Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Dieter Deiseroth (Hrsg.), Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht, Verlagsgesellschaft Tischler, Berlin 2006, 380 S., geb., 24,00 €.
Als am 27. Februar 1933 in Berlin der Reichstag brannte, war dies für das NS-Regime ein willkommener Vorwand, Tausende seiner Gegner verhaften zu lassen. Schon am nächsten Tag unterschriebt Reichspräsident Hindenburg die so genannte ,,Verordnung zum Schutz von Volk und Staat", die in bis dahin nicht bekanntem Umfang Grundrechte außer Kraft setzte und bis Mai 1945 galt, also den bis zur totalen Niederlage Hitler-Deutschlands andauernden Ausnahmezustand ,,legitimierte". Die Frage nach der Täterschaft wurde und wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Als Täter verurteilte das Reichsgericht noch 1933 den holländischen Anarcho-Sozialisten Marinus van der Lubbe zum Tode. Der stark sehbehinderte van der Lubbe war noch am Tatort verhaftet worden und hatte behauptet, mit ein paar einfachen Kohleanzündern und ohne Brandbeschleuniger den Plenarsaal in wenigen Minuten erfolgreich in Flammen gesetzt zu haben. Das Gericht vermutete Mittäter und Hintermänner. Der vom Regime erwünschte Beweis, dass dies die Kommunisten gewesen seien, konnte allerdings nicht erbracht werden und Spuren zu verfolgen, die in Richtung einer NS-Täterschaft hätten führen können, wurde vernachlässigt.
1959/60 vertrat der Ministerial- und Verfassungsschutzbeamte Fritz Tobias in einer SPIEGEL-Serie die These von der Alleintäterschaft van der Lubbes, die er dann 1962 zu einem Buch erweiterte. Tobias stützte sich wesentlich auf Aussagen des damals ermittelnden Kriminalkommissars Walter Zirpins, der zuvor anderen Forschern wie Richard Wolff jede Auskunft verweigerte und exklusiv Fritz Tobias Informationen lieferte. Der damals junge, am Institut für Zeitgeschichte in München tätige Historiker Hans Mommsen kritisierte 1962 den wissenschaftlichen Gehalt der Studie von Tobias in einer Rezension für die Stuttgarter Zeitung heftig, erklärte dann aber 1964 in einem langen Beitrag für die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Fritz Tobias habe die These vom Alleintäter van der Lubbe stichhaltig und wissenschaftlich überzeugend nachgewiesen. Bis heute bestimmt diese Sichtweise den Mainstream der Geschichtswissenschaften in dieser Frage.
Der vorliegende, von Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht, herausgegebene Sammelband geht auf ein Symposium Ende 2003 mit dem Thema ,,Zum 70. Jahrestag des Reichstagsbrandprozesses" zurück, das im historischen Sitzungssaal des früheren Reichsgerichts und heutigen Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig stattfand. Das Urteil des Reichsgerichts 1933 wird in diesem Werk erstmals in vollem Wortlaut publiziert. Der Band bündelt die Forschungsergebnisse ausgewiesener Experten, deren Erkenntnisse die Alleintäterthese schwer erschüttern, nachdem zunächst der Herausgeber selbst sowie der Strafrechtsprofessor Ingo Müller - schon 1987 durch sein Buch ,,Furchtbare Juristen" bekannt geworden - die Auffassung, das Reichsgericht habe damals in schwerer Zeit noch weitgehend nach rechtsstaatlichen Maßstäben gehandelt, als eine beschönigende Legende herausstellen. Tatsächlich waren die deutschnational geprägten Richter weder willens noch in der Lage, die zur Verteidigung des Rechtsstaats unverzichtbare innere Unabhängigkeit gegenüber staatlichen Erwartungen, Vorgaben und Zumutungen aufzubringen.
Die beiden wichtigsten Vertreter aus dem Kreis der heutigen Kritiker der Alleintäter-Theorie, Alexander Bahar und Hersch Fischler, weisen zum einen unabhängig voneinander zahlreiche gravierende Argumentations- und Beweis-Defizite in den Publikationen von Fritz Tobias und Hans Mommsen nach. Zum anderen haben sie die verfügbaren Quellen daraufhin ausgewertet und untersucht, ob sich die Frage nach den Brandstiftern nicht doch beantworten lässt. Dabei kommen sie in ihren in diesem Band abgedruckten Beiträgen ungeachtet aller Schwierigkeiten, die mit einer nachträglichen Rekonstruktion eines mehr als 70 Jahre zurückliegenden Geschehens notwendigerweise verbunden sind, zu dem Ergebnis, die Indizienlage spreche relativ eindeutig für eine Nazitäterschaft (so Bahar), gegebenenfalls im Verbund mit deutsch-nationalen Aktivisten (so Fischler). Beide Forscher, deren Beiträge auch vom Umfang her den Hauptanteil des Sammelbandes ausmachen, zeigen zudem die geschichtspolitisch motivierten Ereignisse bei der Durchsetzung der Alleintäterthese auf.
