ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Agnès Bensussan/Dorota Dakowska/Nicolas Beaupré (Hrsg.), Die Überlieferung der Diktaturen (Beiträge zum Umgang mit Archiven der Geheimpolizeien in Polen und Deutschland nach 1989), Klartext Verlag, Essen 2004, 247 S., kart., 22,90 €.

Knapp 50 Jahre war Ostmitteleuropa der kommunistischen Diktatur ausgeliefert, die erst mit der ,,Solidarność" in Polen und dem Mauerfall in der DDR 1989 ihr Ende nahm. Seit dieser Zeit nahm das Interesse an Akten der Staatssicherheitsdienste der jeweiligen Länder verstärkt zu. Für den Nachlass des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) oder des polnischen Sicherheitsdienstes (Służba Bezpieczeństwa, SB) interessierten sich sowohl Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, Politiker, Journalisten, aber vor allem die Betroffenen selbst. Das Ziel war die Aufarbeitung der Vergangenheit, die man nicht selten auf die Tätigkeit der kommunistischen Sicherheitsbehörden reduzierte. Seit dem Fall der Berliner Mauer sind nun etliche Jahre vergangen, die es erlauben, nüchterner auf die Vergangenheit und die Art ihrer Aufarbeitung zu blicken. So ist auch der Band ,,Die Überlieferung der Diktaturen", herausgegeben von Agnès Bensussan, Dorota Dakowska und Nicolas Beaupré, zu verstehen, der eine Sammlung von Aufsätzen ist und auf eine Tagung des Deutsch-Französischen Forschungszentrums für Sozialwissenschaften in Berlin (Centre Marc Bloch) zurückgeht, die im Jahr 2002 stattgefunden hat. Die einzelnen Beiträge sollen dem Leser einen Vergleich im Umgang mit den Archiven der Staatssicherheiten speziell in Polen und Deutschland bieten, wobei die Eigenheiten der jeweiligen Nation sowie gewisse Analogien festgestellt werden sollen. Die Texte der meisten Autoren beziehen sich auf die Öffnung der kommunistischen Polizeiarchive in Polen und Deutschland und geben Auskunft über deren Auswirkungen auf die politischen und wissenschaftlichen Debatten in beiden Ländern.

Der Sammelband wird in zwei Teile geteilt: ,,Geheimpolizeiarchive: Archive wie andere?" und ,,Geschichte schreiben", denen ein einleitender Beitrag vorangestellt ist.

Im ersten Teil werden das polnische Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) und die deutsche Institution des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) näher beschrieben. Dabei geht es um deren Gründung, die Funktionsweisen sowie Probleme und Möglichkeiten, die sich mit der Öffnung der jeweiligen Archive ergeben. Die Autoren des ersten Teils sind überwiegend Mitarbeiter des IPN, bzw. des BStU: Paweł Machcewicz ist Leiter der Abteilung für Öffentliche Bildung des IPN, Krzysztof Persak - Mitarbeiter der dortigen Abteilung Bildung und Forschung, Bernadetta Gronek - Leiterin der Abteilung Zugänglichmachung und Archivierung im IPN. Auf deutscher Seite sind es Günter Bormann, der Leiter des Leitungsbüros des Bundesbeauftragten und Johannes Beleites, ein ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter der ,,Gauck-Behörde".

In seinem Beitrag geht Günter Bormann auf die Arbeit des BStU ein und schildert damit, welche Chancen und Probleme sich Wissenschaftlern bieten, die an den Stasi-Akten arbeiten wollen. Dies ist insofern interessant, als dass Bormanns Schilderungen aus einer innerbehördlichen Perspektive kommen. Johannes Beleites dagegen beschreibt in seinem Text die Auswirkungen des Stasiunterlagengesetzes sowie seiner Novellierung und unterzieht beide Gesetzestexte einer eingehenden Kritik, was möglichen Forschern hilfreich sein kann. Dabei ist anzumerken, dass zu diesem Text der zweite Beitrag von Günter Bormann gelesen werden sollte, in dem einige Aussagen Beleites präzisiert, bzw. aus einer anderen Perspektive gezeigt werden.

