ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Boris Barth/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, (Historische Kulturwissenschaft, Bd. 6), UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2005, 438 S., brosch., 39,00 €.

,,Zivilisierungsmissionen" sind ein brandaktuelles Thema, wie etwa der amerikanische Angriff auf den Irak unter dem Vorwand, ein diktatorisches Regime wegen dessen angeblicher Verbindung zur Terrororganisation Al Qaida zu stürzen und dem Volk die Demokratie zu bringen, in jüngerer Zeit gezeigt hat - um nur ein Beispiel zu nennen. Der Begriff klingt unweigerlich nach einer Übersetzung des französischen Ausdrucks la mission civilisatrice bzw. des englischen civilizing mission. Selbst der Hamburger Historiker Andreas Eckert - einer der Autoren im vorliegenden Band - räumt ein, dass er zunächst ,,das Parfum einer altmodischen Imperialismusgeschichte, die vorwiegend die Kolonisierenden im Blick hat" (S. 269), gerochen habe. Doch es kommt eben, wie auch Eckert in seinem Artikel einräumt, auf den Blickwinkel an. So verweigern die Herausgeber, die Konstanzer Historiker Boris Barth und Jürgen Osterhammel, auch eine klare Definition des Begriffs ,,Zivilisierungsmissionen" und weisen ausdrücklich darauf hin, dass sie ihn als ,,definitorisch formbar(en)" Neologismus (S. 7) betrachten. Die internationalen Autoren der einzelnen Beiträge waren, abgesehen von vagen Vorgaben, frei darin, den Begriff mit Leben zu füllen. Der Sammelband entstand aus einer im September 2003 durchgeführten Tagung des Konstanzer Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs/SFB 485 ,,Norm und Symbol - Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration" und gewann mit großem Vorsprung den Buchpreis 2006 in der Kategorie ,,Außereuropäische Geschichte" des Internetportals H-Soz-u-Kult.

Barth und Osterhammel sehen in Zivilisierungsmissionen ,,einen bisher wenig beachteten Zentralaspekt der Idee- und Ideologiegeschichte der westlichen Moderne" (S. 11). Der Begriff behandele zum einen ,,die Vorstellung, dass sich die Überlegenheit bestimmter Rechtsnormen vor konkurrierenden anderen argumentativ erweisen lässt" - also universal gültige Maßstäbe wie die Genozidkonvention der Vereinten Nationen -, und zum anderen die Erfordernis, unter gewissen Umständen diese Maßstäbe der Zivilisiertheit durch Intervention zu verwirklichen (S. 9). Jürgen Osterhammel verdeutlicht in seinem mehr als 60-seitigen syntheseartigen Schlussbeitrag, dass die Idee der modernen Zivilisierungsmissionen ,,als eine besondere Variante der Fortschrittsidee" - und somit, wie er meint, im Gegensatz zum Kulturimperialismus - auf zwei Grundlagen beruhe: ,,der Überzeugung des Zivilisators von der eigenen Überlegenheit, aus der sich Selbstermächtigung zur Intervention in die Lebensumstände Anderer ableiten lässt, und der Erwartung einer gewissen Rezeptivität auf Seiten der zu Zivilisierenden. Die Vorstellung von einer biologisch oder kulturell alternativlos determinierten menschlichen Natur steht im Widerspruch zu Zivilisierungsmissionen" (S. 365; ähnlich S. 420). Es handele sich um ,,Elitenprojekte", die gesellschaftliche Strukturen transformieren wollen, ohne auf Misserfolge oder Widerstände eingestellt zu sein (S. 370 f.). Oft greift das ,,Paradox der Despotie", wenn die Vorstellung der befreienden Intervention dazu führt, selbst zum Unterdrücker zu werden. Osterhammel nennt Beispiele, die von der französischen Invasion Ägyptens im Jahre 1798 bis hin zum amerikanischen Angriff auf den Irak reichen (S. 373 f.).

Aus dem Blickwinkel des internationalen Vergleichs werden trotz völlig unterschiedlicher Kontexte strukturelle Analogien in den Erscheinungsformen von Zivilisierungsmissionen deutlich. Liberalismus, Konservativismus, Sozialismus oder andere Weltordnungsvorstellungen waren mit Zivilisierungsmissionen verbunden. Es gab (und gibt) innere wie äußere und auch nicht-okzidentale Zivilisierungsmissionen (z.B. ,,Selbstzivilisierung" in Japan) sowie vielgestaltige Ausdrucksformen (z.B. Kolonialbeamter, Missionar, Entwicklungshelfer). Wenn Barth und Osterhammel daher Zivilisierungsmissionen als ,,nicht deckungsgleich mit dem europäisch-nordamerikanischen Imperialismus und Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts" (S. 413) betrachten, so überwiegt doch in ihrem Sammelband klar die Betrachtung der ,,Theorie und Praxis - und die Diskrepanz zwischen ihnen - der Zivilisierungsmission in den europäischen Kolonien" (S. 408). Harald Fischer-Tiné zieht fast stellvertretend für die anderen Autoren für sein Fallbeispiel Indien das Fazit: ,,Je intensiver der Kontakt mit dem ,Zivilisationsbringer' wurde, umso offensichtlicher traten für die kolonisierte Bevölkerung die Schwächen und Unzulänglichkeiten der Kolonialherren zutage. Man ist versucht, daraus den Schluss zu ziehen, dass zivilisierende Missionen nur Glaubwürdigkeit beanspruchen können, solange sie Visionen bleiben. Bereits der bloße Versuch, sie in die Tat umzusetzen, führt sie ad absurdum" (S. 199). Die Grenzen zwischen Kulturimperialismus und Zivilisierungsmissionen sind denn doch wohl eher fließend.

