Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Christa Uhlig, Reformpädagogik: Rezeption und Kritik in der Arbeiterbewegung. Quellenauswahl aus den Zeitschriften Die Neue Zeit (1883-1918) und Sozialistische Monatshefte (1895/97-1918) (Studien zur Bildungsreform), Peter Lang, Frankfurt/Main etc. 2006, 800 S., brosch., 98,00 €.
Diese Quellensammlung, die auch den Anspruch einer Quellenanalyse formuliert, wurde von Christa Uhlig im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts ,,Reformpädagogik und Arbeiterbewegung" an den Universität Paderborn vorgelegt; zeitlich beschränkt sie sich auf die erste Blüte der Reformpädagogik in der Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs bis zum Ersten Weltkrieg.
Wolfgang Keim, Herausgeber der Reihe ,,Studien zur Bildungsreform", umreißt in seinem Vorwort knapp die Rezeption der Reformpädagogik nach 1945 in der Bundesrepublik und der DDR und beleuchtet auch die Beschränkungen erziehungswissenschaftlicher Forschung: Diese habe Reformpädagogik vor allem unter ideengeschichtlichem Blickwinkel wahrgenommen und eingeordnet, sie ausschließlich mit dem Bürgertum verbunden, was nicht zuletzt auch die Distanz der Erziehungswissenschaftler in der DDR begründet habe. Die vorliegende Untersuchung lege demgegenüber großes Gewicht auf das ,,sozialgeschichtliche Umfeld" der pädagogischen Diskussionen. Sie befragt als wichtigen Ausschnitt aus den damaligen Diskursen die Beiträge der Zeitschrift Die Neue Zeit (seit 1883) und Sozialistische Monatshefte (seit 1897) nach dem Verhältnis der sozialistischen Arbeiterbewegung zur Reformpädagogik.
Die umfassende Einleitung in die Quellensammlung ist gegliedert nach Forschungszusammenhang, Bildungspolitik und Pädagogik der Arbeiterbewegung, den Zeitschriften Die Neue Zeit und Sozialistische Monatshefte als zentralen Publikationsorten, Rezeption und Kritik der Reformpädagogik, Konzepte und Projekte proletarischer Bildungsreform und Arbeiterbewegung und Reformpädagogik (als zusammenfassendes Kapitel zu Gemeinsamkeiten, Differenzen und Widersprüchen). Der einleitende Teil schließt mit einem Quellen- und Literaturverzeichnis. Das ,Herzstück' aber sind die ausgewählten Quellen selbst (S. 217-778), zu deren Gebrauch der Leser/die Leserin Hinweise erhält und sie auch über ein Verzeichnis sowie ein Personen- und Sachwortregister erschließen kann.
Das Projekt insgesamt verfolgt das Ziel, bestimmte bildungspolitische und pädagogische Auffassungen der Arbeiterbewegung ,,wieder in das Bildungsdenken der Gesellschaft aufzunehmen" und als ,,Erkenntnisquelle humanistischer Pädagogik" zu nutzen (vgl. S. 27).
Was wird nun in den beiden Zeitschriften diskutiert, womit setzen sich Pädagogen und Bildungspolitiker bis 1918 auseinander? Die ,,Neue Zeit" widmete sich wiederholt (und kontrovers) unter anderem den Themen Arbeitsschule/Arbeitsunterricht, Kunsterziehung, Sexualerziehung, Schulreform, Lehrerbildung, Sozialpädagogik und Jugendbewegung.
Obwohl es vielfältige Überschneidung nicht nur bei den Themen Schulreform und Jugenderziehung gab, boten die ,,Sozialistischen Monatshefte" auch Beiträge, die einige weitere pädagogische und bildungspolitische Aspekte in den Vordergrund rückten, etwa das Verhältnis der Arbeiterbewegung zu den ,Höheren Schulen'. Die Zeitschrift sprach zudem sozialistische Akademiker unter ihren Lesern in besonderer Weise an.
