Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Christian Schmidtmann, Katholische Studierende 1945-1973. Ein Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006, 535 S., geb., 69,00 €
Die vorliegende Studie ist an der Ruhr-Universität Bochum bei Wilhelm Damberg als katholisch-theologische Doktorarbeit entstanden. Sie ist ein ambitionierter, wichtiger und insgesamt sehr gut gelungener Versuch, die Historiographie des Katholizismus für neue Fragestellungen und Ansätze zu öffnen und dies exemplarisch an einer für die Geschichte der Bundesrepublik hochgradig relevanten Gruppe von Katholiken zu erproben. In seiner klugen und umsichtigen Einleitung macht Christian Schmidtmann klar, dass von ihm weder eine herkömmliche Geschichte der katholischen Studierenden und ihrer Verbände zu erwarten ist noch ein Beitrag zur Auflösung oder Transformation des katholischen ,Milieus'. Denn dieses Konzept, das in der Anwendung auf das Kaiserreich und die Weimarer Republik wichtige Ergebnisse gebracht hat, eröffnet für die Katholiken in der Bundesrepublik ,,keine heuristisch fruchtbare Perspektive" (S. 18). Es verengt den Blick auf quantifizierbare Parameter und auf jene religiösen Phänomene, die von dem für die sozialhistorische Operationalisierung zentralen ,Milieustandard' abgedeckt werden. Die kollektiven Sinndeutungen und konkurrierenden Identitätskonstruktionen der Katholiken lassen sich so nicht erschließen. Mit dieser überzeugenden Kritik der bisherigen Forschung verdeutlicht der Verfasser zugleich seine zentrale Fragestellung. Ihm geht es am Beispiel der Studenten gerade darum, die Kontingenz und auch Pluralität möglicher Lesarten von ,Katholizität' hervorzuheben und historisch zu untersuchen, wie sich verschiedene und zum Teil auch konkurrierende Entwürfe eines katholischen Selbstverständnisses vom Kriegsende bis zu den Nachbeben der Studentenrevolte entwickelt haben. Dazu kombiniert der Autor begriffs- und diskursgeschichtliche Ansätze und analysiert in drei chronologischen Abschnitten jeweils kollektive Deutungsmuster, die Gruppenkultur und die Organisationskultur der katholischen Studierenden.
In der Zeit von 1945 bis 1957 zeigten sich Neuansätze und Suchbewegungen in der partiellen Abkehr von der katholischen Tradition, hier besonders durch die Jugendbewegung, über die formal gleiche Elemente wie etwa Versatzstücke des Gemeinschaftsdiskurses nicht hinwegtäuschen konnten. Nach den als ,,Katastrophe" beschriebenen Erfahrungen in und mit dem Nationalsozialismus orientierten sich katholische Studenten an der Zukunft, hielten die im kirchlichen Diskurs überkommene Trennung von ,Religion' und ,Welt' für obsolet und entwickelten einen missionarischen Impetus. Ein wichtiger Punkt war die auch für die Gruppenkultur des von Studentengemeinden angesprochenen Teils der Studierenden zutreffende Ablehnung eines Verständnisses von ,Katholizität', das sich primär an der Sakramentenstatistik und an Vereinsmitgliedschaften orientierte. Dies schlug sich im Fehlen von Statistiken nieder, die sonst jeder katholische Verband im Überfluss produziert hatte. Demzufolge lässt sich nur schätzen, dass die Studentengemeinden etwa ein Drittel der katholischen Studierenden in irgendeiner Form erreicht haben (S. 115).
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die 1947 gegründete Katholische Deutsche Studenten-Einigung (KDSE), die als eine Art Dachverband der Gemeinden fungierte. In ihre Konstruktion war jedoch von vornherein eine Spannung zwischen der Dachorganisation und den lokalen Gemeinden ebenso eingelassen, wie zwischen dem Versuch der Vermittlung zwischen ,Kirche' und ,Welt' und der Tatsache, dass die KDSE eine von der Bischofskonferenz genehmigte und auch finanzierte Organisation war. Diese Spannungen machten sich Ende der sechziger Jahre massiv bemerkbar und sprengten schließlich die 1947 geschaffene Struktur.
