ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Dieter Kirchhöfer, Enttäuschte Hoffnungen. Reflektierte Selbstkommentierungen von Schülern in der Wende, (Kindheiten, Bd. 28), Juventa Verlag, Weinheim etc. 2006, 272 S., brosch., 28,00 €.

Dieter Kirchhöfer sammelte zwischen 1989 und 1992 Schüleraufsätze. Er führte mit 172 Schülerinnen und Schülern aus Strausberg, Greifswald, Neubrandenburg, Berlin und Leipzig eine zeitversetzte Erhebung während der ,,heißen" Transformationszeit durch. Mit der Methode ,,wiederholter Selbstkommentierung von Texten" (S. 21-45) versuchte Kirchhöfer, die Wendehoffnungen, -ängste- und -erfahrungen von Kinder und Jugendlichen sowie deren Positionierungsstrategien in sich dramatisch verändernden persönlichen und sozialen Umwelten zu fassen.

Er häufte mit seiner Forschungsgruppe einen Bestand an Primärquellen an, die es ermöglichten, Argumentationsweis und Weltsicht der Schülerinnen und Schüler mit den Darstellungen in den Nachfolgeerhebungen zu koppeln. Die Schulaufsätze und Nachbetrachtungen, ihre Nachbereinigung durch die heranwachsenden Verfasser verweisen gleichzeitig auf Fluidität von Meinungen und Erfahrungen und auf verhältnismäßig stabil bleibende Prägungskerne- und -instanzen. Hieraus konstruiert Kirchhöfer eine ,,Ostkindheit", die sich tradiere. Die Wendekinder Ost lebten eine Kindheit Ost und verbrachten ihre Jugendphase in den politischen und kulturellen Verwerfungen der ersten Transformationsphase. Verschiedenartige Kindheitsphasen vor der Wende bedingten die Ausdifferenzierungen in der Folgezeit (S. 13).

In dieser nun vorliegenden Arbeit ordnet der Autor diese Selbstzeugnisse nach acht Reflexionsmustern. Als deren verbindendes Element sieht der Potsdamer Professor ,,enttäuschte Hoffnung als grundlegende Disposition" (S. 58). Auf die sich verändernden, die zusammenbrechenden und die neu entstehenden sozialen, medialen, konsumistischen und jugendkulturellen Umwelten reagierten die Jugendlichen durchaus auch regional differenziert.

Ambivalenz und Reidentifizierung mit der Vergangenheit nennt Kirchhöfer zwei Verhaltensmuster, die auf Unentschiedenheiten und Rückversicherungsnotwendigkeiten Bezug nehmen und eher auf die familiären Gespräche über ,,die Wende" hindeuten. Im Vollzug der individuellen Selbstkonstruktion beobachtet der Autor eine spezifische Vereinbarkeit der Vorzüge beider Systeme. Er schließt daraus, dass offensichtlich eine Generation heranwachse, ,,die beide Systeme mit ihren Codes kennt, die Codes sozialer Gleichheit, der Gleichwertigkeit der Arbeit [...] aber auch die BRD Codes wie die Selbstbezogenheit, das Geltungsbedürfnis und deren Inszenierung, die Selbstdarstellung oder auch die Fiktion der Kommunikations- als Handlungssphäre" (S. 64). Angesichts dieser Erkenntnis wirkt Kirchhöfer allerdings sehr überrascht, sichtlich um Verstehen bemüht. Die doppelte Mediensozialisation der Eltern in den frühen 1970er Jahren und der Kinder in den mittleren 1980er Jahren und die doppelten Erzählweisen über den DDR-Alltag und die Imagination des BRD-Alltages dürften vielfältige Anschlüsse gelegt haben, die ein solches Reaktionsmuster begründeten. Nach Wolfgang Kühnel wurde ,,das hemmungslose Umschalten von einer Welt in die andere [...] offenkundig nicht nur am nachhaltigsten von jenen Jugendlichen wahrgenommen, die über günstige sozio-kulturelle Ressourcen verfügten." (1)

Gebremste Sehnsucht nach der DDR ist eine vierte Kategorie, die Hoffnungen, Enttäuschungen und Brüche zu relativieren half. Als Disengagement gegenüber den politischen Verhältnissen (S. 68-73) bezeichnet der Erziehungsforscher eine Verhaltensweise in der sozialen Wirklichkeit, die das Zeitfenster für politische Emanzipationen als eine sehr kurze Sequenz erscheinen lässt, bevor tradierte Anti-Parteien-Affekte auch in den Vorstellungen der Heranwachsenden Raum greifen. Die Distanz zum westdeutschen Bürger ist ein sechstes Perzeptionsmuster, in welchem die medialen Repräsentationen mit den konkreten Erfahrungen (Rückübertragung, Versicherungen, Autokauf) zusammenfließen und sich zu einer ,,Wahrheit" über den Westler verdichten. Dieser Westler ist zwar deutsch, aber in der DDR Ausländer. Damit sind auch die beiden letzten Reaktionsmuster angesprochen, die Kirchhöfer - leider viel zu vorsichtig - mit relativierte Intoleranz gegenüber Ausländern (S. 75-78) und gebremste Affinität zu rechtsradikalen Bewegungen (S. 78-81) umschreibt. Der Verfasser vermeidet, m.E. sehr zum Nachteil seiner Kategorisierungen, diese drei Selbstbeschreibungsweisen miteinander in Beziehung zu setzen. Wenn ein Schüler die Hooliganszene um den damaligen Bundesligaklub VfB Leipzig ,,als geil" bezeichnet, (S. 81) betrifft das auch den Umstand, dass diese auch junge Männer in Strausberg, Greifswald und Neubrandenburg, die durchaus auch bildungsnahen sozialen Umfeldern entstammen, umfasst.

Kirchhöfer stellt eine historisch argumentierenden Betrachtung, die Tradierungsformen spezifisch ostdeutscher Denk- und Verhaltensweisen annimmt, einer Perspektive gegenüber, die das Empfinden und die Wahrnehmung von Defiziten der sozialen Umwelt als Ursache für die Distanzierung von der ,,gegenwärtigen westdeutsch geprägten Gesellschaft" benennt. Der Autor postuliert Effekte nachholender Modernisierung (S.14), die mit der Ausdifferenzierung von Lebensweisen gekoppelt sind. Kühnel stellte Muster von Radikalisierung als Folge sozialer Desintegration in den Sozialmilieus dar, die eine ,,absturzartige Modernisierung" (2) auslöste.

Die Einbettung der Schüleraufsätze in die verschiedenen Linien der Desintegration im Vereinigungsprozess hätte schärfer herausgearbeitet werden können. Dennoch, und das ist eine Leistung dieses Buches, ermöglicht die Beifügung der Prosatexte (S. 83-268) zeitgenössische Tiefenschürfung in Wahrnehmungswelten am Übergang von ostdeutscher Kindheit zu westdeutscher Jugend, mitsamt den Verwerfungen von Jugendsprache, diffuser Weltbilder und offener Identitätskonstruktion.

Heiner Stahl, Potsdam


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 22. Dezember 2006