ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Inge Hansen-Schaberg, Die Praxis der Reformpädagogik, Dokumente und Kommentare zur Reform der öffentlichen Schulen in der Weimarer Republik, Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbronn 2005, 285 S., brosch., 18,00 €.

In der geisteswissenschaftlichen Tradition der pädagogischen Historiografie standen lange die Theoretiker von Schule und Unterricht im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses, während die Untersuchung des konkreten Schulalltags außen vor blieb. Erforscht wurden unter ideengeschichtlichen Aspekten die Schriften ,,berühmter" Pädagogen, die Beschäftigung mit der Praxis »einfacher« Lehrerinnen und Lehrer an einzelnen Schulen indes lange unberücksichtigt blieb. Dies hat sich geändert und zunehmend erhält auch die historische Analyse von Schul- und Unterrichtspraxis Einzug in die Schulgeschichtsschreibung.

In diesem neueren Forschungsfeld der pädagogischen Historiografie ist die kommentierte Quellensammlung von Inge Hansen-Schaberg anzusiedeln. Sie vereint insgesamt 34 Quellentexte und bietet damit eine ebenso vielfältige wie informative Auswahl an Texten zur Schul- und Unterrichtspraxis der Reformpädagogik aus der Zeit der Weimarer Republik an. Bereits seit der Jahrhundertwende entwickelten sich aus der Kritik am wilhelminischen Schulwesen neue pädagogische Ansätze. Solche Innovationen einer pädagogischen Aufbruchstimmung sowie die daraus hervorgehenden Reformierungsvorhaben des Schulwesens herauszuarbeiten und dadurch die weitere Entwicklung der Reformpädagogik aufzuzeigen, ist die Intention dieser Studienausgabe. Das Buch wendet sich an Studierende und Wissenschaftler, gleichsam aber auch an Lehrerinnen und Lehrer, die neue Anregungen für ihren Unterricht erhalten können. Darüber hinaus versteht sich die Quellentextsammlung als Beitrag zur Bildungsreform nach der PISA-Studie, da der Kern der Ergebnisse der Studie bei der Auswahl der Texte berücksichtig wurde.

Die Verfasserin arbeitet in zehn Kapiteln die wichtigsten pädagogischen Strömungen reformpädagogischer Unterrichtspraxis heraus: Pädagogik vom Kinde aus, Arbeitsschule, Lehrplankritik und Lehrplanentwicklung, Schulorganisatorische Rahmenbedingungen, Schulkonzeptionen, Didaktisch-methodische Überlegungen, Unterrichtsbeispiele, Gemeinschaftserziehung der Geschlechter, Demokratie in der Schule und Schulkultur. Für die Auseinandersetzung mit der jeweiligen Thematik ist es dabei für den Leser überaus hilfreich, dass den Quellentexten sowohl eine theoretische Einführung als auch ein historischer Rückblick auf entsprechende Entwicklungen im Kaiserreich vorangestellt ist, die einen für das Textverständnis der Quellen nützlichen Überblick gestatten. Literaturhinweise, vor allem neuerer Forschungsarbeiten, erlauben eine weiterführende Beschäftigung mit der jeweiligen Themenstellung.

Durch die vorteilhafte und übersichtliche Gliederung und gut lesbare Erläuterungen zu den jeweiligen Aspekten der Reformpädagogik haben gerade Studierende und mit der Thematik Nicht-Vertraute die Möglichkeit, sich einen Überblick über die Komplexität und den Verlauf der reformpädagogischen Entwicklung am Anfang des 20. Jahrhunderts zu verschaffen.

Verständlicherweise ist es bei einer vielschichtigen Thematik wie der Analyse von Unterrichtspraxis der Reformpädagogik notwendig, auszuwählen und Schwerpunkte zu setzen, so dass selbstverständlich nicht alle Charakteristika des Schulalltags an Reformschulen in dieser Zeit explizit dargestellt werden. Die Verfasserin behandelt beispielsweise nicht die Elternmitarbeit, die intensive Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus, die gerade an den Lebensgemeinschaftsschulen eine wesentliche Rolle spielte und dort quasi als Eckpfeiler für die erzieherische Arbeit überhaupt gesehen werden kann. Doch auch wenn einige relevante Aspekte nicht mit in die Gliederung des Bandes aufgenommen werden konnten, gelingt es der Herausgeberin durch die Auswahl der Quellentexte dennoch, eine Vielzahl anderer für die Reformpädagogik typischer Arbeitsweisen anschaulich zu thematisieren. Daher wird etwa in dem Text über ,,das Verhältnis von Schule und Haus" oder über »die Organisation und Arbeit der 308. Volksschule in Berlin« auch deutlich, wie wichtig und unerlässlich die Mitarbeit der Eltern am Schulleben ist. Ähnlich verhält es sich mit anderen Merkmalen reformpädagogischen Schulalltags wie der veränderten Form der Zeugnisgebung, Schulstrafen und Sanktionen oder dem neuen Lehrertypus, um nur einige zu nennen.