Die polnischen Mitarbeiter des IPN Pawel Machcewicz, Krzysztof Persak und Bernadetta Gronek beschreiben in ihren Texten die Entstehung und Arbeit des Instituts für Nationales Gedenken. Dabei gehen sie auf die Tatsache ein, dass sich die Polen erst spät mit der Aufarbeitung ihrer kommunistischen Geschichte beschäftigt haben, was z.B. Machcewicz mit einem anderen als dem deutschen Regimewechsel begründet. Ein anderes Thema, beschrieben von Bernadetta Gronek, ist eine Art Hilfestellung für Wissenschaftler und Betroffene, da sie aus diesem Text erfahren, wie sie am schnellsten an die jeweiligen Akten der polnischen Sicherheitsbehörde herankommen können. Wie bei den Texten über die ,,Gauck-Behörde" gibt es auch einen separaten Beitrag eines Polen über juristische Voraussetzungen, der jedoch vor allem für Geschädigte durch das kommunistische Regime ernüchternd sein kann, da der Autor Krzysztof Persak klarstellt, dass es den Wissenschaftlern leichter gemacht wird, an die sie interessierenden Akten zu kommen, als den Betroffenen selbst.

Den ersten Teil dieses Sammelbandes beschließt ein Artikel von Muriel Blaive, die sich mit der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Tschechien auseinandersetzt. Durch diesen Text erhält der Sammelband eine etwas breitere als nur die deutsche und polnische Perspektive auf das Thema der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Geschichte in den Staaten des ehemaligen Ostblocks.

Der zweite Teil hat zum Ziel aufzuzeigen, was bereits dank der Akten der polnischen SB und des deutschen MfS erarbeitet werden konnte. Dazu äußern sich in ihren Texten deutsche und polnische Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologen sowie Betroffene.

Andrzej Paczkowski stellt fest, dass bereits in zwei Themenbereichen (Forschung zum Sicherheitsapparat in Polen, Forschung zum Alltag der Gesellschaft) große Fortschritte gemacht wurden, was sowohl wissenschaftliche Studien wie auch Biografien und Memoiren der früheren Funktionäre belegen. Dieser Text ist eine interessante Bibliografie, die zwar nicht alle entstandenen Arbeiten berücksichtigt, wohl aber einen gewissen Überblick bietet, obwohl Paczkowski auch auf Lücken aufmerksam macht, die bis heute nicht bearbeitet wurden.

Der zweite Text von Jens Gieseke bezieht sich auf die Art der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Deutschland, die sich im Wesentlichen in einen delegitimatorischen und einen analytischen Diskurs aufteilt. Zusätzlich gibt er einen Einblick in eine von vielen Methoden des MfS - die Zersetzung. Anders als die vorherigen Autoren bezieht sich Thomas Lindberger in seinem Artikel ,,Geheim und öffentlich: Die DDR-Gesellschaft und ihre Polizeien" nicht nur auf die Arbeit des MfS, sondern auch auf die Tätigkeit der Volkspolizei, wodurch ein differenzierterer Blick ermöglicht werden soll auf das Zusammenleben von Gesellschaft und SED-Staat. Es ist eine Art Plädoyer, bei der Erforschung der DDR-Geschichte und der Sicherheitsapparate nicht die Volkpolizeiarchive außer Acht zu lassen, da ja diese Einrichtung sowohl mit dem MfS zuweilen eng verbunden war sowie eine gewisse Bürgernähe hatte. Der Artikel von Marcin Kula fällt aus dem Rahmen der bisherigen Texte, denn er besteht zum großen Teil aus Fragen, die nicht beantwortet werden. Es muss aber gesagt werden, dass diese offenen Fragen berechtigt sind, da schon der Titel seines Textes ,,Was ich aus den legendären Mappen erfahren möchte" deutlich macht, dass der Autor vor allem auf Lücken hinweist, die erst bearbeitet werden sollen. Dieser Text Kulas kann als Ergänzung zum Beitrag Paczkowskis gelesen werden, der auch auf nicht erschlossene Themenbereiche in der Erforschung der kommunistischen Geschichte Polens hinweist. Neben der Häufung von Fragen stellt der Autor aber auch fest, dass der Umfang der polnischen Geheimdienstakten so groß sei, dass sich Wissenschaftler neue Methoden erarbeiten sollten, um die Akten, die in Polen ,,Mappen" genannt werden, und die darin enthaltenen Informationen erschließen zu können. Dem fragenden Artikel Kulas ist ein Aufsatz von Ulrike Poppe angeschlossen, die als Oppositionelle in der DDR aus eigenen Erfahrungen mit dem MfS berichtet. Sie schildert, welche Informationen die Betroffenen durch die Einsicht in die personenbezogenen Stasi-Akten bekommen. Antoni Dudek vom IPN weist in seinem Text auf die Meinungsverschiedenheiten hin, die zwischen polnischen Wissenschaftlern und Politikern herrschen und die Aufarbeitung der kommunistischen Geschichte betreffen. Darüber hinaus kommt er zu dem Schluss, dass viele Polen heute einen nicht zwingend negativen Bezug zur Diktatur haben, wobei er sich auf Umfrageergebnisse eines polnischen Meinungsforschungsinstitutes stützt. Den zweiten Teil des Bandes beschließt der Artikel von Konrad H. Jarausch, der ein ,,Plädoyer für eine differenzierte DDR-Geschichte" ist. Zunächst weist der Autor auf verschiedene Themen und Unterschiede in der Erforschung der DDR hin, um dann auf Probleme einzugehen, die dem Forscher bei der Arbeit mit den MfS-Akten begegnen. Für Jarausch existiert eine reale Gefahr, die DDR nur aus der Perspektive der Staatssicherheit zu sehen, weshalb er in seinem Artikel dafür plädiert, einen breiter angelegten Vergleich zu unternehmen.