Der zweite chronologische Abschnitt beschreibt die Wende zu einer Entideologisierung, die seit 1959/60 an verschiedenen Phänomenen festzumachen ist. Die Studentenzeitschrift Initiative suchte und förderte unter dem Leitbegriff der ,,Offenheit" neue und für Katholiken ungewohnte Formen der Öffentlichkeit und der Kritik. Daneben gab es eine intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die bereits - und dies verdient hervorgehoben zu werden - die Frage ,,Antisemitismus - Schuld der Christen?" stellte und auch ,,durchaus differenziert" beantwortete (S. 225). Während sich die KDSE mit wachsender finanzieller Unterstützung der Bischöfe verkirchlichte und bürokratisierte, wurde die kollektive Sinnproduktion in den Studentengemeinden ,,sukzessive entkirchlicht" (S. 281). An die Stelle von Exerzitien trat die subjektive Aneignung und Ausdeutung von Glaubensgewissheit! Die traditionelle Frömmigkeit verlor ihren Status als Kriterium von ,Katholizität' vollends und an ihre Stelle trat eine suchende und produktive Auseinandersetzung mit der modernen, nicht zuletzt der nun entstehenden ,,politischen" Theologie.
Diese Beobachtung leitet bereits über zur Phase der Studentenbewegung von 1967 bis zur Auflösung der KDSE durch die Deutsche Bischofskonferenz 1973. Schmidtmann beschreibt hier nicht nur die, durch das ,,Schwerpunktprogramm" der KDSE von 1971 ausgelösten Konflikte im Detail, sondern leistet einen faszinierenden Beitrag zu einem bislang vernachlässigten Aspekt der 68er-Bewegung, bei der die Forschung bislang nur den protestantischen Hintergrund vieler Protagonisten akzentuiert hat. Im Zuge der Politisierung der Studierenden, welche in den Gemeinden erfolgte und diese zu einer neuen politischen Größe im Gefüge der Kirche aufzuwerten suchte, erfolgte zugleich eine radikale Entwertung herkömmlicher Kriterien von ,Katholizität'. Die KSG in Berlin fasste im Juni 1968 den Beschluss, auch Nichtkatholiken als Mitglieder anzuerkennen.
Mit diesem Prozess der völligen Aufweichung und Entleerung ,objektiver' Kriterien einer katholischen Identität korrespondierte eine Neuinterpretation der Messe, die nicht mehr als eine überzeitlich-objektive Liturgie fungierte, sondern sich an den Erwartungen der Besucher orientieren sollte, die man durch Umfragen zu ermitteln suchte. Die Politisierung der Studentengemeinden ging so mit einer Soziologisierung des eigenen Wirklichkeitsbezuges einher.
Der letzte Teil der Arbeit (S. 410-493) stellt individuelle Lebensgeschichten anhand autobiographischer Quellen vor, neun gedruckte Autobiographien und lebensgeschichtliche Interviews mit 24 katholischen Akademikern. An dieser Stelle muss die Kritik einsetzen, denn dieser Abschnitt trägt nichts wesentliches zum Ertrag der Studie bei. Die Zitate und Anekdoten aus den Interviews bleiben zusammenhanglos und das Referat der Memoiren bringt keine analytischen Einsichten, die sich nicht jeder Leser dieser Texte selbst hätte erarbeiten können. Wichtige Befunde aus diesem Abschnitt wären besser in die Darstellung integriert worden. Enttäuschend ist auch das gerade einmal dreieinhalb Seiten lange ,,Schlusswort" (S. 494-497). Der Verfasser versäumt hier nicht nur die Gelegenheit, die wichtigsten Thesen und Ergebnisse seiner Arbeit noch einmal zu bündeln, sondern schließt stattdessen mit einem sympathischen Bekenntnis zu einer mehrdeutigen Theologie, welches auch dem ,profanen' Leser die normativen Prämissen der Arbeit verdeutlicht. Unbeantwortet bleibt zudem noch die Frage, inwiefern die mehr als 500 Seiten starke Studie, welche gleichzeitig die Verunsicherung und Offenheit katholischer Identitäten zentral darstellt, einen ,,Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland" leistet, wie das der Untertitel proklamiert. Diese Frage sollte jedoch in aller Klarheit adressiert werden, besonders angesichts der oft zu vernehmenden Klagen über das ,,Catholica non leguntur".