Hersch Fischler, der jüngst in Heft 4/2005 der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte in einem vielbeachteten Beitrag den in eben dieser Zeitschrift 1975 von Alfred Berndt behaupteten großzügigen Zeitrahmen für van der Lubbes Brandlegung widerlegen kann, fokussiert die Rolle des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) in den 60er Jahren. Dargelegt wird so z.B. die Unterdrückung der Publikation einer ursprünglich von dem Institut in Auftrag gegebenen Untersuchung des Historikers und Oberstudienrates Hans Schneider, der nachweisen konnte, dass Tobias für sein Thema relevante Quellen ignoriert oder passgenau für die Beweisführung seiner These arrangiert hat, z.B. durch nicht kenntlich gemachte Auslassungen, die seine Auffassungen in Frage gestellt hätten. Mommsen hatte seinerzeit per Aktenvermerk dokumentiert, die Veröffentlichung von Schneiders Kritik sei ,,aus allgemeinpolitischen Gründen unerwünscht", eine Praxis, von der sich das Institut inzwischen ausdrücklich distanziert hat. Des weiteren weist Fischler nach, dass Tobias' Kronzeuge für die Alleintäterthese, der damals im Reichstagsbrand ermittelnde Kriminalkommissar Walter Zirpins, ein elementares Interesse an der Durchsetzung der Behauptung, van der Lubbe sei der Alleintäter gewesen, als historische Wahrheit hatte, um so die eigene Person vor drohenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum ,,Justizmord" an van der Lubbe zu schützen.
Alexander Bahar geht ebenfalls auf die Vorgänge um das Gutachten Hans Schneiders im IfZ der 1960er Jahre ein, analysiert aber darüber hinaus die Rolle des SPIEGEL bei der Durchsetzung der Alleintäterthese. An hochrangigen NS- und SS-Führern, die Mitarbeiter des ,,frühen" SPIEGEL waren, nennt er u.a. den Goebbels-Referenten Wilfred von Oven, den ersten Gestapo-Chef Rudolf Diels, Horst Mahnke, den Adjutanten des Chefs des SS-Einsatzkommandos vor Moskau Franz Alfred Six, sowie dessen weiteren Mitarbeiter Georg Wolff, die es beide zu leitenden SPIEGEL-Redakteuren gebracht hatten. Und schließlich den als Bestsellerautor ,,Paul Carell" bekannt gewordenen Pressechef des NS-Außenministeriums Paul Karl Schmidt, der nicht nur das Manuskript von Fritz Tobias für die Reichstagsbrandserie dieses Nachrichtenmagazins bearbeitete, sondern in einem eigenen, namentlich nicht gekennzeichneten Artikel schon am 16. Januar 1957, also fast drei Jahre vor der Publikation der Tobias-Serie Ende 1959, Anfang 1960 einen Teil der Argumente von Tobias für die Behauptung vom Alleintäter van der Lubbe vorwegnahm, indem er z.B. die Person des Ermittlers Walter Zirpins als besonders glaubwürdig herausstellte und die angeblich fast schon übertriebene Rechtstaatlichkeit des Reichsgerichts 1933 betonte. Bahars Darstellung der Indizien, die auf eine NS-Täterschaft schließen lassen und auf seinem 2001 zusammen mit Wilfried Kugel verfassten Standardwerk ,,Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird" gründet, erscheint überzeugend, wenngleich sie von dem Leser verlangt, sich auf die zum Teil äußerst komplexe und verschachtelte Materie eines politischen Kriminalfalles einzulassen. Danach muss der Reichstagsbrand bereits einige Zeit vor dem 27. Februar 1933 geplant worden sein. Die Idee dazu scheint auf den NSDAP-Propagandachef und Wahlkampfleiter für die Reichstagswahlen am 5. März 1933, Joseph Goebbels, zurückzugehen. Das Ziel sei die Ausschaltung der KPD gewesen, um den Rechtsparteien nach Kassierung der KPD-Mandate eine parlamentarische Mehrheit zu verschaffen. Göring habe seine Möglichkeiten als Reichstagspräsident sowie seine tätige Mitarbeit unter Benutzung des Reichstagspräsidentenpalais zur Verfügung gestellt, das über einen