Dieser Sammelband gibt einen Einblick in verschiedene Themenbereiche der Forschung über die Geheimdienstakten in Polen und Deutschland, was vor allem durch die Beiträge verschiedener Autoren erreicht werden konnte, zu denen sowohl Mitarbeiter des polnischen IPN, des deutschen BStU sowie freie Wissenschaftler und Betroffene gehören. Es ist als Stärke des Bandes anzusehen, dass nicht nur verschiedene Autoren ihren Beitrag geleistet haben, sondern die Thematik der Akten der ehemaligen Staatssicherheitsdienste aus verschiedenen Blickwinkeln und aus der Sicht unterschiedlicher Disziplinen bearbeitet wurde, obwohl es vor allem bei den Texten der polnischen Autoren oftmals zu Wiederholungen kommt. Und doch sei dabei auch auf einige Mängel hingewiesen. Zu diesen gehören gewisse Übersetzungsfehler: Im einleitenden Artikel wurde das polnische Amt für Staatsschutz (Urząd Ochrony Państwa, die Nachfolgeorganisation der kommunistischen Staatssicherheit) als ,,Büro" bezeichnet (S. 15); an anderer Stelle wurde die Partei Unia Wolności ,,Union für Freiheit" statt Freiheitsunion benannt (S. 40). In einigen Texten sind leider ein paar Tippfehler stehen geblieben.

Neben diesen kleineren Mängeln, die den Informationswert des Bandes auf keinen Fall schmälern, muss hier aber auch auf schwerwiegendere Versäumnisse hingewiesen werden. In keinem der Texte ist eine vergleichende Perspektive für beide Länder zu finden; die Autoren konzentrieren sich nur auf das jeweils eigene Land. Einen solchen Vergleichsversuch gibt es lediglich in der Einleitung, hier aber nur ansatzweise. Zu bedauern ist auch, dass es keine Beiträge aus anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks (Ungarn, Rumänien) gibt, was wünschenswert wäre, da ja in dem Band Tschechien angesprochen wurde. Eine Einbeziehung anderer Staaten Ostmitteleuropas würde gewiss erlauben, die Hauptländer Polen und Deutschland in einem anderen, noch differenzierteren Licht zu sehen.

Abschließend sei jedoch gesagt, dass der Sammelband, trotz gewisser Mängel, ein gutes Nachschlagewerk bildet, das sowohl Forschern der kommunistischen Vergangenheit Polens und Deutschlands sowie allen anderen Interessierten dienen kann.

Rudolf Urban, Opole


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 06. November 2006