ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Alexander C. T. Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold (Hrsg.), Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, transcript Verlag, Bielefeld 2005, 378 S., kart., 29,80 €.

,,Im Raume lesen wir die Zeit." (1) ,,Der Kommunismus ist keine geopolitische Frage." (2) ,,Perverses Abendland - barbarisches Rußland." (3) ,,Aus der Tiefe des Raumes." (4) Die Liste der Buchtitel, Argumente und Thesen, die sich unmittelbar auf ,,Raum" als eine kaum hintergehbare Bedingung für Mensch und Gesellschaft beziehen, ließe sich ohne Mühe fortführen. Menschen verankern sich selbst, ihre Wahrnehmungen, Gefühle, Kommunikation oder ihr Handeln instinktiv im Raum und geben ihm bereits für sich genommen eine Erklärungskraft. Zudem sind Räume wandelbar und unterliegen offensichtlich ebenso wandelbaren Konstruktionsleistungen. Die Geschichtswissenschaft trägt diesem Umstand, der neue Forschungsperspektiven öffnet, seit einigen Jahren erneut und verstärkt Rechnung: Der letzte Historikertag tagte unter dem Titel ,,Kommunikation und Raum" und Bielefelder Historiker betrachten im Rahmen eines Sonderforschungsbereiches das ,,Politische als Kommunikationsraum", um nur zwei prominente Beispiele zu nennen. Die Rede von der ,,räumelnden" Geschichtswissenschaft klingt daher bereits etwas abgegriffen, bezeichnet aber einen der einflussreichsten Forschungstrends, den der vorliegende Sammelband ,,Ortsgespräche" theoretisch reflektiert und für die Forschungspraxis aufbereiten will. Das Vorhaben ist sehr zu begrüßen, schließlich sind Raumvorstellungen aus dem menschlichen Alltag nicht wegzudenken.

Die interdisziplinär zusammengestellten Beiträge sind mit zwei Ausnahmen (A. Geisthövel und H. Knoch) aus der Tagung ,,Verklärung, Vernichtung, Verdichtung: Raum als Kategorie einer Kommunikationsgeschichte des 19. und 20. Jahrhundert" hervorgegangen, die der ,,Arbeitskreis Geschichte + Theorie" organisiert hat. Die Herausgeber Alexander C. T. Geppert, Uffa Jensen und Jörn Weinhold legen ihrem Sammelband eine hohe Messlatte auf: Die Beiträge sollen ,,als Bausteine für eine zukünftige Kommunikationsgeschichte der Gesellschaft" betrachtet werden. Dazu soll ,,Raum" seiner Bedeutung gemäß in den Vordergrund der Forschung gerückt und als ,,kultur- und geschichtswissenschaftliche Zentralkategorie" installiert werden (S. 10). Auf diese Weise soll der ,,theoretische(n) Verweigerungshaltung vieler Historikerinnen und Historiker" (S. 17) begegnet werden, die sich in ihrer empirischen Orientierung davor scheuen, theoretisch fundiert zu arbeiten und sich deshalb an die scheinbare Materialität des Raumes klammern, aber letztlich oft nur einem ,,sexy label" (S.18) aufsäßen. Diese Diagnose entbehrt sicher nicht ihrer Berechtigung, kommt aber, wie die gesamte Einleitung, im Duktus etwas überdreht daher, was die Lesefreude nicht unbedingt hebt. Es leuchtet aber unmittelbar ein, einem relationalen und nicht-substantialistisch Raumbegriff zu folgen, der eine Historisierung vereinfacht. Dazu passt, die Prozesshaftigkeit des Raumes als Verräumlichung hervorzuheben und kommunikationstheoretisch einzubinden. Der hier präsentierte Zugang zur Kategorie Raum hebt sich nämlich positiv von anderen dadurch ab, dass die Herausgeber Raum mit Hilfe des Kommunikationsbegriffs - der seltsamerweise nicht näher ausgeführt wird - konzeptualisieren wollen. ,,Räume strukturieren Kommunikation, werden aber selbst erst kommunikativ geschaffen" (S. 10, 18) lautet eine Kernthese, die in der Forschung zu öffentlichen Räumen und den verschiedenen Teil-Öffentlichkeiten bereits ähnlich formuliert worden ist. (5) Ebenso rennt die Feststellung, dass der Zeitraum zwischen 1880 und 1960 eine ,,massenmediale Sattelzeit" war, als eine weitere, hier profilierte Aussage offene Türen ein.

