ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Günter Buchstab (Bearb.), Kiesinger: ,,Wir leben in einer veränderten Welt". Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1965-1969 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 50), Droste, Düsseldorf 2005, 1572 S., geb., 78,00 €.

Die CDU-Vorstandsprotokolle, die nunmehr bis 1969 ediert vorliegen, bieten für jegliche Erforschung der sechziger Jahre eine Fülle interessanter, aussagekräftiger und relevanter Quellen. Sie umfassen eben nicht nur Material für eine Politik- und Parteiengeschichte der Bundesrepublik, sondern eröffnen generell Blicke auf die Deutungsmuster des bürgerlichen Lagers in einer Umbruchsphase. Die Breite des Themenspektrums korrespondiert mit den zahlreichen Herausforderungen dieser Jahre. So umfassen die Protokolle etwa Diskussionen über die Studentenbewegung, die Notstandsgesetze, die Wahlerfolge der NPD, die Verjährung von NS-Verbrechen, die Große Koalition und den Umgang mit der SPD, den Beginn der neuen Ostpolitik und die CDU-Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen, die die Erosion des katholischen Milieus ankündigte. Auch wenn der Bundesvorstand kein echtes Entscheidungsgremium war, erlaubt er doch Aufschlüsse über die damaligen Wahrnehmungen.

Im Hinblick auf die Studentenbewegung artikulierten die CDU-Politiker zunächst durchaus auch Verständnis für die Forderungen der jungen Generation, bis die Gewalteskalation zu einer frontalen Ablehnung führte. Kritik erfolgte selbst daran, dass Rudi Kiesinger Dutschkes Frau ein ,,Beileidstelegramm" geschickt hatte (S. 880). Größeren Raum nahmen auch Debatten darüber ein, wie angesichts der studentischen Störaktionen überhaupt noch Wahlveranstaltungen abgehalten werden konnten. Gegenüber den NPD-Wählern setzte Kiesinger eher auf Verständnis, um diese wieder zur Union zu führen. Auffällig ist, welch große Beachtung der Umgang mit der NPD vor allem mit Blick auf Kommentare des Auslandes fand (etwa S. 1042), wogegen sich insbesondere Helmut Kohl wehrte.

Interessant sind die Debatten auch als Quelle, um politische Kommunikationsstrukturen zu untersuchen, zumal die Sitzungen zwischen 1965 und 1969 unter drei verschiedenen Vorsitzenden stattfanden. Nach dem Rücktritt des 89-jährigen Altkanzlers Adenauer 1966 übernahm zunächst Ludwig Erhard den Parteivorsitz, dann im folgenden Jahr Kiesinger. Die Protokolle zeigen ihre unterschiedlichen politischen Führungsstile. Sie dokumentieren die bis zum Schluss bestehende lenkende Präsenz Adenauers und verdeutlichen Erhards Unfähigkeit, sich klar zu positionieren und den Sitzungen eine Struktur zu geben. Selbst nach dem Wahlverlust in NRW 1966 griff Erhard nicht in die Debatten ein. Kiesinger zeigte zwar mehr kommunikative Präsenz, blieb aber im Vergleich zu Adenauer ebenfalls zurückhaltend. Mitunter startete er mit langen Lageberichten, und oft überließ er den einführenden Bericht anderen. Insbesondere Generalsekretär Bruno Heck übernahm hier die organisatorische Leitung, so dass Kiesinger zu Beginn der Sitzung vom 3. November 1968 sogar fragte: ,,Was haben wir für eine Tagesordnung heute, Herr Dr. Heck?"

Schließlich geben die Protokolle, stärker noch als die Bände vor 1965, einen guten Einblick in die Binnenorganisation der Partei. Im Führungsorgan der CDU wurden nun offener und ausführlicher Fragen angesprochen, die vorher eher in informellen Parteizirkeln debattiert wurden. Das gilt für die Organisation von Wahlkämpfen, aber selbst für die Aufstellung der Parteifinanzen.

Die Kommentierung der Bände ist vergleichsweise zurückhaltend gestaltet und beschränkt sich auf einzelne biographische Angaben und Ereignisse. Die Hinweise auf weiterführende Literatur zu den diskutierten Themen fallen überraschend knapp aus bzw. fehlen vielfach ganz. Entsprechend kurz und selektiv ist auch das Literaturverzeichnis der benutzten Bücher und Artikel. Das Register ermöglicht den schnellen Zugriff auf die Protokolle, allerdings empfiehlt sich bei der Benutzung eine darüber hinaus gehende Suche. Wer sich etwa für die NPD interessiert, würde anderenfalls Teile der umfangreichen Diskussion nach deren Erfolg in Baden-Württemberg übersehen (S. 849-853, S. 857-864).

Frank Bösch, Bochum


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | 06. November 2006