Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Marion Kaplan/Beate Meyer (Hrsg.), Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 27), Wallstein Verlag, Göttingen 2005, 491 S., geb., 38,00 €.
Jüdische Welten vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart werden in diesem Sammelband, der Festschrift für Monika Richarz, multiperspektivisch sichtbar. Fünf Leitthemen bündeln die Beiträge: ,,Juden auf dem Lande", ,,Weiblichkeit und Männlichkeit", ,,Biographische Miniaturen", ,,Der Holocaust und seine Folgen" und schließlich ,,Erinnerungskultur und Historiographie". Dass in der Fülle der 24 Aufsätze nie der Eindruck einer zufälligen Auswahl entsteht, sondern dass sich die Texte eher gegenseitig vertiefen, ist das Verdienst der Herausgeberinnen. Marion Kaplan, Professorin für Modern Jewish History an der New York University, ist sicher eine der profiliertesten Kennerinnen deutsch-jüdischer Alltags- und Sozialgeschichte und insbesondere der Geschichte jüdischer Frauen. Forschungsschwerpunkte von Beate Meyer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, sind die Geschichte des Nationalsozialismus und der NS-Judenverfolgung. Eine der Adressatin dieser Festschrift gewidmete biographische Skizze ist dem Band vorangestellt. Beate Meyer gelingt es in diesem Text, etwas von der Empathie und Neugier zu vermitteln, die Monika Richarz` wissenschaftliche Arbeiten auszeichnet. Früh in internationale Forschungszusammenhänge eingebunden, bewegte sich die langjährige Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg selten entlang der Moden bundesdeutscher Historiographie und wandte sich früh der Alltags- und Sozialgeschichte wie der Geschlechtergeschichte zu.
Im Folgenden kann nur eine Auswahl aus den Beiträgen vorgestellt werden, die angesichts der fast durchgängigen Qualität des Bandes nicht als Gewichtung zu verstehen ist.
Einen alltags- und sozialgeschichtlichen Fokus haben die Aufsätze im ersten Oberkapitel ,,Juden auf dem Lande". Robert Liberles geht einem Disput aus dem Jahr 1769 nach, in dem die jüdischen Gemeinden der Stadt Karlsruhe und des kleinen Ortes Rastatt um die Beerdigung des gemeinsamen Rabbi streiten. Entlang einer außergewöhnlichen Episode werden nicht nur die handelnden Personen - und der Verstorbene - in ihrem Umfeld, sondern auch die oft schwierigen Umstände erkennbar, unter denen das ländliche Judentum im 18. Jahrhundert Traditionen zu wahren sucht.
Im zweiten Kapitel ,,Weiblichkeit und Männlichkeit" wählt Deborah Hertz für ihren Aufsatz ,,Dueling for Emancipation: Jewish Masculinity in the Era of Napoleon" einen klassischen Romaneinstieg, und wie ein Roman entfaltet sich auch ihr vielschichtiger und spannender Text. Achim von Arnim, so in Kürze die Geschichte, beleidigt absichtsvoll eine jüdische Dame, in deren Berliner Salon er zu Gast ist; deren Neffe Moritz Itzig fordert von Arnim zum Duell heraus. Die Autorin, Professorin an der University of California in San Diego, beleuchtet die Suche nach neuen (Geschlechter-)Rollen im aufgeklärten jüdischen Bürgertum. Gegenüber antisemitischer Arroganz innerhalb der deutschen Romantik behauptet sich ein zunehmendes Selbstbewusstsein jüdischer Männer. Nicht zuletzt geht es in diesem Aufsatz um die möglichen Codierungen und Anverwandlungen eines männlichen Rituals.
In Marion Kaplan's Beitrag ,,,Based on Love`. The Courtship of Hendele and Jochanan, 1803-1804" stehen die Brautbriefe im Mittelpunkt, mit denen sich zwei junge Menschen in einer kurzen Friedenszeit zwischen den Napoleonischen Kriegen ihre Partnerschaft erschreiben. Die Briefe, die von alltäglichen Erlebnissen und intimen Gefühlen, von der Suche nach eigener Identität und Zueinanderfinden handeln, lassen dabei doch den öffentlichen Raum erkennen, der hinter dem privaten liegt. Hendele und Jochanan stehen an der Schwelle zu einem modernen Ehe- und Familienverständnis, das die romantische Liebe als Möglichkeit für eine Partnerschaft zulässt.
