ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Daniel Friedrich Sturm, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90 (Willy-Brandt-Studien, Bd. 1), Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2006, 520 S., brosch., 29,90 €.

Besonders Zeitgeschichte ist im öffentlichen Diskurs zwangsläufig umstritten. In den vergangenen Jahren waren diese Diskussionen oft aggressiv und immer in der Gefahr politischer Instrumentalisierung. So wird Geschichte zum Argument und Politiker suchen sich Rechtfertigungsstrategien verstärkt im geschichtspolitischen Raum. Zu den heftig umstrittenen Themen gehören die Deutschland- und Ostpolitik der alten Bundesrepublik, die Parteikontakte zwischen SPD und SED bis zum Ende des Jahres 1989, die Haltung namhafter bundesdeutscher Sozialdemokraten zum Vereinigungsprozess und zur Neugründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) am 7. Oktober 1989 im märkischen Dorf Schwante. Alle diese Themen hat Daniel Friedrich Sturm aufs Korn genommen und fördert Erstaunliches zutage.

Nach einer präzisen Beschreibung der Deutschlandpolitik der westdeutschen Sozialdemokratie seit ihrer Neugründung im Jahr 1945 bis in die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhundert greift Sturm ein kontroverses Thema auf. Es ist der Dialog der SPD mit der ostdeutschen Staatspartei, ein Gespräch, das beide Parteien auf ,,gleicher Augenhöhe" führen wollten. Das war realpolitisch gedacht, aber nicht unproblematisch. Das eigentliche und in aller Regel nicht thematisierte Problem bestand darin, dass auf der einen Seite eine demokratische Volkspartei handelte, auf der anderen jedoch eine spätstalinistische Kaderpartei. Solche Kontakte waren nur mit dem Argument zu rechtfertigen, dass durch sie für die Menschen in der Diktatur Erleichterungen des auf ihnen lastenden Drucks erreicht werden konnten. Aber gerade dies konnte in dem zwischen SPD und SED verabredeten gemeinsamen Papier im besten Fall rudimentär erreicht werden, da dem Osten zwar Reformfähigkeit bescheinigt wurde, mit dieser Deklaration jedoch nicht die Gewährung konkreter demokratischer Rechte oder Verbesserungen etwa auf dem Gebiet der Informationsfreiheit verbunden waren. Trotzdem sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass sich die Position der Oppositionellen in der DDR zumindest insofern verbesserte, als sie sich jetzt in ihrer Argumentation auf die seitens der ostdeutschen Diktatoren zugelassene Möglichkeit deutsch-deutscher Kontakte berufen konnten.

Für die SPD führte die de facto Anerkennung ihres ,,ostdeutschen Partners" in der Konsequenz jedoch dazu, dass sich allzu viele ihrer Spitzenpolitiker zu lange an diesen gebunden fühlten. Deshalb war es für die Sozialdemokratie auch geradezu ein Glücksfall, dass Erhard Eppler als einer der ersten die Führung der SED abschrieb und erkannte, dass für die DDR der gleitende Übergang zur Reform verspielt, und eine Eruption unvermeidlich und kurz bevorstehend war. Eppler verdeutlichte diese Einsicht in seiner Rede zum 17. Juni 1989 vor dem deutschen Bundestag, was ihm zu diesem Zeitpunkt viele Sozialdemokraten zum Vorwurf machten. Und so knüpfte die Sozialdemokratie der Bundesrepublik vor dem Hintergrund einer zunehmenden Destabilisierung Ostmitteleuropas weiter ihre Kontakte zur SED. Sturm verdeutlicht jedoch auch, dass es mit Freimut Duve und Gert Weiskirchen Ausnahmen gab, die immer klarer sahen, dass Frieden nicht ohne Freiheit zu erlangen sein würde. Ganz anders dachten und handelten in West-Berlin etwa Harry Ristock oder Walter Momper, für die es eine europäische Friedensordnung nur mit zwei gleichberechtigten deutschen Staaten geben konnte. Hier sei nur am Rande angemerkt, dass es zu diesem Zeitpunkt auch in der CDU wichtige Politiker gab, denen Reformen in der DDR ganz ohne die SED undenkbar erschienen.