unterirdischen Gang mit dem Reichstagsgebäude verbunden war. Am 27. Februar 1933 um etwa 20 Uhr gelangte ein Kommando von minimal 3, maximal 10 SA-Leuten in den Keller des Reichstagspräsidentenpalais. Das Kommando nahm die vorher deponierten Brandmittel, drang durch den unterirdischen Gang vom Reichstagspräsidentenpalais in das Reichstagsgebäude ein und präparierte dort insbesondere den Plenarsaal mit einer wahrscheinlich erst hier angemischten selbstentzündlichen Flüssigkeit, die nach einer gewissen Latenzzeit den Brand im Plenarsaal auslöste. Das Kommando entkam wieder durch den unterirdischen Gang und den Keller des Reichstagspräsidentenpalais auf die öffentliche Straße "Reichstagsufer". Göring betrat nachweislich spätestens um 21.19 Uhr allein das brennende Reichstagsgebäude, nach Bahars Deutung wahrscheinlich, um den Rückzug der Brandstiftertruppe zu decken. Van der Lubbe wurde genau um 21 Uhr von der SA zum Reichstagsgebäude gebracht und in dieses eingelassen. Der Plenarsaal war bereits präpariert. Das von Zeugen bemerkte Klirren der von van der Lubbe für seinen Einstieg angeblich eingeschlagenen Scheiben diente wahrscheinlich nur dazu, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen. Der Holländer wurde nach dieser auf Indizien basierenden Darstellung als einzig greifbarer Täter und Strohmann geopfert.
Weniger erhellend erscheint dem Rezensenten die von Reinhard Stachwitz durchgeführte Schulbuchanalyse zur Rezeption des Reichstagsbrandes in Lehrbüchern für den Geschichtsunterricht. Stachwitz macht nicht deutlich genug, dass Schulgeschichtsbücher nur wenige Sätze zu diesem Thema verlieren und insgesamt doch eher eine Distanz zur These vom Alleintäter van der Lubbe zeigen, indem sie die Frage der Täterschaft meist offen lassen. Aufschlussreich hingegen ist der Beitrag des langjährigen IFZ-Historikers und zeitweiligen Chefredakteurs der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Hermann Graml, auch wenn er seine Fälschungsvorwürfe an die früheren Vertreter der These von der NS-Täterschaft Edouard Calic und Walter Hofer nur mit dem Hinweis auf einen ZEIT-Artikel Karl-Heinz Janssens belegen kann oder will. Graml begründet seine Zweifel sowohl an der These von der Alleintäterschaft van der Lubbes als auch an der Auffassung, die Nazis seien die Täter gewesen, nicht zuletzt mit den interessegeleiteten methodischen Verengungen beider Lager sowie ihrem jahrzehntelangen destruktiven Umgang miteinander, wodurch eine kritische, auf Erkenntnisgewinn orientierte wissenschaftliche Kontroverse ausgehöhlt worden sei und zu einem kontinuierlich abnehmenden Interesse an dem Thema unter Historikern geführt habe. Alexander Bahar und Hersch Fischler attestiert er aber ausdrücklich, die Forschungen zum Reichstagsbrand durch gründliche Untersuchungen erst seit Anfang der 1990er Jahre im Bundesarchiv zugänglicher Quellen (u.a. originale Akten von Reichsgericht und Politischer Polizei), die vorher in sowjetischen und DDR-Archiven lagerten, versachlicht und vorangebracht zu haben. Nach Graml stellt die auf diesen Dokumenten basierende Indizienkette keinen endgültigen Beweis für die NS-Täterschaft dar, ,,auch wenn konstatiert werden kann, dass alte Verdachtsmomente, die auf NS-Täterschaft spekulieren ließen, aufgefrischt und außerdem zusätzliche Verdachtsmomente entdeckt wurden" (S. 29).
Dieses wissenschaftlich fundierte Werk, das Kontroversen nicht zukleistert, sondern erörtert und von allen Autoren in einer bemerkenswert gelungenen Mischung von sachlicher und gut verständlicher Diktion verfasst ist, ja, dessen Beiträge zum Teil spannend wie bei einem Kriminalfall zu lesen sind, kann ohne Einschränkungen empfohlen werden.
Wigbert Benz, Karlsruhe