ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Aram Mattioli, Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935-1941. Mit einem Vorwort von Angelo Del Boca, (Kultur - Philosophie - Geschichte, Bd. 3), Orell Füssli Verlag, Zürich 2005, 239 S., kart., 32,80 €.

Am 3. Oktober 1935 überquerten italienische Truppen den Grenzfluss Mareb, um das einzige afrikanische Mitglied im Völkerbund Abessinien zu erobern. Seit 1895 hatte Italien versucht, seine Kolonialinteressen in Ostafrika auszuweiten. Trotz einer schweren militärischen Niederlage gegen Abessinien im Jahre 1896 wurden Somalia und Eritrea besetzt. Seit 1911 richtete sich der koloniale Blick zunächst auf Gebiete in Nordafrika - das heutige Libyen -, dessen für Abessinien beispielhaft brutale Eroberung (,,Schule der Gewalt", S. 54) Anfang 1932 beendet wurde. Im Mai 1936 proklamierte Mussolini das ,,Impero" und dokumentierte damit die Annexion Abessiniens.

Nur wenige deutschsprachige Historiker wie etwa Giulia Brogini Künzi, Michael Rademacher, Thomas Kacza oder Manfred Funke widmeten sich bisher diesem Spezialthema. Im kollektiven Gedächtnis taucht der Abessinienkrieg von 1935/36 - wenn überhaupt - allenfalls als einer der zahlreichen afrikanischen Kolonialkriege auf. Auch Aram Mattioli, Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Zürich, legt dar, dass mit dem Einmarsch italienischer Truppen in Abessinien ,,der letzte und größte koloniale Eroberungskrieg der Geschichte" (S. 14) begann. Er blickt allerdings über den Tellerrand der Kolonialgeschichte hinaus und bewertet die Kriegshandlungen und die italienische Besatzung bis 1941 in erweiterten Zusammenhängen. Denn lange vor Österreich und vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Abessinien zum ersten Opfer eines faschistischen Staates. Angelo Del Boca bekräftigt ebenso in seinem Vorwort, dass die These, der Zweite Weltkrieg habe 1935 in Abessinien mit dem Einmarsch der italienischen Truppen seinen Anfang genommen, alles andere als abwegig sei (S. 9).

Mattioli geht es in seiner klar durchstrukturierten und glänzend geschriebenen Studie aber vor allem darum aufzuzeigen, dass die Bedeutung des Abessinienkrieges darin liege, ein ,,Schlüsselereignis" für das ,,Katastrophenzeitalter" (Eric J. Hobsbawm) gewesen zu sein. Er begründet dies vierfach: Erstens handelte es sich um die größte internationale Krise seit dem Ersten Weltkrieg, zweitens um den ersten Großkrieg einer europäischen Macht in der Völkerbundära und drittens um die erste Machtdemonstration einer faschistischen Großmacht zur Eroberung von neuem ,,Lebensraum". Viertens lieferte die neue Dimension militärischer Gewalt ein Vorbild für die Vernichtungsstrategien während des Zweiten Weltkrieges: ,,Äthiopien wurde dadurch zu einem Experimentierfeld für die Kriege im industriellen Zeitalter überhaupt" (S. 190).

