ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Barbara Sonnenberger, Nationale Migrationspolitik und regionale Erfahrung. Die Anfänge der Arbeitsmigration in Südhessen 1955-1967 (Schriften zur hessischen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, Bd. 6), Hessisches Wirtschaftsarchiv e.V., Darmstadt 2003, 555 S., geb., 49,00 €.

Bei Barbara Sonnenbergers Buch über nationale Migrationspolitik und regionale Migrationserfahrung während des ersten Jahrzehnts der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik handelt sich um die bisher wohl detaillierteste Studie zur bundesdeutschen Zuwanderungspolitik zwischen 1955, dem Jahr des deutsch-italienischen Anwerbevertrages, und 1967, das als Abschlussjahr der ersten westdeutschen Nachkriegsrezession noch vor dem Anwerbestopp von 1973 einen ersten migrationspolitischen Einschnitt markierte. Deshalb wäre es verfehlt, dieses Buch nur als Regional- oder Lokalstudie zu rezipieren. Die Leistungen der Arbeit liegen zum einen in ihrer Genauigkeit, die den Text zur Pflichtlektüre für die einschlägig Forschenden macht, nicht aber zu einer leichten Kost für Nichtspezialisten werden lässt. Zum anderen zeichnet sich das Buch durch das Bemühen um eine klare Typisierung und dadurch aus, dass es allzu pauschale Ergebnisse der bisherigen Forschung ausdifferenziert.

Die Grundfrage der Autorin lautet: Kann man das erste "lange" Jahrzehnt der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik, wie in der einschlägigen Forschung bisher nahezu einhellig angenommen, als "Gastarbeiterperiode" kennzeichnen, oder handelte es sich nicht schon um den Beginn eines Einwanderungsprozesses? Zur Klärung dieser Problematik untersucht die Studie erstens die Migrationspolitik auf Bundesebene und zweitens die empirisch eruiertbaren Migrationsmuster zweier südhessischer Städte. Die begriffliche Klammer der Untersuchung bieten die Termini "Gastarbeit" und "Einwanderung". Mit Blick auf die Zuwanderungspolitik impliziert dies die idealtypische Unterscheidung in Gastarbeiterpolitik, die eine akute Arbeitskräftenachfrage durch den zeitlich beschränkten Import von Arbeitskräften zu befriedigen sucht, und eine - wirtschaftlich motivierte - Einwanderungspolitik, die den Migranten eine langfristige Funktion auf dem einheimischen Arbeitsmarkt und damit perspektivisch die Zugehörigkeit zur Aufnahmegesellschaft zuschreibt. Bezogen auf die Migrationsmuster, bilden, wiederum idealtypisch, die Gastarbeiter, die für einen begrenzten Arbeitsaufenthalt zuwandern und in dieser Zeit unter dem Aspekt des Sparens für die Heimat ein möglichst hohes Einkommen erzielen wollen, und die Einwanderer, die ihren Lebensmittelpunkt in die Aufnahmegesellschaft verlagern, die Pole. Die Analyse der Migrationsmuster wird dabei an zwei Städten exemplifiziert: an Darmstadt als einem Verwaltungs-, Hochschul- und Industriestandort mit diversifizierter Wirtschaftsstruktur und der chemischen Industrie als wichtigster Industriegruppe und Rüsselsheim als Industriestadt mit einer von der Adam Opel AG bestimmten Monostruktur.

Nach einem Rekurs auf die historischen Linien der deutschen Ausländerbeschäftigung und die wirtschaftlichen, demographischen und politischen Prämissen der bundesdeutschen Migrationspolitik wendet sich die Autorin in den Kapiteln 2 bis 4 - Migrationswege und Migrationsmuster, Arbeit und Wohnen - zentralen Lebensbereichen der Migranten und gleichermaßen zentralen Feldern der Migrationspolitik zu. Im ersten Abschnitt dieser Kapitel werden jeweils die politischen Steuerungsmaßnahmen auf der Bundesebene, im zweiten die Entwicklungen in Südhessen mit besonderem Augenmerk auf Darmstadt und Rüsselsheim analysiert, schließlich wird die Perspektive der Migranten selbst erörtert. Als Anregung für künftige einschlägige Regional- und Lokalstudien ist zu erwägen, die Ebenen der Kommunal- und vor allem der Landespolitik ebenfalls zu berücksichtigen, zumal die Landeskompetenzen in den Sektoren Schule, Kultur und Wohnungsbau wichtige Indikatoren für die Zuordnung der Migrationspolitik zu den Polen "Gastarbeit" und "Einwanderung" ergeben würden.