So ist es der Herausgeberin dieses Bandes durch ihre Auswahl der Texte gelungen, weit mehr Bereiche des Unterrichtsalltags vorzustellen als es durch die Einteilung in zehn Kapitel auf den ersten Blick erscheint.

Inge Hansen-Schaberg versteht ihre Veröffentlichung auch als Beitrag zur Bildungsreform nach der PISA-Studie. Sie plädiert dafür, bildungspolitischen Defiziten statt mit ,,Evaluationswut" und standardisierten Leistungsmessungen besser durch die Auseinandersetzung mit historischen Reformschulen und durch das Wagnis zu begegnen, Lösungsstrategien in der Kreativität, Selbständigkeit und Selbsttätigkeit aller an Bildungsprozessen Beteiligten zu suchen. Auch wenn es aufgrund veränderter politischer und soziokultureller Verhältnisse problematisch ist, das, was unter ,,reformpädagogischer Epoche" verstanden wird, als ,,Steinbruch" für heutige pädagogische Konzeptionen zu verwenden, ist die Rückwendung auf historische Pädagogik und insbesondere auf die erfolgreiche Praxis reformpädagogischer Schulen bei entsprechender Adaption nicht nur sinnvoll, sondern bei der Gestaltung aktueller Bildungspolitik lohnenswert und durchaus notwendig.

In den Versuchsschulen der 1920er Jahre nahmen die Selbständigkeit und Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schüler für das Erreichen der pädagogischen Zielsetzungen einen breiten Raum ein. Da die für den Lernprozess unerlässliche Eigentätigkeit bei der Aneignung von Wissen und Kenntnissen durch Erfahrung bereits bei Konfuzius und später bei Rousseau und Pestalozzi als Ausgangspunkt des Lernens überhaupt beschrieben wurde, ist es nur folgerichtig, dass vor allem die Praktiker der Versuchsschulen diese Erkenntnis zur Grundlage aller pädagogischen Arbeit in der Schule bei der Umsetzung ihrer Reformvorhaben erhoben. Deutlich wird dies in dem vorliegenden Band nicht nur in den Quellen zu den Arbeits- und Gemeinschaftsschulen, sondern insbesondere bei der großen Anzahl der Beschreibungen von Unterrichtsbeispielen. Während in der deutschen Bildungslandschaft nach wie vor früh selektiert wird und sich Schulunterricht in der Sekundarstufe vermutlich viel zu oft auf Frontal- und Buchunterricht beschränkt, gibt es Beispiele aus skandinavischen Ländern, in denen die Dreigliedrigkeit des Schulwesens schon in den 1960er Jahren abgeschafft wurde und statt Frontalunterricht die Selbsttätigkeit der Lernenden im Vordergrund steht. Was bei den Versuchs- und Reformschulen der Weimarer Republik zur pädagogischen Programmatik gehörte, zeigt die Verfasserin mit dem Text von Erich Hylla über die ,,selbständige geistige Bearbeitung und Übung": Alles was Kinder lernen, soll von ihnen innerlich erlebt und selbsttätig erworben werden. Darüber hinaus aber stellt die Klasse selbst das Arbeitsziel auf und entwirft für die Erreichung der Ziele einen Arbeitsplan. Die Schülerinnen und Schüler beurteilen die Leistungen und regeln so als Arbeitsgemeinschaft, als Lernwerkstatt, ihr eigenes Tun. Parallelen zu dieser Arbeitsweise finden sich heute bei Schulversuchen wie etwa in Hamburg, bei denen ausgehend von der Arbeit von Andreas Müller im Institut Beatenberg in der Schweiz Schülerinnen und Schüler selbständig und eigenverantwortlich lernen, und zwar nicht für die Belohung oder die Vermeidung von Strafe, sondern durch die Freude an der Sache, eben nicht weil man muss, sondern weil man sich so entschieden hat.

Da der Erfolg solcher Schulversuche, bei denen Kongruenzen zu reformpädagogischen Ansätzen erkennbar sind, deutlich messbar ist, lohnt es sich umso mehr, die unterschiedlichen Konzepte der Reformpädagogik genauer zu analysieren. Insofern wird Inge Hansen-Schaberg ihrem Anspruch durchaus gerecht, die Auswahl ihrer Quellentexte auch als Beitrag zur Bildungsreform nach der PISA-Studie zu verstehen, da bei heutigen erfolgreichen Schulmodellen eine Vielzahl von Ansätzen reformpädagogischer Unterrichtspraxis wieder zu finden ist, die schon in ihrer Zeit zum Gelingen der Reformvorhaben nachhaltig beitrug und zukünftige Schulpolitik entscheidend beeinflusste.

Inge Hansen-Schaberg legt mit ihrem Band eine beachtenswerte und gut lesbare Studienausgabe vor, die sowohl Laien einen unkomplizierten Einstieg in das Thema gestattet als auch Fachleuten die Möglichkeit gibt, ihr Wissen zu vertiefen und zu erweitern. Ein besonderes Verdienst des Buches besteht darin, anhand der Analyse historischer Entwicklungen auch Anregungen für aktuelle Bildungsdiskussionen zu bieten.

Adrian Klenner, Hamburg


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