Im Kapitel ,,Vorgeschichte des Konflikts" (S. 23-73) beweist Mattioli, dass der Angriffskrieg nicht nur von langer Hand geplant war, sondern im Zusammenhang mit Italiens jahrzehntelangen Kolonialträumen in Nord- und Ostafrika zu sehen ist. Er diente jedoch auch ,,als Testfeld für spezifisch moderne Formen militärischer Gewalt" (S. 93) - Luftkrieg und Gaseinsatz -, die in ihrer Entgrenzung als ,,Massenkrieg" (S. 95) auch vor der Zivilbevölkerung nicht Halt machte. Es handelte sich um einen typischen faschistischen Krieg (S. 93). Mattioli gibt der Skrupellosigkeit der italienischen Militärs und den furchtbaren Auswirkungen für die Abessinier breiten Raum. Ähnlich katastrophale Folgen hatte es 1924-1926 auch im Rifkrieg gegeben, als aus Deutschland stammendes Giftgas, das die spanische Luftwaffe wahllos einsetzte, maßgebend zur Niederlage der um ihre ,,Rif-Republik" kämpfenden Berberbevölkerung beigetragen hatte. Kaiser Haile Selassies I. Brandrede gegen den italienischen Aggressor vor der Plenarversammlung des Völkerbundes am 30. Juni 1936 erinnert in ihren vergeblichen Auswirkungen an die Appelle der Rifkabylen, die in Genf ebenfalls kein Gehör gefunden hatten. Auch für dieses Mal konstatiert Mattioli angesichts der Passivität der Westmächte ein ,,Versagen des Völkerbundes" (S. 125) - mit fatalen Signalen für ,,Nachahmungstäter" wie Adolf Hitler, der noch während des Abessinienkrieges das entmilitarisierte Rheinland besetzen ließ.

Auch nach der Proklamation des ,,Impero" hörte die Gewalt in Abessinien nicht auf. Tausende Abessinier kamen durch ,,Verfolgungsterror und Besatzungsverbrechen" (S. 140-156) um, ein regelrechtes Apartheidsystem drangsalierte die schwarze Bevölkerungsmehrheit. Ähnlich wie im Fall des deutschen Krieges gegen die Herero Namibias wird auch hinsichtlich des Abessinienkrieges kontrovers darüber diskutiert, ob die entgrenzten Gewaltexzesse Italiens als Völkermord oder Genozid charakterisiert werden können. Für Mattioli ist die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen von 1948 zu eng ausgelegt, da sie zu sehr auf die Intention der systematischen Vernichtung abziele. Der genozidale Charakter des Abessinienkrieges liegt seines Erachtens bereits dadurch vor, dass der Tod Zehntausender - etwa durch die maßlosen Giftgaseinsätze - von Italien billigend in Kauf genommen oder die ,,vollständige Liquidierung unliebsamer Gruppen der äthiopischen Gesellschaft" gezielt betrieben wurde (S. 193). So gab es Vernichtungsbefehle u.a. gegen die Young Ethiopians, gegen Mönche des Klosters Debre Libanòs sowie gegen Weissager, Märchenerzähler und Zauberer von Addis Abeba. Mattioli schätzt, dass von 1935 bis 1941 durch die Kriegshandlungen und durch das Besatzungsregime zwischen 350.000 und 760.000 Abessinier ums Leben kamen. Mattioli plädiert daher für eine stärkere Verknüpfung der Genozidforschung mit der Geschichte der Kolonialverbrechen, da die Völkermorde des NS-Regimes auch ,,durch einen längeren Prozess der kumulativen Entgrenzung kriegerischer Gewalt in den Kolonien" (S. 17f.) vorbereitet worden seien.

Trotz des Einsatzes von italienischen Historikern wie Angelo Del Boca oder Giorgio Rochat ist eine intensive Auseinandersetzung Italiens mit der Kolonialvergangenheit notwendig. Im Kapitel ,,Die Verdrängung der Kolonialverbrechen" (S. 167-188) weist Mattioli nach, dass in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg - ausgehend von der verhinderten Aburteilung von Kriegsverbrechern - eine kollektive Selbstabsolution einsetzte, die den weitverbreiteten ,,Mythos vom anständigen Italiener" begründete. Diese Sicht lässt sich aufgrund der italienischen Verbrechen in Libyen, Äthiopien sowie auf dem Balkan auf keinen Fall mehr aufrecht erhalten. Die Debatte in Italien selbst wurde gerade erst eröffnet.

Angesichts dieser wichtigen Studie Mattiolis und des soeben mit Asfa-Wossen Asserate herausgegebenen Sammelbands (,,Der erste faschistische Vernichtungskrieg - Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935-1941, SH-Verlag, Köln 2006"), darf man auf die weitere Diskussion gespannt sein.

Dirk Sasse, Münster


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