ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stefan Paul Werum, Gewerkschaftlicher Niedergang im sozialistischen Aufbau. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) 1945 bis 1953 (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Bd. 26), Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2005, 861 S., 89,00 €.

Die Erforschung der Gewerkschaftsgeschichte hat derzeit keine Hochkonjunktur. Noch in den achtziger Jahren legten westdeutsche Historiker eine Vielzahl von Publikationen zur Gewerkschaftsbewegung im Kaiserreich, der Weimarer Republik und der Frühphase der Bundesrepublik vor. Auch in der DDR erschienen Anfang der achtziger Jahre Publikationen zum ostdeutschen Dachverband, wie die dickleibige ,,Geschichte des FDGB" aus der ideologisch angespitzten Feder eines beim FDGB-Bundesvorstand und der Gewerkschaftshochschule ,,Fritz Heckert" gebildeten Autorenkollektivs, das besondere Unterstützung vom Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED und den Autoren der ,,Geschichte der SED" erhielt.

Mit dem Umbruch in Osteuropa und dem Ende der kommunistischen Parteidiktatur sowie dem Zusammenbruch der Planwirtschaft im Osten des Landes gerieten die Gewerkschaften im allgemeinen Forschungsboom zur DDR-Geschichte aus dem Blickfeld der Historiker, ungeachtet der Tatsache, dass der FDGB aufgrund seiner Einbindung in die betrieblichen Organisationsstrukturen, seiner Rolle als Akteur in der staatlichen Lohn- und Arbeitspolitik, seiner wirtschafts- und sozialpolitischen Aufgaben und seiner institutionellen Einbindung in die Herrschaftsstruktur der SED unter den Massenorganisationen der DDR als mitgliederstärkster Verband eine zentrale Rolle spielte.

Erste umfassende Analysen zur Rolle und Funktion des FDGB im Gesellschafts- und Herrschaftsgefüge der DDR liegen nun für die Aufbauphase des FDGB in den vierziger und fünfziger Jahren vor. Nach der ersten sozialhistorisch angelegten Studie von Helke Stadtland zur ,,Herrschaft nach Plan und Macht der Gewohnheit" (1) und den Arbeiten von Detlev Brunner zu den ,,Sozialdemokraten im FDGB" (2) und der ,,Bitterfelder Konferenz" (3) hat nun Stefan Paul Werum seinen Claim im bislang kaum bearbeiteten Forschungsfeld abgesteckt und eine umfassende Darstellung zum FDGB in den Jahren 1945 bis 1953 vorgelegt. Mit seiner knapp 900 Seiten starken Studie leistet er einen wichtigen Beitrag zur organisationshistorischen Analyse der Transformation des FDGB zum Transmissionsriemen der Partei und beschreibt die Deformation der betrieblichen, tarif- und sozialpolitischen Vertretungsfunktion der Gewerkschaften in der DDR.

Werum leitet seine Arbeit mit einer kurzen Skizze zur Entstehung des FDGB und zum Verhältnis von Gewerkschaften, Betriebsräten und Beschäftigten in der Sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1947 ein. (S. 33-45) Zum Wendepunkt in der Organisationsgeschichte des ostdeutschen Dachverbandes wird der 2. FDGB-Kongress (April 1947) und der Befehl 234 der SMAD (Oktober 1947). Sie erweiterten das Aufgabenspektrum des FDGB im Zuge der Verstaatlichung der ostdeutschen Wirtschaft und des Umbaus der DDR zu einer sozialistischen Gesellschaft ,,sowjetischen Typs" durch die Einforderung einer Steigerung der Arbeitsproduktivität bei gleichzeitiger Festigung der Arbeitsdisziplin. In den beiden folgenden Jahren (1947- 1948) entwickelte sich der FDGB zum ,,staatlich beauftragten Produktionspropagandisten" (S. 204). Nun kam es zum Zusammenprall von ideologischem Anspruch und nüchterner Wirklichkeit auf betrieblicher Ebene und zu Problemen mit den Betriebsräten. Diese hatten sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine autonome Handlungssphäre erschlossen und weitreichende Mitwirkungsrechte geltend machen können. Die Umsetzung der politischen Vorgaben erzeugte zahlreiche Anpassungsprobleme und Konflikte, auf die der Dachverband mit einer Zentralisierung der Willensbildung und Entscheidungsfindung reagierte. Im Hauptteil seiner Arbeit untersucht Werum den Prozess der Umformung des FDGB zum Transmissionsriemen der Partei. Folgt man der inhaltlichen Schwerpunktsetzung des Autors fand der eigentliche Transformationsprozess in einem verdichteten Zeitraum von zwei Jahren zwischen der Hettstedter Tagung (Mai 1948) und dem 3. FDGB-Kongress (August/September 1950) statt. Im ersten Abschnitt seines Hauptteils zeichnet er die programmatische Entwicklung des FDGB zu einer staatssozialistischen Gewerkschaft nach. Programmatisch war seine Umformung zum verlängerten Arm der Partei nach dem 3. FDGB-Kongress abgeschlossen. Der FDGB erkannte den Führungsanspruch der Partei an und bekannte sich ab diesem Zeitpunkt satzungsgemäß zum Grundsatz des demokratischen Zentralismus (S. 205-255). Im zweiten Abschnitt verweist er auf die Rolle der FDGB-Führung in der Volkskammer und in den Länderparlamenten und verortet den FDGB und die Einzelgewerkschaften im staatlichen Institutionengefüge der DDR. Gleichzeitig skizziert er den Wandel des ostdeutschen Tarifsystems. Der FDGB verlor seine tarifpolitische Funktion gegenüber der Vereinigung Volkseigener Betriebe, den Industrie- und Handelskammern und den Handwerkskammern an die SED und rutschte zunehmend in die Rolle als Vermittler zwischen SED-Politik und Mitgliederinteressen (S. 257-339). Im dritten Abschnitt untersucht Werum ausführlich den Organisationswandel des Verbandes. Die ,,Reorganisation" des FDGB wurde mit der Hettstedter Tagung (Mai 1948) und der Bitterfelder Konferenz (November 1948) eingeleitet. Beide sollten den Prozess der Anpassung der Gewerkschaftsstrukturen an den wirtschaftlichen und betrieblichen Aufbau vorantreiben und zur Durchsetzung des demokratischen Zentralismus als verbindlichem Organisationsprinzip beitragen. Es kam zur Umgestaltung des FDGB-Bundesvorstandes und der Vorstandsabteilungen, zur Bildung eines Sekretariats des Bundesvorstandes als politischer Leitungsspitze - vergleichbar mit dem Sekretariat der SED - und zum Umbau der Einzelgewerkschaften. Der Veränderung der Verbandsstruktur war ein Kaderaustausch vorgeschaltet. Der FDGB erwartete von den jungen Funktionären breite Zustimmung für den Gewerkschaftswandel und wollte so einen Bruch mit den tradierten gewerkschaftlichen Selbstverständnis der Weimarer Republik einleiten (S. 341-471). Zum Abschluss geht Werum noch einmal auf das Beziehungsgeflecht zwischen Betriebsräten, Betriebsgewerkschaftsorganisation und Belegschaften ein. Hatte er eingangs den schleichenden Autonomieverlust der Betriebsräte ausführlich dargestellt, beschreibt er nun den Prozess ihrer endgültigen Auflösung durch die Etablierung der Betriebsgewerkschaftsleitungen (S.519-779). Die Einführung der Betriebsgewerkschaftsleitung wirkte allerdings nicht, wie die FDGB-Spitze gehofft hatte, auch als ,,Puffer zwischen Belegschaftsinteressen und neuen arbeitsfördernden Maßnahmen und Zumutungen" und konnte den Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 nicht verhindern (S. 785-810).