So muss sich der Leser selbst eine Antwort zurecht reimen.
Dazu zwei Vorschläge. Ein wichtiger Ertrag der Studie besteht darin, dass sie nicht nur die oft übersehene oder vernachlässigte katholische Prägung der Eliten in der Bundesrepublik verdeutlicht, von der allein das Register der Studie eindrucksvoll Zeugnis ablegt. Es wird zugleich sichtbar, dass dies auch das Ergebnis einer zielgerichteten Elitenbildung und -förderung war, wie etwa ein brillanter Abschnitt über das Cusanuswerk verdeutlicht. Vor dem Hintergrund des eben gesagten, besteht ein zweites wichtiges Ergebnis in dem Aufweisen der gebrochenen und ambivalenten, aber doch von Beginn an überaus starken und zielgerichteten Aneignung und Befürwortung demokratischer Organisationsformen und Haltungen durch die katholischen Studierenden. Dies ist eine zentrale implizite These des Buches, die mit der von Martin Conway betonten Bedeutung der christlichen Demokratie für die Zeit von 1945 bis 1973 in Beziehung gesetzt werden sollte. Dieser Zusammenhang hätte allerdings vor allem in den ersten beiden Abschnitten mehr Aufmerksamkeit im Detail verdient, vor allem mit Blick auf die Semantik des demokratischen Engagements. So ist es bezeichnend, dass das Editorial der ,,Initiative" 1960 von der ,,übertragenen Verantwortung" spricht (S. 199) und nicht etwa von der ,übernommenen'. Was genau meint ein Autor aus ,,bischöflichem Umfeld", der 1954 die Notwendigkeit einer ,,höheren Führung" für um so nötiger hält, ,,je mehr die Demokratie in einer Entwicklung steht, von der wir nicht wissen, in welche Richtung sie endgültig gehen wird, je mehr die einzelnen - auch die Spitzenkräfte - im Spezialismus verbraucht werden" (S. 174)? Zielt diese Bemerkung auf die Gefahr einer unkontrollierten partizipativen Entwicklung oder enthält sie eine hellsichtige Warnung vor der Selbstreferenzialität des politischen Betriebes, falls sich dieser zu sehr vom ,Leben' als dem Sinnzentrum einer christlichen Existenz abkoppelt und damit womöglich seine Legitimität verliert? Kritisch sei auch noch angemerkt, dass die Anleihen beim Konzept der ,,45er"-Generation aufgesetzt wirken und genauso wie das Konzept selbst keineswegs überzeugend sind (S. 100 f.). Hinzu kommt das gleich zwei Mal Zitate unnötigerweise doppelt präsentiert werden. (S. 110 und 390, S. 390 und 408).
Doch diese kritischen Bemerkungen sollen nur den Gesamteindruck bestätigen: Christian Schmidtmann hat eine gedankenreiche und intellektuell anregende Darstellung vorgelegt, deren Lektüre ein großes Vergnügen und ein nachhaltiger Gewinn ist. Sie leistet nicht nur einen methodisch wichtigen Beitrag zur Neuorientierung der kirchlichen Zeitgeschichte, sondern vermittelt zugleich der Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik viele wichtige Einsichten und Anregungen. Kein Zeithistoriker kann an dieser bedeutenden Studie achtlos vorbeigehen.
Benjamin Ziemann, Sheffield