Bei den Einreisewegen unterscheidet die Autorin zwischen einem ersten Weg über die Deutschen Anwerbekommissionen, einem zweiten über die Beantragung eines Sichtvermerkes bei einem Deutschen Konsulat, dem dritten Weg der Einreise per Touristenvisum und folgendem Antrag auf Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, und als vierter die Möglichkeit der durch EWG-Verordnungen geregelten Freizügigkeit für Italiener. Zu diesen Wegen für die Arbeitskräfte selbst, tritt, wie Barbara Sonneberger betont, bald der Weg des Familiennachzugs, was die rigide Trennung von Gastarbeit und Einwanderung, wie sie in der Politik selbst und partiell auch in der Wissenschaft für das Jahrzehnt von 1955 bis 1967 vorgenommen wurde und wird, als überzogen erscheinen lässt. Insgesamt bildeten die politischen Regelungen zur Einreise und zum Aufenthalt in dieser Periode einen fragilen Kompromiss divergierender politischer Auffassungen, wobei vor allem das eher restriktive Ordnungs- und Sicherheitsinteresse des Bundesinnenministeriums gegen die auf Freizügigkeit gerichtete Position des Bundeswirtschaftsministeriums, des Auswärtigen Amtes und des Bundesarbeitsministeriums stand. Bei den Zuwanderern unterscheidet die Autorin bereits für diese frühe Phase zwischen den Mustern der Pendel- und Kurzzeitmigration, der Gastarbeit, der noch länger währenden Dauermigration und der faktischen Einwanderung mit Familiennachzug.

Auch für das Feld der Erwerbstätigkeit täten, so die Autorin, ein genaueres Hinsehen und Differenzierung Not. So wurde den Migranten nicht lediglich die Rolle als Konjunkturpuffer, sondern seit etwa 1960 auch eine langfristige Ersatzfunktion auf dem Arbeitsmarkt zugeordnet. Zu relativieren seien außerdem die Stereotype vom industrieunerfahrenen, vormodernen, ausschließlich männlichen und allein an seinem Sparziel orientierten Gastarbeiter. Mit Blick auf die Wohnverhältnisse der Arbeitsmigranten habe allerdings unzweideutig das Konzept der Gastarbeit dominiert. Man habe seitens der Politik wie auch seitens der einstellenden Betriebe provisorische Gemeinschaftsunterkünften, nicht jedoch den Wohnungsbau für Migrantenfamilien gefördert. Das führte zu erheblichen Missständen bei den Wohnverhältnissen von Migrantenfamilien, die erst im Laufe der 1970er Jahre korrigiert wurden, die aber den Familiennachzug faktisch nicht verhinderten.

Das Fazit Barbara Sonnenbergers: Für die Jahre 1955 bis 1967 lässt sich weder eine alleinige Dominanz des Gastarbeiter- noch gar des Einwanderungskonzeptes konstatieren. Gleichwohl treffe der Vorwurf einer konzeptionslosen Migrationspolitik nur bedingt zu. Vielmehr hätten - dies bestätigen andere neuere Studien zur bundesdeutschen Migrationspolitik - divergente Konzepte innerhalb der Bundesregierung gegen- und nebeneinander gestanden. Während das Innenministerium die Gastarbeit favorisiert habe, hätten das Arbeits-, Wirtschafts- und Bauministerium wie auch die Bundesanstalt für Arbeit die Einwanderung in bestimmten Umfang bereits hingenommen, ohne aber eine gezielte Einwanderungspolitik zu betreiben. Der fragwürdige gemeinsame Nenner dieser unterschiedlichen Politikmuster sei die zugrundeliegende Vorstellung der "unbegrenzte(n) Disponibilität von Migrationsprozessen und Migranten" (S. 450) gewesen. Außerdem zeige das Beispiel der Städte Darmstadt und Rüsselsheim, dass man den Einfluss der Bundespolitik nicht zu hoch bewerten dürfe; auch die unterschiedlichen Unternehmenspolitiken, die spezifischen lokalen und regionalen Arbeitsmärkte und der Eigensinn der Migranten selbst hatten entscheidenden Einfluss auf die Migration. Alles in allem konstatiert die Autorin bereits für das erste Zuwanderungsjahrzehnt ein Nebeneinander der Migrationsmuster Gastarbeit und Einwanderung. Zwar sei das Muster der Einwanderung erst nach dem Anwerbestopp von 1973 dominant geworden, die "Inkorporation der Migranten" habe, "wenn auch nicht gleichmäßig in allen Lebens- und Rechtsbereichen" (S. 450) aber schon in der ersten Zuwanderungsphase begonnen.

Den inhaltlichen Ausführungen bleibt hinzuzufügen, dass es sich hier um ein im traditionellen Sinne gut gemachtes Buch handelt: Es hat einen Festeinband, ist solide gebunden, die Fotos sind klar konturiert, das Buch verfügt über einen tabellarischen Anhang, Verzeichnisse der Grafiken, Tabellen, Abbildungen und Abkürzungen, ein Quellen- und Literaturverzeichnis und ein gutes Register. Nicht alles davon ist angesichts knapper Kostenkalkulationen der Verlage noch selbstverständlich.

Yvonne Rieker, Essen


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 22. Dezember 2006