Für seine Untersuchung hat Werum bisher kaum ausgewertetes Quellenmaterial im SAPMO-Bundesarchiv und die Bestände der Landesarchive Brandenburg und Sachsen herangezogen. Der Verfasser hat eine systematische und nahezu vollständige Sichtung aller relevanten Aktenbestände - mit Ausnahme einiger Nachlässe von FDGB Funktionären - vorgenommen und selbst auf Akten der Leitungseben der SED, ihrer ZK-Abteilungen und Büros zurückgegriffen. Die veröffentlichten Quellen und die Forschungsliteratur wurde fast vollständig aufgenommen. Für die Analyse des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses des FDGB-Bundesvorstands stehen in der Regel nur Beschlussprotokolle und anhängende Arbeitsmaterialien der einzelnen Sitzungen zur Verfügung. Sie geben nur geringe Auskunft über verbandsinterne Debatten, personalpolitische Scharmützel und programmatische Weichenstellungen. Es gehört zu den forschungspraktischen Fallstricken aus dem bestehenden Quellenmaterial ein gehaltvolles, lesbares und informatives Textdestillat zu gewinnen.

Deshalb bleibt kritisch anzumerken: die Arbeit ist zu lang. Die Scheidung von wichtigen und unwichtigen Informationen gelingt nicht immer. Der analytische Gehalt der Arbeit droht in den Aktenbergen des ,,bürokratischen Sozialismus" unterzugehen zumal der ,,analytisch-systematische" Hauptteil erst auf Seite 205 beginnt. Mit einem chronologisch gegliederten Einleitungsteil und durch das etwas freischwebende Kapitel zum ,,Verhältnis der Belegschaften zum FDGB zwischen 1948 und dem Vorabend der Juni-Krise 1953" ist die Gliederungslogik ist nicht immer einleuchtend. Der eigentliche Bearbeitungszeitraum umfasst vor dem Hintergrund des aufziehenden Kalten Krieges und der doppelten Staatsgründung die Jahre 1947 bis 1950, in denen sich der FDGB zur Massenorganisation entwickelt. Da sich Werum aus der derzeitigen Forschungsdiskussion und den -kontroversen zur DDR-Geschichte weitgehend ausklingt und auf eine theoretische Einbettung der Arbeit verzichtet, sucht der Leser oft vergeblich nach Orientierungspunkten, die er auch im Inhaltsverzeichnis oder im Anhang, bestehend aus Tabellen-, Quellen-, Literatur-, Abkürzungs- und Personenverzeichnis nicht findet.

Dennoch schließt die materialreiche Untersuchung aufgrund ihrer Quellenbefunde und der detaillierten Beschreibung der Organisationsgeschichte des FDGB eine Forschungslücke und reicht den Gewerkschaftshistorikern eine breite Darstellung zur weiteren Erforschung zahlreicher Einzelaspekte der FDGB-Geschichte an die Hand. Der Autor gibt einen ausführlichen Einblick in den Niedergang gewerkschaftlicher Interessenvertretung und die Transformation des FDGB zu einer Massenorganisation im Zeichen des Aufstiegs der kommunistischen Parteidiktatur. Stefan Paul Werum hat Beachtliches aus seinem Forschungs-Claim zu Tage gefördert, die weitere Be- und Verarbeitung des Stoffes obliegt anderen.

Jens Hildebrandt, Mannheim


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 22. Dezember 2006