähigkeit der Polizei, den richtigen Mörder zu finden. Zugleich brachten sie damit eine Sympathie mit dem Mörder zu Ausdruck. Beim ,,Hauptmann von Köpenick" war diese bekanntlich ohnehin reichsweit vorhanden, wobei dieser als ,,Künstler" und ,,Genie" in der Presse gefeiert wurde. Auch die Heiterkeit, die Hennig nach seiner Verhaftung im überfüllten Gerichtssaal auslöste, deutet in diese Richtung.

Trotz der wohlüberlegten Anlage der Arbeit birgt die Fallauswahl vielleicht zugleich eine gewisse Schwäche. Da beide Fälle im Jahr 1906 spielen, wird nicht recht die eingangs postulierte Entwicklung der ,,Dramatisierung" im Kaiserreich deutlich, die durch die Massenpresse geschaffen worden sei. Ob Verbrecherjagden im frühen Kaiserreich beziehungsweise vor der Etablierung der Massenpresse einen anderen Charakter hatten, lässt sich so nicht ausmachen. Vergegenwärtigt man sich etwa die Verbrechersuche bei früheren berühmten Fällen, so lief die Suche und Überführung selbstverständlich ebenfalls per Bild über die Berliner Presse in Interaktion zwischen Polizei, Medien und Lesern, wenn auch quantitativ im geringen Maße. Etwas widersprüchlich bleiben zudem die Schlüsse, die aus den zahlreiche Reaktionen gezogen werden. Ob die Denunziationen für eine Sympathie mit den Verbrechern stehen und ob die Pressepolitik der Polizei angesichts ihrer breiten unveränderten Aufnahme in den Zeitungen unzeitgemäß war, ließe sich etwa diskutieren. Insgesamt handelt es sich aber um ein lesenswertes Buch, das die Kriminalitäts- und Mediengeschichte spannend und innovativ verbindet und der Figur des oft beschworenen aktiven Lesers endlich einmal nachgeht.

Frank Bösch, Bochum


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 22. Dezember 2006