ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Manfred Hettling/Bernd Ulrich (Hrsg.), Bürgertum nach 1945, Hamburger Edition, Hamburg 2005, 438 S., geb. 35,00 €.

Nirgendwo in Europa sei man derzeit so sehr auf der Suche nach einer ,,zukunftsversprechenden Bürgerlichkeit" wie in der Bundesrepublik, ,,einer Gesellschaft, in der alle Bürger sein wollen, aber nirgendwo ein Bürgertum zu erkennen ist". Das Apercu stammt von dem Soziologen Heinz Bude. Es ist abgedruckt in einem von Manfred Hettling und Bernd Ulrich herausgegebenen Sammelband zum Thema ,,Bürgertum nach 1945", in dem Herausgeber und Autoren der Frage nachgehen, ,,warum in der gegenwärtigen Situation [...] der Begriff Bürger wieder populär geworden ist und sich politische Erwartungen an ihn binden." Die angesichts fehlender Detailforschung bislang noch spekulative Antwort von Mitherausgeber Hettling sei hier schon vorweggenommen: Demnach war es nicht allein der Zusammenbruch des Sozialismus und die dadurch motivierte Debatte um Möglichkeiten einer Zivilgesellschaft, welche diesen Diskurs angestoßen hat. Hettling geht vielmehr von der Annahme aus, es gebe zäsurübergreifende ,,fortdauernde Elementen von Bürgerlichkeit", die in der Bundesrepublik zu einer ,,Neugründung von Bürgerlichkeit" als ,,Gesellschaftsmodell" geführt hätten (S. 19f.).

Gab und gibt es also ein deutsches Bürgertum nach 1945? Die Frage ist unter Publizisten, Historikern wie Soziologen ebenso umstritten wie die Methoden, mit denen eine Klärung herbeigeführt werden könnte. Das machen auch die hier versammelten Aufsätze deutlich. Denn im Kern geht es darum, inwieweit Fragestellungen und Forschungsdesigns, die zur Untersuchung einer das west- und mitteleuropäische 19. Jahrhundert prägenden Sozialformation entwickelt wurden, auf die Geschichte der Bundesrepublik angewandt werden können. Während manche Forscherinnen und Forscher sich bemühen, Kontinuitäten sozialer Ungleichheit in der BRD nachzuweisen und schon darin den Beweis für die Wiederauferstehung des Bürgertums sehen, wenden sich andere dem Bildungsverhalten und Wertmustern zu, und wieder andere versuchen Bürgerlichkeit in den Lebensstilen und im Distinktionsverhalten bestimmter Gruppen aufzufinden.

In seinem äußerst lesenswerten einleitenden Beitrag über ,,Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland" versucht Manfred Hettling etwas Kontur in dieses komplexe, von mehreren Disziplinen rudimentär bearbeitete Forschungsfeld zu bringen. Ihm geht es - anders als den meisten der jüngst zum Wirtschaftsbürgertum publizierten Beiträge (1) - erklärtermaßen nicht (nur) um das Problem der Persistenz des Bürgertums als sozialer Formation, oder von Bürgerlichkeit als einem Habitus, sondern um Bürgerlichkeit als ein ,,Werte- und Verhaltenssystem". (2)

Hettling warnt allerdings: ,,Mag es für das 19. Jahrhundert plausibel sein, diese sozialen Formationen [Wirtschafts- und Bildungsbürgertum sowie Selbständige der Mittelschicht, CRK] unter dem Begriff Bürgertum zusammenzufassen und ihnen gemeinsame politische Interessen, eine intensive soziale Vernetzung und gemeinsame kulturelle Prägungen zuzuschreiben", so sei doch jeder Versuch zum Scheitern verurteilt, für die Bundesrepublik eine analoge Verbindung dieser sozialen Schichten als Bürgertum zu beschreiben. Dass es über die politische Zäsur von 1945 hinweg eine Kontinuität von Einkommens- und Vermögenslagen und ebenso einzelner Elemente von Bürgerlichkeit gab, betont er zu Recht, sei gar nicht strittig. Das allein impliziere aber nicht einen Fortbestand des alten Bürgertums: Denn ,,prägend und gestaltend wirkte nach 1945 [...] nicht mehr ein [...] kollektiver Akteur ,Bürgertum', sondern vielmehr ein [...] seit dem späten 18. Jahrhundert entwickeltes und immer wieder verändertes Kulturmuster ,Bürgerlichkeit'. Das diente immer auch der Distinktion." In den ,feinen Unterschieden' erschöpfe sich Bürgerlichkeit jedoch nicht. (S. 13) Und unter den genuin bürgerlichen Werten, die er nennt, hebt Hettling besonders den Anspruch auf politische Teilhabe hervor, der Bürgerlichkeit seit der Französischen Revolution immer auch gekennzeichnet hat (S. 14).

Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert, die Bereiche umfassen, in denen die bürgerlichen Prägungen der Gesellschaft der Bundesrepublik nachgewiesen werden, leider ohne dass der Blick auch auf die europäischen Nachbarländer und ihre Oberschichten gerichtet wird.

