ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christopher Dowe, Auch Bildungsbürger. Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 171), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, 384 S., kart., 44,90 €.

Bismarcks gewaltsam und ,,von oben" herbeigeführte Gründung des Deutschen Kaiserreiches hat bekanntlich im Innern die vielfältig zerklüftete, nach Klassen, Schichten, Nationalitäten, landsmannschaftlichen Mentalitäten und Religions- oder sonstigen weltanschaulichen Bekenntnissen gespaltene Gesellschaft nicht zu einer einheitlichen Staatsbürgergesellschaft zusammenzuführen vermocht. Im Gegenteil, der ,,eiserne Kanzler" hat zahlreiche seiner politischen Gegner als ,,Reichsfeinde" stigmatisiert - eine Ächtung, die etwa im Falle des katholischen Bevölkerungsdrittels oder der sozialdemokratischen Arbeiterschaft bis zum Ende des Kaiserreiches und noch darüber hinaus fortgewirkt hat.

Zu den Folgen zählt, dass eine der gesellschaftlichen Scheidelinien entlang der konfessionellen Gräben verlief: Mochten Katholiken im wilhelminischen Deutschland auch mit aller Kraft nach politisch-gesellschaftlicher Gleichberechtigung streben, in den nationalen Machtstaat hineinwachsen und sich etwa in puncto Schiller-Begeisterung (,,ein Erzieher zur geistigen Einheit unseres Volkes") von niemandem übertreffen lassen, so blieben sie der protestantisch-liberalen Mehrheitsgesellschaft doch gründlich suspekt, wurden als ,,ultramontan-romhörig" verketzert, ja als ,,national unzuverlässig", um nicht zu sagen ,,antinational und undeutsch" beargwöhnt.

Was für die Katholiken im Allgemeinen galt, galt im Besonderen für die kirchlich gebundenen unter ihnen, welche, einem gern zitierten Diktum Heinrich von Treitschkes zufolge, den Mächten der ,,Dummheit und Finsternis" ausgeliefert waren, und es galt demzufolge auch für die kirchennahen katholischen Studenten und Akademiker. Waren sie überhaupt vollwertige Bürger, gar ,,Bildungsbürger", wenn Eigenschaften wie Aufgeschlossenheit für Wissenschaft, Bildung und technischen Fortschritt in der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft als mit enger Bindung an die katholischen Kirche unvereinbar galten? Die ,,Vorstellung von kirchentreuen katholischen Bildungsbürgern" erschien dem zeitgenössischen Deutungskartell jedenfalls absurd.

Die hier aufscheinenden Vorurteile haben indessen nicht nur die lebensweltlichen Anschauungen dominiert, sondern auch den Gang der historischen (Bürgertums-)Forschung bis in die Gegenwart hinein bestimmt. Noch Thomas Mergel lässt sich in der Nachfolge Max Webers vom liberalen Selbstbild des 19. Jahrhunderts leiten, wonach zwischen (kultur-) protestantisch-liberalen und ,,katholisch-klerikalen" Erscheinungsformen des Bürgertums Abgründe klafften. Im Konzert gelehrter Abhandlungen kommen katholischen ,,Bürgern" also allenfalls Sperrsitze zu.

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Hiergegen wendet sich Christopher Dowe, Verfasser der vorliegenden Tübinger Dissertation, mit seiner zentralen These, ,,dass es wichtige Gruppen gläubiger Katholiken gab, die dem Bildungsbürgertum angehörten und zugleich einen Platz innerhalb des Katholizismus besaßen". Schon der klug gewählte Buchtitel ,,Auch Bildungsbürger" bringt dies zum Ausdruck. Der Verfasser untersucht diese Ausgangsvermutung am Beispiel der quellenmäßig gut dokumentierten katholischen Studenten- und Altherrenorganisationen im wilhelminischen Deutschland, die eine zentrale Gruppe der katholischen Akademikerschaft bildeten und als Multiplikatoren tief in das ,,katholische Milieu" hineinwirkten. Ein knappes Drittel der an preußischen Universitäten immatrikulierten katholischen Studenten, erfahren wir, waren korporiert, in ganz Deutschland gleichzeitig ein gutes Viertel, so dass die von Dowe ermittelten Untersuchungsergebnisse ein hinreichendes Maß an Repräsentativität für die katholische Akademikerschaft, das Hauptreservoir katholischer Bildungsbürger, beanspruchen können.