Beide Zeitschriften hatten einen hohen theoretischen Anspruch, aber nur Die Neue Zeit ging vom Dietz-Verlag 1901 in das Parteieigentum der SPD über. Die Sozialistischen Monatshefte gehörten der sozialdemokratischen Richtung um Eduard Bernstein an und verstanden sich zeitweilig als ,,Gegenorgan" zur Neuen Zeit. Obwohl also diese Zeitschriften heftig miteinander konkurrierten, gab es etliche Autorinnen und Autoren, die in beiden Zeitschriften publizierten (Gustav Radbruch, Anna Siemsen, Adolf Reichweich und viele andere). Mit der Spaltung der Sozialdemokratie und der Gründung der KPD schrieben kommunistische AutorInnen weder für die eine noch die andere Zeitschrift.
In der Redaktion der Neuen Zeit waren in jenen Jahren heftige Auseinandersetzungen um den Kurs der SPD entbrannt, die zwar durch Entlassungen geglättet wurden, den Bedeutungsverlust der Zeitschrift aber nicht aufhalten konnten. Sie stellte 1923 ihr Erscheinen ein und fand 1924 unter neuem Namen (Die Gesellschaft) eine Fortsetzung als Theorieorgan der Mehrheitssozialdemokratie. Auch die Zeitschrift Sozialistische Monatshefte litt unter den Auseinandersetzungen um die kriegsbefürwortende Politik der Partei und veränderte ihr politisches Profil. Nach dem Ersten Weltkrieg - bis zur erzwungenen Einstellung 1933 - verstand sie sich als unabhängiges, unorthodox marxistisches Periodikum, gleichwohl fanden sich hier Autorinnen und Autoren aus der Vorkriegszeit.
Rekonstruiert werden von Christa Uhlig Motive, Konzepte und Entwicklungen in der Reflexion von Erziehung und Bildung in der Arbeiterbewegung und der zeitgenössischen Reformpädagogik, an denen bekannte und weniger bekannte Protagonisten der sozialistischen Pädagogik beteiligt waren. Sie greift aus den zahlreichen erörterten Themen einige heraus und diskutiert diese auch im Vergleich: die Verständnisse von Arbeitsschule und Arbeitserziehung, sozialpädagogische Positionen, die Debatte um die weibliche und kindliche Sexualität, die Auseinandersetzung mit der damals durch namhafte deutsche Reformpädagogen rezipierten Veröffentlichung von Ellen Keys, ,,Das Jahrhundert des Kindes" (deutsch 1902).
Die Herausgeberin kommt zu der Einschätzung, dass es, betrachtet man die jeweilige Begrifflichkeit und Rhetorik, mehr Gemeinsames als Trennendes zwischen der Arbeiterbewegung und der (bürgerlichen) Reformpädagogik gegeben habe. Das gelte für Texte prominenter Vertreter der pädagogisch orientierten Arbeiterbewegung (Zetkin, Bebel, Rühle) ebenso wie für heute unbekannte Autorinnen und Autoren. Auch die Symbolik - strahlende Sonne, gereckter jugendlicher Körper - habe verschiedene soziale Bewegungen verbunden: die Lebensreformer, die meisten Jugendgruppen, die bürgerliche wie die proletarische Reformpädagogik. Kinder und Jugendliche galten milieuübergreifend als Hoffnungsträger für eine ,leuchtende' Zukunft. Die Arbeiterbewegung habe aber auch ,,Widersprüche, Amivalenzen und Verwerfungen" (S. 189) mit der Reformpädagogik geteilt. Uhlig meint damit die heute besonders befremdlich anmutenden eugenischen und rassehygienischen Vorstellungen. Der ,neue Mensch' sollte fraglos jung und gesund sein, in der sozialistischen Variante solchen Fortschrittsglaubens darüber hinaus auch klassenbewusst und solidarisch.
