ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Pyong Gap Min (Hrsg.), Encyclopedia of Racism in the United States. 3 Bde. Greenwood Press, Westport (Conn.), London 2005, 3 x LXIX + 795 S., geb., 249.95 $.

Als Gesellschaft von Siedlern, Sklavenhaltern, Einwanderern und Imperialisten mit den dazugehörigen autochthonen, verschleppten, migrierten und unterjochten Ethnien und Völkern geben die Vereinigten Staaten für eine lexikalische Sammlung zum Thema Rassismus allemal genug Stoff ab. Freilich sollte von einer solchen auch erwartet werden können, dass sie die Lemmata ,,Race" und ,,Racism" enthält und informationssuchende Leserinnen und Leser mit den entsprechenden Diskussionen darüber vertraut macht, was unter Rasse zu verstehen ist und welche Dimensionen Rassismus hat.

Nach beiden Begriffen sucht man indessen in der vorliegenden Stichwortsammlung vergeblich. Stattdessen werden die einleitenden Überlegungen des Herausgebers einschließlich der Liste der Mitarbeitenden, eine Chronologie zum Rassismus in den USA und zwei einmal alphabetisch und einmal nach Schwerpunkten geordnete Verzeichnisse der Einträge gleich in jedem Band, also dreimal identisch in einem Umfang von jeweils 69 Seiten abgedruckt. Ein fast 100 Seiten umfassender Anhang mit nach unklaren Kriterien ausgewählten und häufig gekürzten Quellen soll der Edition offenbar zusätzliches Gewicht verleihen. Da sie erst knapp vor dem Bürgerkrieg beginnen und neben dem perfiden Zusammenhang von Revolution und Rassenvertrag viele weitere wichtige Materialien ausblenden, sind sie nur bedingt hilfreich. Eine Vielzahl großformatiger und zum Teil nichtssagender Abbildungen bläht die Bände zusätzlich auf. Dass sie zu einem Preis von nahezu 250 Dollar angeboten werden, steht schon deswegen in keinem Verhältnis zu ihrem Gebrauchswert.

Dass die solide gebundene Ausgabe ein Gewicht von 2630 Gramm auf die Waage bringt, schafft keine Abhilfe. Sie ist damit mit rund 10 Cent pro Gramm zwar nur etwa halb so teuer wie zum Beispiel die von Ellis Cashmore herausgegebene ,Encyclopedia of Race and Ethnic Studies', die bei einem Gewicht von 1060 Gramm immerhin 210 Dollar kostet, dafür aber nur einen Einband hat, entschieden enger gesetzt ist, auf überflüssige Dopplungen verzichtet und eine weit größere Anzahl informativer Einträge verzeichnet. (1)

Zwar ist dem Herausgeber in seiner Einschätzung zuzustimmen, dass neben ,,South Africa under apartheid" und ,,Nazi Germany" ,,the United States has probably been the most racist country in the world" (IX). Darauf mit einer komplexen Informationsquelle zu reagieren, die nicht zuletzt in Schulen und Hochschulen die Auseinandersetzung mit den Problemen des Rassismus unterstützen soll, ist ebenso notwendig wie begrüßenswert. Sich dabei zumal für die erste Auflage aus unterschiedlichsten Richtungen Kritik für angeblich fehlende oder falsch gewichtete Lemmata einzuhandeln, gehört nachgerade zu den strukturellen Voraussetzungen lexikalischer Unternehmungen. Doch sind sie gerade deswegen auch verpflichtet, über ihre Organisation Auskunft zu geben und ihr Material anhand nachvollziehbarer Kriterien zu präsentieren.

In diesem Fall sollen sechs Kategoriengruppen die Auswahl und Erstellung der Einträge geleitet haben: ,,1. Social-science terms, concepts, and theories related to racism". ,,2. Historical and contemporary events, figures, and organizations reflecting or supporting racial discrimination and racial violence against minority groups". ,,3. Racial prejudice and discrimination in employment, housing, and other areas". ,,4. Reactions of minority groups to racial discrimination and of minority leaders who have fought against racism". ,,5. Governmental measures, programs, and agencies, and court cases related to either discrimination or prevention of racial discrimination against minority groups". ,,6. Major books either supporting or exposing racism" (VIII).

Unter diesen Auspizien hätte ich zum ersten Punkt zum Beispiel ein grundsätzliches Stichwort ,,Racist Stereotyping and Stereotypes" erwartet. Statt seiner werde ich aber lediglich auf ,,Films and Racial Stereotypes", ,,Middle Easterners, Stereotypes of", ,,Muslims, Terrorist Image of", ,,Television and Racial Stereotypes" verwiesen. Keiner dieser Einträge beschäftigt sich grundlegend mit dem Prozess rassistischer Stereotypisierung. Alle verwenden das Wort Stereotyp umgangssprachlich und verzichten auf begriffliche Überlegungen. (2) Und schon der erste Eintrag zeigt mit seinem ersten Beispiel, dass das auf Kosten analytischer Schärfe und argumentativer Präzision geht.

