ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 75, Oldenbourg, München 2005, 144 S., geb., 19,80 €.

Nach rund zweieinhalb Jahrzehnten intensiver Forschung zur Geschichte des deutschen Bürgertums legt Andreas Schulz, der der Frankfurter Forschergruppe zum Stadtbürgertum um Lothar Gall angehörte, in der Reihe ,,Enzyklopädie deutscher Geschichte" erstmals eine Synthese der an Zahl wie Gehalt beachtlichen Forschungserträge vor.

Schulz, selbst Verfasser einer Monographie zum Hanseatischen Bürgertum im 19. Jahrhundert, erweist sich als ausgezeichneter Kenner der Bürgertumsforschung, nicht nur zum ,,bürgerlichen Zeitalter", sondern auch zum - allerdings bei weitem nicht so gut erforschten - 20. Jahrhundert. Entsprechend der üblichen Gliederung der EDG ist der Band in drei nach Umfang etwa gleich starke Abschnitte unterteilt: einen enzyklopädischen Überblick, einen Abriss der Forschungsgeschichte und einen bibliographischen Teil. Schwerpunkt der Darstellung sind bürgerliches Handeln, bürgerliche Lebensentwürfe und Sinnbezüge, während die neuerdings für das 20. Jahrhundert wieder verstärkt diskutierte, freilich noch ganz ungeklärte Frage nach dem Verbleib des Bürgertums als soziale Klasse weniger Aufmerksamkeit erfährt.

Schulz' Überblick ist ein konzis gehaltener, klar gegliederter und gut lesbarer Überblick zur Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Bürgertums.

Er gibt zum 19. Jahrhundert einen Eindruck von städtischer Lebenswelt, bildungs- und leistungsorientierter familialer Sozialisation und typischen Karrierewegen der Bürger und nicht zuletzt vom bürgerlichen ,Wertehimmel', an dem die Familie als private, durch polarisierte Geschlechtscharaktere gekennzeichnete Sphäre, eine ebenso große Rolle spielte wie Arbeits- und Leistungsethos, Kunst, Wissenschaft und Bildungslektüre. Schließlich schildert Schulz das ambivalente Verhältnis des Bürgertums zur kulturellen Moderne, die sich seit der Jahrhundertwende gegen bürgerliche Widerstände, aber gleichwohl von Bürgern der wilhelminischen Oberschicht in Szene gesetzt, allmählich durchsetzte. Mit dem 20. Jahrhundert traten neue Lebensformen auf, und schon vor dem Ersten Weltkrieg setzte unter bürgerlichen Intellektuellen ein Diskurs um Niedergangserfahrungen ein, der vielfältige Ursachen hatte und nahezu alle Bereiche bürgerlicher Lebensführung und bürgerlicher Sinngebung berührte.

Ob der Krisendiskurs und seine soziokulturellen Erfahrungsgrundlagen Indiz für die ,,Auflösung" oder nur für einen ,,lang anhaltenden Verhaltenswandel" des Bürgertums waren, ist in der neueren Forschung ebenso umstritten, wie mögliche Zeitpunkte des Endes bürgerlicher Kultur im (deutschen) 20. Jahrhundert.

Schulz gibt - bevor er diese Forschungsdebatte verfolgt - zunächst einen Überblick über die Infragestellung bürgerlicher Werte und Lebensweisen durch langfristige soziale und kulturelle Veränderungsprozesse wie den demographischen Wandel, die Infragestellung des humanistischen Bildungsideals, das Aufkommen einer neuen Massenkultur und die inflations- und kriegsbedingte Zerstörung der materiellen Grundlagen bürgerlicher Lebensweisen. Er schildert die politische, in Milieus segmentierte Zersplitterung des Bürgertums in der Weimarer Republik und die Bedrohung bürgerlicher Grundwerte durch die Radikalisierung der Mitte seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, schließlich die ambivalenten Wirkungen nationalsozialistischer Herrschaft, die einerseits durch Verheißung der Volksgemeinschaft an alte Harmonievorstellungen im Bürgertum appellierte, die andererseits ,Bürgertum' und ,bürgerlich' in Klassenbegriffe umdefinierte und bekämpfte, mit weit reichenden Wirkungen auch für die Zeit nach 1945: Jetzt war es die ,,nivellierte Mittelstandsgesellschaft", in der sich - mit dem ,Konsumbürger' als neuem Typus - (klein)bürgerliche Wunschvorstellungen zu verwirklichen schienen, bis die 1960er Jahre einen neuen Krisendiskurs und antibürgerliche Proteste brachten, deren Akteure selbst jedoch mehrheitlich aus dem Bürgertum stammten.

Mit der 1968er Bewegung schließt Schulzes Überblick über das Bürgertum des 20. Jahrhunderts, ohne dass recht klar würde, ob er damit das endgültige Ende des deutschen Bürgertums gekommen sieht, wobei diese Offenheit freilich ihre Ursache in einer noch völlig unzureichenden Forschung hat, so dass Schulz seine Darstellung zum 20. Jahrhundert zutreffend als ,,lückenhaften Problemaufriss" (S. 55) bezeichnen muss.

Insgesamt bietet Schulz' Buch jedoch nicht nur einen gelungenen Überblick über die vorliegende Forschung, sondern auch zahlreiche Anregungen, wo künftige Untersuchungen zur Kontinuität von Bürgertum und Bürgerlichkeit im 20. Jahrhundert ansetzten könnten. Man mag bedauern, dass der Band allzu sehr auf den deutschen Fall - und für die Zeit nach 1945 leider fast ausschließlich auf Westdeutschland - konzentriert ist. Denn das Bürgertum war ein mittel- und westeuropäisches Phänomen, so dass es heute mehr denn je angebracht wäre, seine Entwicklung in transnationalen Bezügen zu untersuchen. Dem steht freilich nicht nur das national zugeschnittene Konzept der Verlagsreihe entgegen, sondern auch eine bislang noch höchst unzureichende Forschungslage. Mit Andreas Schulz' Überblick sind die Voraussetzungen, dieses Manko zu beheben, zweifellos wesentlich verbessert. Man wünscht sich ähnlich konzise und problemorientierte, freilich auch gegenüber der national befangenen Historiographie der Vergangenheit kritische Überblicksdarstellungen zu den Spielarten des Bürgertums anderer Gesellschaften.

Cornelia Rauh-Kühne, Hannover


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 22. Dezember 2006