Das wilhelminische Bildungsbürgertum um ein katholisches Segment zu erweitern setzt freilich voraus, sich von zeitgenössischen Ausgrenzungsperspektiven mit Langzeitwirkung frei zu machen und - an sich eine blanke Selbstverständlichkeit - auf das Selbstverständnis, die Vorstellungswelten und die sozialen Praktiken katholischer Bürger zu rekurrieren. Dies fällt einer jungen Historikergeneration, die jenseits des Pulverdampfes vergangener Weltanschauungsschlachten herangewachsen ist, sichtlich leichter als den Matadoren früherer Kämpfe (oder deren Söhnen und Enkeln), namentlich wenn sie wie Dowe mit Dieter Langewiesche einen akademischen Lehrer zum Betreuer hatten, der mit eigenen wie den Forschungen eines großen Schülerkreises entscheidend zur Überwindung überkommener perspektivischer Blickverengungen beigetragen hat.

Dabei weiß der Verfasser um die Notwendigkeit klarer Begriffe. Er definiert sein Verständnis von Katholizismus, verweist auf die nicht allein sozialen, sondern auch richtungsmäßigen Binnendifferenzierungen im Katholizismus, erinnert an die begrenzte Durchsetzungskraft der kirchlichen Hierarchie. Der von Teilen der Milieuforschung unterstellten einheitlich überwölbenden katholischen Kultur begegnet er mit Skepsis, wobei bei näherem Hinsehen nur ein Mangel an schichtspezifischen Untersuchungen - etwa zu Adel, Bürgertum, katholischer Arbeiterschaft - zu konstatieren ist.

Entsprechend differenzierend verfährt der Verfasser auch mit dem Begriff des Bürger- bzw. Bildungsbürgertums. Er entkleidet ihn seines vorrangig protestantisch-liberalen Bezugs und seiner engen Verknüpfung mit der Verfallsgeschichte des politischen Liberalismus. Statt dessen entscheidet er sich für einen weiten Begriff, der Bürgertum als eine ,,heterogene, dem historischen Wandel unterliegende soziale Formation" versteht, in der - bei entsprechenden Voraussetzungen - konkurrierende Strömungen um ,,Deutungsmacht" ringen: neben liberalen auch konservative Protestanten, Juden, Nichtkirchliche - und eben auch kirchentreue Katholiken. Man mag diesen Begriff von Bürgertum als zu weit und unbestimmt kritisieren, aber er hat den Vorzug, auf das ,,Bildungsbürgertum" leicht übertragbar zu sein und die untersuchten Katholiken nicht von vornherein auszuschließen. Konsequenterweise verwirft Dowe daher auch Reinhart Kosellecks ausgrenzende Definition von ,,Bildungsbürgertum" als ,,neue Bildungsreligiosität" unter Anleitung durch ,,protestantische Laienpriester".

Anders als etwa Mergel, dessen Bürgertumsstudie einen rheinischen Schwerpunkt besitzt, hat Dowe sich für ein deutschlandweites Vorgehen entschieden, für das er Quellenstudien in immerhin 18 Archiven betrieben hat. Hierdurch tritt die regionale Vielfalt katholischer Bürgerlichkeit ebenso in den Blick wie hochschulspezifische Ausprägungen. Darüber hinaus erlaubt der Zugriff auf studentische Korporationen und deren Altherrenschaft Einblicke in unterschiedliche Lebens- und Bildungsphasen. Indessen werden auch religiös oder karitativ und sozial motivierte Zusammenschlüsse wie die Akademischen Bonifatiusvereine, die Vinzenzkonferenzen oder das Sekretariat Sozialer Studentenarbeit untersucht, wodurch eine Klientel außerhalb des Lebensbundprinzips der studentischen Verbindungen in den Blick tritt. Hingegen konnten die erst kurz vor dem Kriege gegründeten katholischen Studentinnenvereine schon wegen der dürftigen Quellenlage nicht gleichgewichtig behandelt werden. Dass im Übrigen die Wilhelminische Zeit im Zentrum der Betrachtungen steht, hat quellenmäßige Gründe. Erst durch den Kulturkampf erhielt das Vereinsschrifttum jene Selbstvergewisserungs- und Mitteilungsdichte, die die Rekonstruktion der Vorstellungswelten katholischer Akademiker erlaubt.