Über rassistische Stereotype im Film erfährt man da: ,,Early films, such as Birth of a Nation (1915), depicted minorities as savages whose predilection for violence was a constant threat to civilized white people. By the 1930s, minorities were no longer depicted as savages. Instead, they were most often cast as servants for white families, e. g., Gone With the Wind (1939)" (1/226). Diese Darstellung ist ebenso falsch wie undifferenziert. Außerdem unterschlägt sie gerade, was herauszuarbeiten gewesen wäre: die Komplexität des Negerstereotyps im frühen amerikanischen Film, die sich in der Entwicklung mehrerer charakteristischer Figuren niedergeschlagen hat. Viele von ihnen (wie die treue ,Black Mammie', der ergebene ,Uncle Tom', der komische ,Coon', der brutale ,Black Buck' oder der zwiespältige ,Mulattoe') wurden bereits von David Wark Griffith in ,Birth of a Nation' präsentiert. (3)

Das wirft ein unbefriedigendes Schlaglicht auf die Perspektive des sechsten Punktes, die sich nur auf Bücher bezieht und auch denen gegenüber anscheinend nicht klar definiert hat, welche Genres dabei Berücksichtigung finden sollen. Jedenfalls gibt es ein Stichwort ,Roots', das sich sowohl mit dem erfolgreichen Buch wie dem nach ihm produzierten Fernsehfilm beschäftigt, aber kein Stichwort, ,Birth of a Nation', dessen Drehbuch sich an dem bis heute vertriebenen rassistischen Reißer ,The Clansman' orientierte und der nicht nur seiner rassistischen Dramaturgie oder der für Woodrow Wilson als Präsidenten der USA im Weißen Haus arrangierten Privatvorführung, sondern auch des gegen ihn von der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) organisierten Protestes wegen von Interesse gewesen wäre. Der konnte zwar nicht verhindern, dass ,Birth of a Nation' zu einem der erfolgreichsten Filme aller Zeiten wurde, führte aber in einigen Bundesstaaten zur Zensur der brutalsten rassistischen Szenen und in einer Reihe größerer Städte auch zu Aufführungsverboten. Außerdem schlug er sich auch in John W. Nobles ,The Birth of a Race' (1919) nieder, dessen ursprünglicher Plan, mit filmischen Mitteln ein alternatives Porträt der Amerikaner afrikanischer Abstammung zu entwerfen, allerdings aus einer Reihe persönlicher und struktureller Gründe scheiterte. (4)

Aber auch nur auf wissenschaftliche Texte zum Thema bezogen, scheint mir Punkt sechs von Pyong Gap Mins Liste eher willkürlich umgesetzt worden zu sein. Warum es keinen Eintrag zu Du Bois' ,,The Negro", Montagus ,,Man's Most Dangerous Myth", Myrdals ,,An American Dilemma" oder Cox' ,,Caste, Class, and Race" gibt, bleibt mir verschlossen. (5) Diese und andere in den USA erschienene Texte, die in der Enzyklopädie fehlen, waren jedenfalls wichtig genug, dass sie zum Beispiel von Ellis Cashmore und James Jennings unter die grundlegende Lektüre zum Thema Rassismus gerechnet wurden. (6)

Angesichts ihrer großen Zahl lassen sich die wichtigsten neueren Beiträge zum Thema sicher nicht umfassend dokumentieren. Doch wegen ihrer über ihre engere Themenstellung hinausreichenden Bedeutung hätte ich mir Beiträge zu ,,The Wages of Whiteness", ,,How the Irish Became White" oder ,,The Racial Contract" durchaus gewünscht. (7)

Dass die Gender-Perspektive der neueren Rassismusdiskussion in den USA nicht dokumentiert wird, ist aber jedenfalls ein klares Versäumnis - wozu durchaus passt, dass unter den Organisationseinträgen keine Frauenorganisation verzeichnet wird (vgl. LXV) und dass unter den Namenseinträgen (vgl. LXIII f.) Frauen extrem unterrepräsentiert und z. B. weder die Schwestern Grimké noch Sojourner Truth, aber auch nicht Angela Y. Davis oder Nellie Wong zu finden sind. Es gibt nicht nur kein Stichwort ,Women etc.', sondern auch im Index fehlen Einträge zu dem Wort und wird statt dessen auf ,Gender roles' verwiesen.

