Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Christoph Classen, Faschismus und Antifaschismus. Die nationalsozialistische Vergangenheit im ostdeutschen Hörfunk (1945-1953) (Zeithistorische Studien, Bd. 27), Böhlau Verlag, Köln etc. 2004, 384 S., geb., 44,90 €.
Mediengeschichte und Zeitgeschichte sind seit einigen Jahren durch vielseitige Studien miteinander verbunden worden, so auch durch das Buch von Christoph Classen. Darin wird die ostdeutsche Vergangenheitspolitik am Beispiel des Hörfunks analysiert. Im Mittelpunkt steht die Untersuchung zahlreicher Sendemanuskripte, die der Rubrik Politische Wortsendungen entstammen. Hinzu kommen einige literarische Hörspiele.
Der Autor behandelt zwei Zeitphasen: Während in der ersten Phase von 1945 bis 1948 die Spannbreite, innerhalb derer der Nationalsozialismus thematisiert wurde, zwar nicht offen, aber relativ breit war, verengte sich diese in der zweiten Phase zu eher starren ,Meistererzählungen'. Ein solcher Befund ist zwar im Kern nicht neu, wird aber in Classens Studie durch genaue und tiefgreifende Kontextanalysen der jeweils zeittypischen Erzählungen wesentlich angereichert.
Zu den Kontexten gehören nicht nur mediengeschichtliche Ausführungen, sondern auch Rückblicke auf Entstehung und Entwicklung des begrifflichen Konglomerats ,,Antifaschismus". Für Kommunisten bedeutete der Ausdruck sowohl eine theoretisch fundierte politische Leitdoktrin als auch eine praxisbezogene Kampfformel. Während der NS-Zeit trug bekanntlich die Komintern dafür Sorge, den antifaschistischen Kampf durch eine sogenannte Volksfrontpolitik abzustützen, in die nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch ,,Bürgerliche" eingeschlossen waren. Die Breite des antifaschistischen Kampfes wirkte sich nach 1945 auf diesbezügliche Erzählungen aus: So konzentrierten sich diese keineswegs auf den kommunistischen Widerstand, sondern umfassten mehr oder weniger auch die Kampf- und Verfolgungserfahrungen bürgerlicher Gruppen. Ziel war es, durch Reaktualisierung des vorgeblichen antifaschistischen Konsenses in der SBZ, Erfolge bei der gesellschaftsbezogenen Integrationspolitik zu erreichen. Im Mittelpunkt vieler Sendungen standen Berichte ehemaliger Häftlinge und die Exzesse sadistischer SS-Männer.
Das Gedenken an die Verfolgten, so der Autor, sei zu einer quasi-religiösen Verpflichtung stilisiert worden, und Dankbarkeit für die Befreiung der KZs habe man als Befreiung Deutschlands gedeutet. Mit Ausnahme der Kriminellen seien alle Häftlingsgruppen in den Erzählungen bedacht worden, wenngleich den Kommunisten die größte Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Der Massenmord an den Juden in Osteuropa sei hingegen kaum thematisiert und jüdische Identität kaschiert worden, so z.B. in der Rede von den ,,Bürgern der Sowjetunion". Eine klar erkennbare sowjetische Perspektive habe lediglich bei der Beschreibung des Krieges und der Kriegsverbrechen in Osteuropa dominiert. Die Deutschen wurden hier nicht nur als Verlierer, sondern auch als für den Krieg Verantwortliche dargestellt; den Einsatz für das Nationalkomitee habe man als Bekehrung angesehen; der Sowjetsieg habe als gerechter Sieg gegolten, und die sowjetische Militärregierung erschien als legitim.
In der zweiten Phase ab 1948 schob sich die bipolare Weltsicht mehr und mehr in den Vordergrund. Als Feindbild wurde das kriegsbereite Westdeutschland aufbereitet und mit der NS-Täterschaft verknüpft. Deshalb rückte der Zweite Weltkrieg in den Vordergrund der Erzählungen, wobei die neue Blockkonfrontation in die Vergangenheit transferiert wurde. Dem stand die ,,sozialistische Friedensliebe" und die Interpretation der DDR als ,,Friedenslager" gegenüber. Die Bilder dienten primär der Legitimation der Staatsgründung der DDR, weswegen nun vorrangig die durch die Nationalsozialisten verfolgten Kommunisten als Helden und Opfer sowie als Personifizierung des proletarischen Klassenkampfes gepriesen wurden. Verlierer dieser Gewichtsverschiebung waren die Sozialdemokraten und die bürgerlich-christlichen Gruppen. Auch führten die mit solcher Zielsetzung verbundenen Narrationen zu einer Entkronkretisierung der NS-Vergangenheit.
Bei all den überzeugend vorgetragenen Interpretationen der Sendungen fällt auf, dass Geschlechterperspektiven ausgespart werden. Zu wäre zu untersuchen gewesen, wie Frauen und Männer in den Erzählungen repräsentiert waren, welche Bilder über das Geschlechterverhältnis und die neu-alte Geschlechterordnung der DDR in solchen Erzählungen subkutan eingelassen waren, ob und gegebenenfalls wie die traditionelle Gleichsetzung ,der Juden' mit dem Femininen, dem Weiblich-Schwächlichen, in den Erzählungen nachwirkte.
Ohne sich Illusionen über die Aussagemöglichkeiten zu machen, geht Classen vorsichtig-operierend schließlich in einem eigenen Kapitel der Frage nach, wie solche Hörspiele im ostdeutschen Radio wohl auf die Bevölkerung gewirkt haben mögen, wobei auch hier die teilweise unterschiedlichen Erfahrungswelten von Männern und Frauen nicht thematisiert werden. Zuzustimmen ist dem Autor jedoch allemal, wenn er an verschiedenen Stellen darlegt, dass viele Erfahrungsdimensionen, Vergangenheitsdeutungen und Aversionen, etwa gegenüber Sowjetrussen, den offiziellen Erzählungen wiedersprachen und nicht einfach ,überschrieben' werden konnten. Auch gerieten die offiziösen Interpretationen der NS-Vergangenheit in Konflikt mit jenen Vergangenheitsdeutungen, die im ,,kommunikativen Gedächtnis", etwa in den Familien, aufbewahrt und gepflegt wurden. Hier erfuhr der Hörfunk seine Wirkungsgrenze als Massenmedium. Der Autor kann zudem plausibel machen, dass in den literarischen Texten mehr Anschlussmöglichkeiten (als in Politischen Wortsendungen) an das, was in der Bevölkerung gedacht wurde, gegeben waren; sowohl hinsichtlich des Opfer-Diskurses als auch der Verwendung von bestimmten Metaphern, wie die der Schiffbrüchigkeit und des Betriebsunfalls. Dabei konnte die Schuld vorrangig den Eliten der NS-Zeit zugeschoben und das ganze Geschehen als mythisch überhöhtes Schicksal begriffen werden. Rekurse auf scheinbar unbelastete deutsche humanistische Traditionen dienten als Kräftereservoir für die anstehende Erneuerung.
Doch damit sei, so der Autor, die Frage nach der Wirkungsmacht solcher Erzählungen noch nicht ausreichend beantwortet. Bei der kommunistischen Funktionselite sowie bei der jüngeren Generation, die begann, die wichtigen Positionen in Staat und Gesellschaft zu besetzen, mögen die Geschichten über den antifaschistischen Kampf tatsächlich als eine auf den neuen Staat gemünzte Sinndeutung verstanden und ihr Handeln durch die Einordnung in einen größeren historischen Zusammenhang erleichtert worden sein. Allerdings sei es laut Classen nicht gelungen, den bravourösen antifaschistischen Kampf dauerhaft als eine lebendige Erzählung in das ,,kulturelle Gedächtnis" der DDR-Bevölkerung zu überführen. Stattdessen gewannen in den entsprechenden Erzählungen im Laufe der Zeit immer mehr Floskelhaftes und Stereotypes die Oberhand. Es könne davon ausgegangen werden, dass die Bindekraft solcher Geschichtsdeutungen mit den Jahrzehnten eher ab- als zugenommen habe.
In einem Einführungskapitel thematisiert der Autor die Felder ,,Öffentlichkeit und Propaganda", ,,Politischer Mythos und symbolische Politik", ,,Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis", ferner ,,Faschismus und Antifaschismus als Diskurs" sowie ,,Geschichtskultur in der Moderne". In allen Bereichen erweist sich Classen als belesen, kompetent und erfahren genug, sein eigentliches Thema nicht aus den Augen zu verlieren. Weiterführend ist letztlich auch sein Schlussgedanke, die kontroverse Diskussion über die Kennzeichnung der DDR als ,,moderne Diktatur" durch die Kennzeichnung der ,,DDR in der Moderne" abzulösen. Dies könnte, lässt sich ergänzen, die Basis dafür schaffen, eine gesamtdeutsche Geschichte eines großen Teils des 20. Jahrhunderts zu schreiben - ohne die gravierenden Unterschiede zwischen den Regimen aus den Augen zu verlieren.
Insgesamt handelt es sich bei dieser Dissertation um eine überdurchschnittlich reflektierte, reichhaltige und gut geschriebene Studie, in der die Interpretationskraft des Autors voll zur Geltung kommt. Die Arbeit demonstriert am Beispiel der DDR, wie aussagekräftig die Untersuchung der Vergangenheitspolitik für die Analyse der jeweiligen Gegenwartsgesellschaft ist.
Adelheid von Saldern, Hannover