Im Kapitel ,,Biographische Miniaturen" entfaltet Robert Jütte in seinem Aufsatz ,,Moses Mendelssohn und seine Ärzte", einem Rabelais'schen Diktum von der ärztlichen Praxis als eines Dreipersonenstücks mit dem Kranken, dem Arzt und der Krankheit als den Hauptpersonen folgend, die Krankengeschichte Moses Mendelssohns nicht nur als sensible Biographie des Philosophen im Austausch mit seinen Freunden, Korrespondenzpartnern und seinen drei Ärzten, sondern auch als Ausschnitt aus der Sozialgeschichte des Krankseins und der Krankheit.
Konrad Kwiet verfolgt den Lebensweg von Bully Schott, Boxer aus dem Berliner Scheunenviertel, dem eine der wenigen Fluchten aus Auschwitz gelingt, und der nach der Befreiung NS-Verbrecher und Verräter in Berlin aufzuspüren sucht, bevor er nach Australien emigriert.
Der Beitrag von Avraham Barkai handelt von der Begegnung der beiden jüdischen Partisaninnen Chaika Grossmann und Chasia Bielicka mit dem nichtjüdischen Geschäftsmann Otto Busse, der schließlich aktives Mitglied ihrer Bialystoker Widerstandsgruppe wird.
,,Der Holocaust und seine Folgen" ist das vierte Kapitel des Bandes überschrieben. Im Aufsatz von Walter Bacharach ,,Dem Tod ins Auge schauen", rückt das Entsetzliche der deutschen Verbrechen sehr nahe. Der Direktor des Leo Baeck Instituts in Jerusalem und Mitarbeiter von Yad Vashem zitiert aus Briefen und Notizen, die jüdische Männer und Frauen vor ihrer Ermordung in den Konzentrationslagern schrieben. Ihren letzten Worten vor dem Tod sind ihre tiefste Trauer und ihr Leid, ihre letzten Hoffnungen und ihre Menschlichkeit eingeschrieben.
Berichte von Überlebenden, die in den Monaten nach der Befreiung im besetzten Berlin entstehen, interpretiert Atina Grossmann. Wem und warum, so fragt die New Yorker Historikerin, werden diese immer unvollständigen Geschichten erzählt? Diese Frage führt über innerjüdische Kontroversen nach 1945 hin zu den zunehmend verzweifelten Forderungen der Überlebenden nach Entschädigung und Wiederherstellung des Rechts. In einer im Aufsatz zitierten Rückerstattungsklage wird die bittere Geschichte des ,freundlichsten kleinen Hotels von Berlin` sichtbar, dem Bürgermeister Wowereit 2002 einen Preis verleiht, ohne zu wissen, dass die Hotelgeschichte von ,Arisierung` und verweigerter Schuldanerkennung handelt.
,,Das Fremde in uns selbst. Über Identität und Wahrnehmung" ist der Beitrag von Yfaat Weiss überschrieben, der das Kapitel ,,Erinnerungskultur und Historiographie" einleitet. Entlang der Geschichte jüdischer Minderheiten im aus den Fugen geratenen Europa des 20. Jahrhunderts entfaltet die an der Universität Haifa lehrende Historikerin ,,die Deutungsmöglichkeiten von Identität als wissenschaftlichem Konzept" (S. 362).
Der den Band beschließende Beitrag von Shulamit Volkov beleuchtet die wechselvolle Geschichte von Austausch, Konflikt und Auseinandersetzung zwischen der Historiographie der Shoah in Israel und in Deutschland und entwirft eine mögliche Zukunft. Neue und zum Teil vielleicht gemeinsame Wege, so wird deutlich, können nur beschritten werden, wenn die unterschiedlichen Welten reflektiert und die blinden Flecken der Geschichtsschreibung im Land der Täter seit 1945 nicht verleugnet werden.
Der Band enthält insgesamt Beiträge von Mitchell G. Ash, Walter Zwi Bacharach, Frank Bajohr, Avraham Barkai, Andreas Brämer, Anat Feinberg, Henry Friedlander, Atina Grossmann, Stefi Jersch-Wenzel, Daniel Jütte, Robert Jütte, Deborah Hertz, Marion Kaplan, Konrad Kwiet, Robert Liberles, Ina Lorenz, Steven M. Lowenstein, Beate Meyer, Sabine Offe, Arnold Paucker, Sybille Quack, Stefanie Schüler-Springorum, Hermann Simon, Shulamit Volkov und Yfaat Weiss.
Cordula Lissner, Leverkusen