Überhaupt kommt gegenüber vielen informativen Sachbeiträgen die theoretische Perspektive in den drei Bänden zu kurz. Das schlägt sich nicht nur in den Literaturhinweisen nieder, die nach unklaren Kriterien bei zahlreichen Artikeln fehlen und wo sie vorhanden sind, nicht immer den neuesten Stand der Diskussion vermerken. Das gilt auch für das Fehlen einiger grundsätzlicher Lemmata, zu denen nicht zuletzt ,Rasse' und ,Rassismus' gehören. W Die Artikel, die ,Racism' als Stichwort enthalten (,Academic Racism', ,Biological Racism', ,Color-Blind Racism', ,Environmental Racism', ,Institutional Racism', ,Internalized Racism', ,Laissez-Faire Racism', ,Modern Racism', ,Nonwhite Racism', ,Symbolic Racism' u. a.), bilden keinen Ersatz für einen systematischen Beitrag, der die verschiedenen Dimensionen des Themas skizzieren müsste. Er hätte sich auch damit zu beschäftigen gehabt, dass zahlreiche aktuelle Untersuchungen den Begriff Rassismus nicht auf neuzeitliche Konzepte der Rassendiskriminierung beschränken, sondern deutlich weiter fassen. (8) Das geschieht unter der Hand auch in der Enzyklopädie - zum Beispiel im Beitrag zum Stichwort ,Anti-Semitism in the United States', der ,,Anti-Semitism" zwar problematisch schreibt, aber immerhin ,,as a form of racism" (1/35) wertet und einen Abschnitt über ,The History of Anti-Semitism prior to the United States' enthält - ohne dass dies aber zu grundsätzlichen Überlegungen Anlass gegeben hätte.

Sie fehlen auch zum Begriff der Rasse selbst. Das ist um so bedauerlicher, als es etwa unter dem Stichwort ,Nonwhite Racism' heißt: ,,Racism is a belief system designed to entrench inequalities on the basis of race" (2/456), während unter dem Stichwort ,Modern Racism' zu lesen ist: ,,In modern racism, prejudiced behavior is characterized by a subtlety that can make it much more difficult to identify - and to define as expressly and exclusively racial discrimination - than the older forms of racism" (2/405). Beide Positionen sind insofern problematisch, als sie nicht klar machen, inwieweit ihnen kein essentialistisches Verständnis von Rasse zugrunde liegt bzw. mit welchem Rassenkonzept sie argumentieren. Um in dieser Frage weiter zu kommen, muss man genau genommen schon wissen, worum es geht und im Register unter ,social construction' nachschlagen. Dort wird man zwar nur auf ,whiteness' verwiesen, doch unter dem Stichwort ,Social Construction of Whiteness' gibt es dann immerhin den Hinweis, ,,that race is not a biological entity but, rather, a sociocultural construction". Leider heißt es dann weiter: ,,Sociologists and geneticists have convincingly debunked the ideology of the biology of race, arguing that ,race' has no empirical basis in reality, which in this case is genetics" (3/588). Welche Soziologinnen und Soziologen sich daran beteiligt haben, soziale Konstruktionen als Erscheinungen auszuweisen, die keine empirische Basis in der Realität haben, wird nicht mitgeteilt. Ihnen wird aber auch nicht der naheliegende Hinweis entgegengehalten, den etwa Margaret L. Andersen in der Debatte um ,whiteness' formuliert hat: ,,recognizing the socially constructed nature of race does not mean it is ,not there' [...]. Race is a social fact in the sense that Emile Durkheim [...] meant; race can both be constructed and be real in its consequences". (9)

Abgesehen von solchen zentralen Unklarheiten gibt es eine ganze Reihe von Artikeln mit oberflächlichen und undifferenzierten bis falschen Darstellungen. Dazu gehört zum Beispiel der für die Thematik nicht nebensächliche Beitrag zum Thema ,Social Darwinism'. In ihm wird die unzutreffende Behauptung lanciert, dass der Sozialdarwinismus das Ergebnis der Übertragung von Erkenntnissen der Evolutionstheorie auf die Probleme gesellschaftlicher Entwicklung durch Sozialwissenschaftler gewesen wäre (vgl. 3/589 f.). Tatsächlich war nicht nur Charles Darwin selbst Sozialdarwinist, sondern die Entwicklung dieses Konzeptes ging mit der keineswegs unwidersprochenen Durchsetzung der Evolutionstheorie einher und wurde ganz wesentlich von Naturwissenschaftlern wie Thomas Henry Huxley oder John Lubbock betrieben. (10)

Solche problematische Entlastung der Naturwissenschaften findet sich ausgerechnet auch unter dem Stichwort ,Biological Racism', unter dem behauptet wird, ,,Social Darwinism has little to do with Darwin's ideas" (1/64). Möglicherweise ist dies auch dafür verantwortlich, dass ein Stichwort zur Debatte um die Soziobiologie fehlt, obwohl sie doch in den USA angestoßen wurde und trotz fundierter Kritik massive gentheoretisch unterlegte Weiterungen erfahren hat, die durch Psychologen, Ethnomediziner und andere popularisiert und verbreitet werden und sich in der Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen der Gentechnologie in einer neuen Eugenik niederschlagen. (11)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die ,Encyclopedia of Racism in the United States' ein notwendiges und teilweise gelungenes Unterfangen ist, das in den ihm zu wünschenden kommenden Auflagen dringend der konzeptionellen und inhaltlichen Überarbeitung bedarf.

Wulf D. Hund, Hamburg


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 06. November 2006