Die Differenz zwischen sozialistischer und bürgerlicher Reformpädagogik bestand unter anderem im Verhältnis zur Individualität: Die Pädagogen und Pädagoginnen der sozialistischen Arbeiterbewegung stellten die fortschrittliche Erziehung ganz selbstverständlich in den Dienst der gesamten Arbeiterschaft (und ihrer Emanzipation); die Entfaltung und das Aufstiegsstreben Einzelner galten ihnen in ihrer Mehrheit als bürgerlicher Individualismus und als Vernachlässigung des Gleichheitsanspruchs. Sehr grundsätzlich kritisierten sie damit zusammenhängend, dass die Reformpädagogik bürgerlicher Richtung die bestehenden Verhältnisse, insbesondere die soziale Frage, ignoriere. Sie würde damit Ungleichheit reproduzieren anstatt durch umfassende Bildung und kindgerechte Vermittlungsmethoden zielstrebig an der Umgestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Im Kapitalismus, so Heinrich Schulz (1872-1932), profilierter sozialdemokratischer Bildungspolitiker und Mitbegründer der SPD-Parteischule, müssten pädagogische Reformansätze notgedrungen ,Stückwerk' bleiben. Die Heranwachsenden sollten unter dieser Perspektive mit den Fähigkeiten zur Veränderung überhaupt erst ausgestattet werden. In der SPD spielte die ,Schulfrage' unabhängig von der Diskussion um eine zeitgemäße Unterrichtsgestaltung eine große Rolle; sie setzte sich seinerzeit programmatisch für die Einheitlichkeit, Weltlichkeit und Unentgeltlichkeit des Schulwesens ein. Der spezifische Gehalt der sozialistischen Pädagogik korrespondiert in den Überlegungen Christa Uhligs dann auch mit den gesellschafts- und sozialpolitischen Zielvorstellungen der Sozialdemokratie vor ihrer Spaltung. Insbesondere die damalige Verflochtenheit dreier Stränge - der Reformpädagogik, der traditionellen Pädagogik und der sozialen Frage - habe ihre unverwechselbare Qualität ausgemacht.
Die Herausgeberin hält es für ,,müßig" danach zu fragen, ob die sozialistische Pädagogik eine Quelle der Reformpädagogik oder diese eine Quelle der sozialistischen Pädagogik gewesen sei (vgl. S. 195). Sie unterstreicht vielmehr die Eigenständigkeit der proletarisch-sozialistischen Projekte. Doch vielfach seien diese entweder unter dem Einfluss konkurrierender politischer Strömungen verloren gegangen oder hätten allenfalls ein Nischendasein geführt. Mitunter sei auch ein ,,berechtigter Realismus" im Hinblick auf die Sozialisationsinstanz Schule hinzugetreten (vgl. S. 197). In diesem Zusammenhang hätte ein Ausblick auf die Reformpädagogik der sozialistischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik einschließlich jahrlanger ,,Schulkämpfe" nahegelegen, dieser wird aber von Christa Uhlig auffällig vermieden. Die Mühen der sozialdemokratischen Realpolitik auf diesem Feld bleiben somit außen vor, was insofern verwundert, als die Herausgeberin mit ihrer Studie neben wissenschaftlichen Interessen ausdrücklich auch ein politisches Anliegen zu erkennen gibt: Sie rekurriert angesichts der ,,gegenwärtigen Phase globaler kapitalistischer Entwicklung" und diverser Unzulänglichkeiten des bundesdeutschen Bildungssystems auf sozialistisch-reformpädagogische Ansätze und hält deren pädagogisches Potenzial und individuelles wie kollektives Emanzipationsversprechen für noch nicht abgegolten. Uhligs Bezüge zur heutigen Bildungslandschaft vermögen in der umfänglichen Arbeit wegen ihrer Allgemeinheit jedoch wenig zu überzeugen. Der bildungsgeschichtliche Ertrag hingegen steht für sich und liegt nicht zuletzt in der herausgearbeiteten Kontroversität, in konzeptionellen Ambivalenzen. Zu wünschen wäre, dass die gewonnenen ,Einsichten' die Rezeption der Reformpädagogik deutlich ausdifferenzierten.
Heidi Behrens, Essen