Ein weiterer Dissens innerhalb der westdeutschen Sozialdemokratie entstand nach einer längeren Phase der Vorbereitung mit der Gründung einer eigenständigen Sozialdemokratischen Partei in der (Noch-) DDR am 7. Oktober 1989, dem ,,Nationalfeiertag" der DDR. Allein die Existenz der SDP mit ihren Forderungen nach vollständiger Demokratisierung und sozialer Marktwirtschaft war ein zentraler Angriff auf Herrschaft und Selbstverständnis der SED. Für die Sozialdemokraten der Bundesrepublik konnten es mit Blick auf ihre Traditionen und ihre Geschichte nur eine richtige Haltung geben: die ostdeutschen Sozialdemokraten in ihrem Kampf gegen die Diktatur mit aller Konsequenz zu unterstützen. Oft war die Realität jedoch eine andere. Nicht wenige der entscheidenden Köpfe der SPD setzten im Osten auf andere Gruppierungen der Bürgerbewegung und besonders der Kreis um Egon Bahr baute viel zu lange auf den Diskurs mit der angeblich unverzichtbaren und reformfähigen SED. Noch weiter von der politischen Notwendigkeit der Unterstützung der neuen Kräfte in der DDR entfernt war Oskar Lafontaine, der die Gründung einer ostdeutschen sozialdemokratischen Partei sogar für falsch hielt und heute dieses Ressentiment in der ,,Linkspartei" weiter pflegen kann. Besonders peinlich wirkt nicht nur aus heutiger Sicht, dass Lafontaine Ende 1989 die einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit in Frage stellte und versuchte, Sozialneid der West- gegenüber den Ostdeutschen im Wahlkampf politisch zu instrumentalisieren. Und so ist es auch geradezu abstoßend, wenn sich dieser Politiker trotz seiner damaligen Ablehnung des Vereinigungsprozesses heute als Star einer gesamtdeutschen ,,Linken" zu präsentieren sucht.

Anders verhielten sich aus den Reihen der Sozialdemokraten 1989 Willy Brandt und Norbert Gansel, die früh die Dynamik der Friedlichen Revolution und den Druck in Richtung Wiedervereinigung erkannten. Trotzdem war für viele Sozialdemokraten aus der DDR ihre Aufnahme im Westen des geteilten Deutschland eine Enttäuschung: Vieles blieb ihnen in der bundesdeutschen Schwesterpartei fremd, so deren ideologische Flügelkämpfe, das Fehlen einer nationalen Komponente und die Ausrichtung am Ziel eines demokratischen Sozialismus. Die Sozialdemokraten im Osten schwächten sich selbst mit dem - verständlichen aber politisch unklugen - Beschluss, keine ehemaligen SED-Mitglieder aufzunehmen und, sie verloren an Einfluss durch die Aufdeckung der Stasi-Verstrickungen ihres alkoholabhängigen Spitzenmanns Ibrahim Böhme. All dies schildert Sturm mit unverkennbarer Sympathie für die DDR-Sozialdemokraten und mit enormer Detailkenntnis und Einfühlsamkeit. Das gilt auch für die Beschreibung der Kämpfe der SDP-Gründer von Schwante gegen die Ansprüche später beigetretener Parteimitglieder, für die Auseinandersetzungen mit den ihnen ,,zu Hilfe geeilten" westdeutschen ,,Referenten", für die Darstellung der Eitelkeiten vieler neuer Politikstars und schließlich für die vergebliche Hoffnung, in einer eigenständigen DDR noch über einen längeren Zeitraum Politik machen zu können. Und so war der Weg in eine gemeinsame Partei zwar richtig, die Fremdheit zwischen pragmatischer Ost-SPD und wahlkampforientierter West-SPD konnte jedoch im Vereinigungsprozess nicht überwunden werden, was die Diskussionen um die Währungs-, Sozial- und Wirtschaftsunion bzw. den Staatsvertrag zeigten. Langfristig ist es für die Sozialdemokratie auch besonders problematisch, dass es ihr nicht gelang, ihre traditionelle Basis in Sachsen und Thüringen zurück zu gewinnen.

Als Fazit bleibt, dass die Neue Ostpolitik zwar die richtige Antwort auf den Kalten Krieg war, dass wesentliche Teile der West-SPD aber im revolutionären Schicksalsjahr 1989 zu lange auf die SED fixiert blieben und auch mit dem Denken der ostdeutschen Sozialdemokraten nichts oder nur wenig anzufangen wussten. Überfordert waren vor allem die westdeutschen 68er, die von einer Revolution in der Bundesrepublik geträumt hatten, vor der realen Revolution in der DDR jedoch die Augen verschlossen. Die bis heute spürbaren Folgen hatte die SPD bereits in den freien Wahlen des Jahres 1990 zu tragen. Dies zu verdeutlichen, ist ein weiteres Verdienst Daniel Friedrich Sturms.

Rainer Eckert, Leipzig


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