Den Beginn machen mehrere (z.T. auto-)biographische Betrachtungen u.a. zu Bildungsbürgern unter den Historikern wie Reinhart Koselleck und Bedrich Loewenstein, die beide den Machtantritt der Nationalsozialistien als das Ende jener - ihre Kindheiten in Breslau/Kassel (Koselleck) bzw. in Prag (Loewenstein) prägenden - Lebensform bezeichnen (S. 25, 66, 84), zu dem Berliner Publizisten Günter Wirth und zu angeblich typischen Repräsentanten dreier Generationen bundesrepublikanischer Bildungsbürger. Diskussionsbedürftig im gleichwohl anregenden Beitrag von Heinz Bude ist nicht nur die konkrete Auswahl der Bürgerrepräsentanten, die er uns vorstellt. Methodisch fragwürdig ist nach Auffassung der Rezensentin auch der Versuch, Bürgerlichkeit auf eine statische - dem 19. Jahrhundert und dem adeligen Vorbild und Konkurrenten des Bürgertums entlehnte - Dreiheit von ,,Familienstolz", ,,ständischem Instinkt" und Gemeinsinn zu fixieren. Eine Definition von Bürgerlichkeit, die mancher, der sich heute als Bürger sehen möchte, wohl kaum erfüllt und eine Definition, vor deren normativem Hintergrund es mehr als merkwürdig anmutet, wenn neben Hellmut Becker (*1913), dem Gründer des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, und Joachim C. Fest (*1926) ausgerechnet der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Grünen-Politiker und ehemalige Bürgerschreck der 1968er Bewegung, Joschka Fischer (*1948) zum jüngsten Repräsentanten bundesrepublikanischer Bürgerlichkeit erklärt wird. Schließlich weiß Bude selbst zu berichten, dass es zumindest um den Familiensinn des bis zum Erscheinen seines Aufsatzes viermal geschiedenen Außenministers, nach bürgerlichen Wertmaßstäben nicht eben mustergültig bestellt war, wie auch immer man nach dem Wechsel von Schuhen und Kleidung des Politikers seinen ,,ständischen Instinkt" und seinen ,,Gemeinschaftssinn" einschätzen mag.

Die Beiträge Josef Moosers, Ulrich Bielefelds und Karsten Linnemanns zu gesellschaftspolitischen Leitideen nach 1945 bewegen sich methodisch auf weniger gewagten Pfaden. Sie behandeln exemplarisch bürgerliche Ordnungsvorstellungen, wie jene von der ,,Sammlung der Mitte und der Wandlung des Bürgers", die in Kulturzeitschriften der Nachkriegszeit aufgesucht werden, thematisieren Protagonisten konservativ-bürgerlicher Werte wie Hans Freyer oder Wilhelm Röpke mit seinen neoliberalen Überzeugungen.

Mit Beiträgen über ,,1968 als erneuerte bürgerliche Utopie?" (Wolfgang Kraushaar) und zur Problematik einer ,,Entbürgerlichung der DDR?" (Thomas Großbölting) werden auch Gegenbilder zum bürgerlichen Kulturmuster problematisiert.

Schließlich enthält der Sammelband - unter dem etwas unscharfen Titel ,,Osmotische Grenzen" - eine Reihe von Beiträgen, welche auf unterschiedliche Weise die Wirkungsmächtigkeit jenes bürgerlichen Kulturmusters auf verschiedene Gruppen, Institutionen und Sozialformationen, das Stadtbürgertum am Beispiel Bremens (Bernd Ulrich), die Facharbeiterschaft (Burkart Lutz), das Offizierskorps der Bundeswehr (Klaus Naumann) und schließlich den Adel in der Bundesrepublik (Eckart Conze) behandeln. Provozierend sind hier die Gedanken von Michael Wildt, der dem Wirtschafts- und Bildungsbürger als neue, in der Nachkriegszeit erst als Sozialtypus entstandene Größe den ,,Konsumbürger" an die Seite stellt und - in Anlehnung an Bourdieu - argumentiert: ,,Die soziale Stratifikation der ,Konsumgesellschaft' wird nicht mehr - von der Produktionssphäre hergeleitet - vertikal in Klassen oder unabänderlichen Klassen gedacht, sondern - am Konsum orientiert - als horizontale Distinktion." (S. 273). ,,Nicht politische Vergemeinschaftung, sondern Zivilität, Bürgerlichkeit und Streben nach individuellem Wohlstand kennzeichnen die soziale Praxis in Massenkonsumgesellschaften" (S. 255), so Wildt. Ebenso wie sein Mitautor Burkart Lutz, der den sozialen Aufstieg und die Verbürgerlichung des Lebensstils von Facharbeitern in der Nachkriegszeit thematisiert, erinnert auch Wildt an die begrenzte Verfügbarkeit der Ressourcen, auf die sich die Erfindung des Bürgers als Konsumbürger stützt. Die neue Bürgerlichkeit, so scheint hier auf, könnte wie jene des 19. Jahrhunderts ein Zukunftsversprechen befristeter Dauer werden. Doch wie immer es um ihre künftigen Aussichten bestellt sein mag, für das 20. Jahrhundert gilt es, die soziale Grundlage und Reichweite, ebenso wie politische Gestaltungskraft des Kulturmusters Bürgerlichkeit erst noch zu erforschen. Mit dem vorgestellten Sammelband ist ein wichtiger Schritt zur Erkundung eines lohnenswerten Forschungsfeldes getan.

Cornelia Rauh-Kühne, Hannover


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 22. Dezember 2006