Einige Beispiele der im Band behandelten kolonialen Zivilisierungsmissionen seien genannt. Dittmar Dahlmann geht auf die russische Eroberung Sibiriens und die Folgen für die dortige indigene Bevölkerung ein (S. 55-71). Andrew Porter spricht sich dagegen aus, die christlichen Missionen Großbritanniens ,,mit dem Ausbau des Empire in Verbindung zu bringen, weder als dessen Stütze noch als dessen Konsequenz" (S. 147). Almut Steinbach untersucht am Beispiel Ceylons und der Protected Malay States die keineswegs kohärente Sprachpolitik des Britischen Empire im 19. Jahrhundert (S. 149-169). Harald Fischer-Tiné berichtet in seinem bereits erwähnten spannenden Aufsatz von einer ,,internen Zivilisierungsmission" Großbritanniens, als im kolonialen Indien die sogenannte ,,Armee der Herumtreiber" in Arbeitshäuser für Europäer eingewiesen wurde (S. 169-199).

Boris Barth definiert in seinem Aufsatz über Rassenvorstellungen in den europäischen Siedlungskolonien Virginia, den Burenrepubliken und Deutsch-Südwestafrika genauer, was er unter Zivilisierungsmissionen versteht, nämlich die mit einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein und Überlegenheitsgefühl verbundene Vorstellung, ,,fremden Völkern oder entfernten Kulturen in Übersee eigene Wertvorstellungen, religiöse Glaubensgrundsätze oder kulturelle Normen vermitteln zu müssen" (S. 201). Er schlussfolgert, dass wirtschaftliche, kulturelle und politische Prozesse in Siedlungskolonien rassistische Rechtfertigungsideologien förderten, die der Idee der Zivilisierungsmission entgegenstanden. Die ,,sozialistische Kolonialpolitik" vor dem Ersten Weltkrieg (Christian Koller), die Selbstzivilisierung Japans in der kolonialen Moderne (Sebastian Conrad), und die Verwaltung als Zivilisierungsagentur im kolonialen Westafrika (Andreas Eckert) runden die Themen aus kolonialgeschichtlichem Blickwinkel ab. Drei Aufsätzen über US-amerikanische Zivilisierungsmissionen - die kontinentale Expansion im 19. Jahrhundert (Frank Ninkovich), die US-Intervention in Lateinamerika von 1910 bis 1945 (Corinne A. Pernet) und die ,,State Building"-Politik in Südostasien 1945-1961 (Marc Frey) - kommt angesichts der Tagespolitik ein besonderes Maß an Aktualität zu.

Zivilisierungsmissionen leben laut Osterhammel ohnehin weiter fort, etwa als Entwicklungshilfe, im Wiederaufleben der religiösen Mission, in der Erweiterung der Europäischen Union, im Verhältnis zwischen Europa und der Türkei oder im Eingreifen der Staatengemeinschaft in Form der Vereinten Nationen (S. 422-424). Es erstaunt allerdings, dass nur ein Nicht-Historiker, der Tübinger Philosoph Wolfgang M. Schröder, sich die Sinnfrage stellt, ,,warum Zivilisation überhaupt sein soll" bzw. ,,warum nicht oder nur unvollständig ,zivilisierte' Zustände dagegen möglichst zu beseitigen" seien (S. 17). Man fragt sich daher, ob die Begriffe ,,Zivilisierungsmissionen" und ,,Weltverbesserung" im Titel nicht vielleicht doch besser in Anführungszeichen hätten gesetzt werden sollen. Man muss die Haltung der Herausgeber jedoch nicht teilen, um das Buch dennoch sehr anregend zu finden. Dem Band gebührt das Verdienst, das aktuelle Thema durch Fallbeispiele historisch vergleichend, verständlich und in erfreulicher geographischer Ausdehnung zu ergründen. Barths und Osterhammels Pioniertat gebührt eine breite Rezeption und eine angeregte Diskussion.

Dirk Sasse, Münster


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