Die Beiträge sind in vier Themenfelder unterteilt. Die drei Beiträge des ersten Abschnitts ,,Raumkonzeptionen" tragen der Forderung der Herausgeber nach interdisziplinären Theorieangeboten Rechnung und lesen sich aus der Sicht des Historikers originell. Während sich Alexander Mejstrik mit epistemologischen Profilen der Raumvorstellungen in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften auseinandersetzt, zielen die beiden Geographinnen Judith Miggelbrink und Antje Schlottmann auf die Historisierung von Raumzuschreibungen und -interpretationen. Sie rücken Fragen in den Mittelpunkt, die sich auf die ,,alltägliche Herstellung von Raum" (S. 132), auf die Taktiken, Strategien und Orientierungsangebote der Verräumlichung (S. 103) richten. Diese Überlegungen sind für Historiker anschlussfähig und belegen deutlich ihre Berechtigung, wenn man z.B. die traditionell zugeschriebenen Differenzen zwischen den politischen Kulturen in Ost- und Westeuropa in Betracht zieht. Sie scheinen zum Großteil aus der Verräumlichung in geographische Zuordnungen ihre erklärende Wirkung zu beziehen.

In den weiteren drei Themenbereichen ,,Techniken kommunikativer Raumerschließung", ,,Urbane Topographien der Kommunikation" und ,,Kommunikation ästhetisierter Räume" sind neun Beiträge zusammengefasst, die das große Bündel an Theorieangeboten beispielhaft in die Forschungspraxis überführen sollen. Sie führen ein breites Spektrum an Fragestellungen und Zusammenhängen von Raum und Kommunikation vor, das von Raumvorstellungen europäischer Afrika-Kolonialisten (A. Honold), die Telegraphieverbindung zwischen Europa und Amerika durch den Atlantik (Ch. Holtorf), das Telefonieren als besondere Form gedehnter Äußerung (W. Konitzer) über das Kuren und Kommunizieren über soziale Grenzen hinweg in mitteleuropäischen Hydropolen (A. Geisthövel), die Rolle der Massenpresse für Kriminalermittlungen in der Großstadt (Ph. Müller), zeitgenössische Diagnosen über veränderte Raumwahrnehmungen und Kommunikationsbedingungen in der Großstadt (H. Knoch) bis hin zum Perspektivenwandel am Beispiel frühneuzeitlicher Kartographie und Landschaftsmalerei (T. Michalsky), Dresdner Villenarchitektur (A. Rooch) und der darstellenden Wirkung des Raumes im Museum (St. Paul) reicht.

Die hohen theoretischen Ansprüche der Herausgeber erweisen sich für einige Beiträge eher als Ballast und haben beim Leser eine Erwartungshaltung an besonders tiefgehende neue Einsichten aufgebaut, die nur partiell eingelöst werden können. Denn der Aspekt der Verräumlichung, der hier als ,,Set kommunikativer Praktiken, mit dem Individuen Raumbezüge herstellen und sich entsprechend orientieren" (S. 28), spielt für einige der hier bearbeiteten Themen nur eine hintergründige Rolle als schmückendes Beiwerk, als Projektionsfläche oder als schlichter ,,Container" (vgl. kritisch den Beitrag von Schlottmann) (Holtorf, Müller, Knoch, Rooch). Das Raumverständnis bleibt damit in vielen Beiträgen eher konventionell.

Besonders für Fragestellungen, in denen die Kommunikation in konkreten oder virtuellen städtischen Räumen untersucht werden soll, wäre generell zu klären, wo die hier vorgestellte Kategorie ,,Raum" einer Perspektive auf Teil-Öffentlichkeiten bzw. auf öffentliche Räume und ihre Akteure überlegen ist. Zumal auch in diesem Rahmen nach individuellen wie kollektiven Konstruktionsleistungen einerseits und das handlungsstrukturierende Potential von Kommunikationsräumen - samt der Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Räumen - andererseits gefragt werden kann.

Hervorzuheben ist der Beitrag von A. Honold, der das innovative Potential des Raumbegriffs vorführt, das die ,,Historisierung des alltäglichen ,Geographie-Machens' (B. Werlen)" (S. 19) ermöglicht. Honold beschreibt eine koloniale Legitimationsstrategie, die den afrikanischen Raum als leer imaginierte und die die wissenschaftliche und literarische Darstellungen strukturierte. Ein Baustein stellte z.B. der Horizont dar, der in der Neuzeit als eine ,,neue Art von geographischer Ferne" vorgestellt wurde, und auf ,,die endlose Prozessualität des Reisens selbst verweist" (S. 142). Die immer weiterziehende Karawane als Geselligkeitsform versinnbildlichte den stets zurückweichenden Horizont und die Utopie des leeren Raumes bis die Erschließung des Kontinents durch die Eisenbahn die Imagination des afrikanischen Raumes greifbar werden ließ.

Es steht außer Frage, dass der vorliegende Sammelband trotz der Einwände wichtige Anstöße gibt, das Potential des Raumbegriffs besser zu nutzen, und ein wichtiger Beitrag zur Raumdebatte ist. Schade ist allerdings, dass zwar in mehreren Beiträgen auf Karl Schlögels Arbeiten rekurriert worden ist, ost- und ostmitteleuropäische Räume aber verschlossen blieben.

Kirsten Bönker, Bielefeld


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 22. Dezember 2006