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Inhaltlich ist die Studie in sechs Kapitel gegliedert, deren I. (S. 29-54) zunächst die untersuchten Organisationen vorstellt, ehe in einem II. Kapitel (S. 55-89) nach religiös-kultureller Bildung und sozialer wie religiöser Praxis, aber auch nach dem von Selbstbewußtsein geprägten Verhältnis der Akademiker zum Klerus gefragt wird. ,,Selbstverständnis und Lebensgefühl" des untersuchten Personenkreises in den mannigfachen Lebenssituationen bilden den Mittelpunkt einer eigenen Analyse (Kap. III, S. 91-132), die ihre Konturenschärfe gerade vor dem Hintergrund protestantischer Mehrheitskultur erhält. Eine spezielle Form öffentlichen Engagements, deren Bezug zum bildungsbürgerlichen Umfeld sich nicht auf den ersten Blick erschließt, stellte die sozialstudentische Bewegung dar (Kap. IV, S. 133-158), die zugleich Wege zu interkonfessioneller Zusammenarbeit eröffnete. Den eigentlichen Kern der Arbeit bilden die beiden abschließenden Kapitel, spiegeln sie doch mit ihren Themen - ,,katholischen" Nationsvorstellungen und Geschichtsbildern (Kap. V, S. 159-230) sowie dem Verhältnis der Katholiken zu ,,Religion, Wissenschaft und Kultur" (Kap. VI, S. 231-290) - Hauptstreitpunkte der zeitgenössischen Auseinandersetzung wider, aber eben auch zentrale Felder katholischer Selbstvergewisserung. Hingegen werden die Wechselbeziehungen katholischer Akademiker zur Parteienlandschaft des Kaiserreiches, namentlich zur Zentrumspartei nicht eigens thematisiert. Dies hätte vermutlich das Zeitbudget eines einzelnen Doktoranden überfordert, aber vielleicht die Frage beantworten helfen, inwieweit die Ausgrenzung der Katholiken aus dem bildungsbürgerlichen Diskurs der Zeit auch parteipolitisch motiviert war. Schon Bismarck hat ja bekanntlich die Gründung einer ,,rein konfessionelle[n] Fraktion auf rein politischem Boden" als eine Ungeheuerlichkeit bezeichnet. Ein bilanzierendes Schlusskapitel rundet die Darstellung ab (S. 291-303), das die erzielten Ergebnisse reflektierend mit der Ausgangsfrage verknüpft.

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Ohne den inhaltlichen Reichtum im Einzelnen ausbreiten zu können, sind zentrale Untersuchungsergebnisse festzuhalten, mit denen der Verfasser vorhandene Erkenntnisse teils präzisiert, teils ergänzt, teils deutlich über sie hinausgelangt:

  1. Die Analyse der Quellen lässt keinen Zweifel daran, dass ein dezidiertes Bekenntnis zur (angefeindeten) Kirche für die katholisch organisierte Studenten- und Akademikerschaft ,,ein zentrales Element" ihres Selbstverständnisses war; dies unterschied sie von der eher losen Kirchenbindung protestantischer Bildungsbürger. Dennoch lässt sich auch im katholischen Raum eine ,,Bedeutungsverschiebung des Religiösen in städtischen Gesellschaften" sowie eine zunehmende Individualisierung innerer Glaubensüberzeugungen beobachten.
  2. Entgegen zeitgenössischen Vorurteilen über ,,katholische Fremdbestimmung" verweist Dowe auf deutliche Grenzen ,,amtskirchlicher Durchsetzungsfähigkeit" und ein deutliches Selbstbewusstsein katholischer Laien. Gerade die Akademiker-, aber auch die Arbeiterschaft hätten sich ihre Weltsicht nicht kritiklos vorschreiben lassen, hätten sich vielmehr durch ein entspanntes Verhältnis zur Moderne, ,,eine nicht unkritische Offenheit gegenüber neuen Ansätzen" sowie eine Bereitschaft zu interkonfessionellem Engagement ausgezeichnet. Studierende wie Altherrenschaft seien für eine Öffnung gegenüber der protestantischen Mehrheitsgesellschaft und gegen einen Rückzug ins kulturelle Ghetto eingetreten. Spätestens hier wäre allerdings ein Bezug auf den Zentrumsabgeordneten und Journalisten Julius Bachem geboten gewesen, der mit seinem 1906 in den Historisch-politischen Blättern erschienenen Aufsatz ,,Wir müssen aus dem Turm heraus!" entscheidend zur Öffnungsdebatte im deutschen Katholizismus beigetragen hat.
  3. Vieles spricht auch für die Einschätzung des Verfassers, dass die insgesamt moderate Multiplikatoren- bzw. Vermittlerrolle der katholischen Akademikerschaft zur Voraussetzung gehabt habe, sich nicht direkt in die großen öffentlichen Kontroversen des Gewerkschafts-, Zentrums-, Literatur- oder Modernismusstreits hineinziehen zu lassen. Nur dadurch habe sie ihre moderate Reformbereitschaft ohne integralistisches Störfeuer artikulieren können.
  4. In Anknüpfung an Wilfried Loth betont Dowe, dass der Katholizismus in eine sich rasch wandelnde und differenzierende Gesellschaft eingebunden gewesen sei, was sich nicht zuletzt in zunehmender Heterogenität und einer Konkurrenz unterschiedlicher innerkatholischer Strömungen gezeigt habe. Schon deshalb könne nicht von einem eigenen katholischen Weg in die Moderne gesprochen werden, aber, so wäre einzuwenden, wohl doch von Annäherungen an die Moderne, die, wie immer sie im Einzelnen beschaffen gewesen sein mögen, doch allesamt katholisch gefärbt waren. Der Verfasser relativiert seine Aussage überdies durch den Hinweis, dass die meisten katholischen Gebildeten nahe beieinander liegende Positionen vertreten hätten. Erst die Folgen des Ersten Weltkrieges hätten diese ,,Einigkeit" aufgelöst.
  5. Parallelen zur Mehrheitsgesellschaft zeigen sich, wenn man nach der Verortung katholischer Studierender und Akademiker in den Universitäten und im Bildungsbürgertum des wilhelminischen Deutschland fragt. Katholische Bildungsbürger unterschieden sich von nichtkatholischen allenfalls durch ein religiös begründetes Autoritätsverständnis, durch die Ablehnung von Duell und Mensur oder den Kampf gegen das angelegentlich gepflegte Vorurteil, wahre Bildung und Wissenschaft blieben dem gläubigen Katholiken verschlossen. Ansonsten, so der Verfasser, seien bürgerliche Verhaltensformen oder Tugenden Allgemeingut gewesen. Schon eingangs wird Friedrich Schiller hierfür als Kronzeuge angeführt.
  6. Endlich seien beim ohnehin fragmentierten Verbindungswesen der Zeit auch katholische Studentenvereinigungen nichts Außergewöhnliches gewesen, im Selbstverständnis, im kulturellen Wissensbestand, in Habitus und Ritualen hätten sie sich als Teil des allgemeinen Verbindungswesens verstanden. Auch von daher äußert Dowe Skepsis über Olaf Blaschkes These von einem ,,zweiten konfessionellen Zeitalter" an den deutschen Universitäten. Immerhin verweist er auf starke antikatholische Vorbehalte in der Professorenschaft. Angesichts der umlaufenden Polemik, etwa auch im akademischen Kulturkampf kurz nach der Jahrhundertwende, bleibt aber wohl doch kritisch zu fragen, ob die antikatholischen Stimmungen tatsächlich nur latent vorhanden waren. Dass Dowe ein ,,eigene[s] Segment kirchentreuer Katholiken innerhalb des Bildungsbürgertums" betont, spricht jedenfalls für sich.

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Ungeachtet solcher kritischen Einwände sprechen die präzise Fragestellung der Arbeit, ihre klare Gliederung, der vertretbare Umfang, die ansprechende Diktion, auch die mustergültige formale Gestaltung und vor allem der reiche Ertrag für sich. Unpolemisch, nüchtern und sachbezogen, in kritisch-methodenbewusster Auswertung des Quellenmaterials und in kundiger Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur gelangt der Verfasser zu seinen Ergebnissen, ohne den Leser durch ein Übermaß an Theorie zu strapazieren oder mit überflüssigen Einzelheiten zu langweilen.

Im Übrigen zeigt sich einmal mehr, welch große Bedeutung dem konfessionellen Faktor für die Erschließung der innergesellschaftlichen Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich (und noch darüber hinaus) zukommt. Für einen künftigen interkonfessionellen Vergleich in der Bürgertumsforschung, auch für einen Vergleich der Katholiken mit anderen ausgegrenzten Minoritäten im Kaiserreich, etwa der sozialdemokratischen Arbeiterschaft oder den Polen, bei welch letzteren sich nationale und konfessionelle Aspekte des Selbstverständnisses überlagerten, bietet Dowes Studie mannigfache Anregungen. Seine Ergebnisse mit der parteipolitischen Ebene des Zentrums zu verknüpfen oder nach dem Generationsfaktor im deutschen Katholizismus zu fragen, der indessen erst nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches politisch relevant geworden sei, wären bereits zwei neue Dissertationsprojekte, die wichtige Aufschlüsse versprächen. So bereichert diese gelungene Studie nicht nur unsere Kenntnisse, sie regt auch zu weiteren Forschungen an. Das kann man nicht von jeder Dissertation behaupten.

Ulrich von Hehl, Leipzig


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