Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Bernhard Losch, Kulturfaktor Recht. Grundwerte - Leitbilder - Normen, Böhlau/UTB, Köln 2006, 291 S., brosch., 17,90 €.
Auch wenn die Niederungen des juristischen Alltags zumindest auf den ersten Blick nicht immer davon beeinflusst zu sein scheinen, gibt es in der Rechtswissenschaft ein tiefes Bewusstsein für die kulturelle Bedingtheit und kulturelle Funktion von Recht. Der Begründer der systematischen Rechtsvergleichung im 20. Jahrhundert, Ernst Rabel, hat gerade darauf immer wieder hingewiesen. In Rechtsordnungen manifestieren sich vielfältige kulturelle Traditionen, die ohne historischen Rekurs auf ihren Kontext für den Rechtsvergleicher nicht zu dechiffrieren sind. Die oberflächlich ähnliche Funktionalität der kultur- und rechtskreisübergreifenden Rechtsmechanismen ist das eine. Das andere ist das Verständnis der Regelungsrelevanz einer Norm in zwei zu vergleichenden Kulturen. Rabel ironisierte in diesem Zusammenhang gern in kritischer Absicht die Erwartungshaltungen der viel zu einseitig in ihren nationalen Rechtssystemen positivistisch befangenen Normaljuristen, die ,,hinter jedem Busch einen bis an die Zähne bewaffneten Wilden" erwarten, anders gesagt: ihr Rechtssystem so stark als kulturelle Normalität verstehen, dass sie anderen Rechtskulturen mit Skepsis, sogar Angst begegnen.
Bernhard Losch greift mit seiner Arbeit über den ,,Kulturfaktor Recht" insofern ein klassisches Thema der Rechtsreflexion und der Rechtsgeschichte auf, das von der Popularisierung durch den cultural turn in allen Geistes- und Sozialwissenschaften unabhängig ist. Dennoch hat dieser Ansatz in einer Gegenwart, die vom clash of civilizations und von Kulturkämpfen selbst innerhalb pluraler demokratischer Rechtsstaaten geprägt ist, zweifellos eine besondere Aktualität nicht nur für Juristen, sondern für alle Human- und Gesellschaftswissenschaftler. In kompendienartiger Form handelt Losch alle großen Diskussionsbereiche ab, in denen sich das Recht bei der gesellschaftlichen Selbstverständigung über ,,Grundwerte - Leitbilder - Normen", so der Untertitel, als Kulturfaktor erweist. Nach einer Einführung in die öffentliche Rechtsdiskussion, die den Charakter einer knappen Leitthemengeschichte der Rechtswissenschaft seit den großen Gesetzeskodifikationen des 19. Jahrhunderts hat, stellt Losch die wesentlichen Instrumente zur kulturellen Analyse von Normen vor, die von der Kultur- und Sozialwissenschaft bereitgestellt worden sind. Die lehrbuchartige Zusammenfassung von Kultur- und Rechtstheorien macht Losch durch viele eingestreute Fallbeispiele lebendig. Deren Problematisierung zeigt nicht nur bunte Variationen des Zusammenhangs von Sein und Sollen, sondern sensibilisiert für die Erwartungshaltung von Bürgern in Rechtsstaaten, ,,dass das Recht sich nicht nur unmittelbar auf die Praxis auswirkt, sondern auch umgekehrt durch die praktischen Verhältnisse bestimmt wird." (S.69) Die Rechts- als Kulturwissenschaft ist folglich nicht nur eine ,,praktische", sondern in hohem Maß auch eine theoriebedürftige Wissenschaft.
In vier großen Kapiteln führt Losch dann konkrete Diskursgegenstände der Berührung von Kultur und Recht vor. Nicht zufällig beginnt er mit den Grundwerten von Kultur und Recht, die er am Beispiel des Verfassungsprojekts der Europäischen Union konkretisiert. Losch kann auf diese Weise zeigen, dass Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte nicht nur unser Verständnis von Recht und Rechtspraxis bestimmen, sondern zugleich wesentliche kulturelle Muster menschenrechtlicher Identität sind bzw., wie man im Rückblick auf die Herausforderungen des 20. Jahrhunderts als dem Jahrhundert der Diktaturen sagen muss, geworden sind. Im nächsten Kapitel wird erkennbar, wie die Grundwerte mit bestimmten kulturellen Leitbildern wie Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichberechtigung korrespondieren, die jeweils ihre eigene agonale Geschichte von Infragestellung und rechtlicher Wiederherstellung haben. Es war eben diese Vorstellung vom Recht als Ausdruck kultureller Leitbilder, die den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus nach der ,,Wiederherstellung der Majestät des Rechts" streben ließ.
Als Testfelder der kulturellen Leitbilder untersucht Losch den mehr denn je umstrittenen Bereich von Religion, Moral und Recht sowie die Frage nach Gerechtigkeit als eine der Grundfragen der Kultur und des politischen Denkens. Die Wechselwirkungen von Kultur und Recht demonstriert Losch an Beispielen rechtlich motivierter Kultur- und kultureller Rechtskritik u.a. aus den Regelungsbereichen der Humangenetik, der Sterbehilfe, der Abtreibung und der Todesstrafe. Der rechtspolitisch Interessierte wird in diesem Kapitel viele Anregungen für ein Nachdenken über die Maßstäbe und Maßstabsbildung in gesellschaftlichen Konflikten finden.
Abschließend betrachtet Losch das ebenfalls klassische Feld von Recht und Literatur bzw. Recht in der literarischen Darstellung; einige Felder von Kultur als Rechtsaufgabe, darunter u.a. das öffentlich-rechtliche Rundfunkrecht, sowie den sich entwickelnden Bereich des Weltrechts vor dem Hintergrund einer Weltkultur; dies am Beispiel der Trends in der internationalen Rechtsentwicklung oberhalb nationalstaatlicher und nationalökonomischer Grenzen. Damit wird auch der Bogen zurück zu Ernst Rabel und dem Hauptanwendungsbereich seiner historisch aufgeklärten Rechtsvergleichung geschlagen: dem internationalen Privatrecht.
Loschs Überblick ist nicht nur als Nachschlagewerk rechtspolitischer Standardkonflikte mit kultureller Relevanz einschlägig, sondern kann auch ein wertvolles Instrument der menschenrechtlich orientierten historisch-politisch-rechtsstaatlichen Bildung sein. Dies vor allem deshalb, weil Losch immer wieder darauf aufmerksam macht, dass es für das Verhältnis von Kultur und Recht keine Patentformeln gibt; dass in der kulturellen Diskussion die Gefahr besteht, elementare Schutz- und Abwehrfunktionen des Rechts leichtfertig zu relativieren; dass andererseits in der juristischen Debatte nicht selten der kulturelle Kontext des eigenen Handelns aus dem Blick gerät.
Auch wenn das nicht dem Autor, sondern eher dem Reihenkonzept vorzuwerfen ist, vermisst man bei manchen Ausführungen direkte Belege. Die eingefügten Info-Kästen mit Quellen und Literatur sind nur ein Behelf. Gewonnen hätte die Darstellung auch durch einen Ausblick am Ende. Insgesamt kann Loschs Arbeit aber nur allen empfohlen werden, denen an einem kulturell aufgeklärten Rechtsbewusstsein gelegen ist.
Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe