ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Anita Ziegerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Böhlau Verlag, Wien etc. 2004, 587 S, geb., 69 €.

Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi (1894-1972), Sohn eines österreichischen Diplomaten mit Vorfahren aus mehreren europäischen Nationen und einer Japanerin, nach der Auflösung der Donaumonarchie tschechoslowakischer Staatsbürger, hat sich zwischen den Weltkriegen unermüdlich gemüht, durch Propaganda ein Bewusstsein für die prinzipielle Notwendigkeit der politischen Einigung Europas zu schaffen. Er gründete 1923 die "Pan-Europäische Union", die von allen damals für engere europäische Kooperation plädierenden Organisationen am entschiedensten für die politische Einigung Kontinentaleuropas -ausdrücklich ohne England und ohne Sowjetrussland - eintrat, nicht nur für wirtschaftliche Zusammenarbeit oder eine Zollunion. Als sich der französische Ministerpräsident Aristide Briand am 5. September 1929 vor der Vollversammlung des Völkerbundes in Genf für ein föderatives Band ("une sorte de lien fédéral") zwischen den europäischen Völkern aussprach und seine Vorstellungen in dem Europa-Memorandum der französischen Regierung vom 1. Mai 1930 präzisierte (nach dem Urteil Coudenhove-Kalergis leider verwässerte), war der Gipfel aller Bemühungen in der Zwischenkriegszeit erreicht, zu einer europäischen Einigung zu gelangen. Briands Initiative ist bekanntlich erfolglos geblieben, und durch Hitlers Machtergreifung wurde der Idee für das nächste Dezennium jede reale Grundlage entzogen. Coudenhove-Kalergi aber setzte seine paneuropäische Propaganda trotz der verschlechterten Rahmenbedingungen mit modifizierten Akzenten fort, bis er nach dem "Anschluß" Österreichs an das Dritte Reich 1938 zur Emigration in die USA gezwungen war.

Sich nach dem Ersten Weltkrieg für Europas Einigung einzusetzen, hieß den Kampf aufnehmen mit dem Nationalismus, der nach dem Kollaps der drei übernationalen Großmächte Russland, Habsburg und Osman in Ostmitteleuropa unter Berufung auf Woodrow Wilsons Schlagwort Tausende Kilometer neue Grenzen gezogen hatte und im geschlagenen Deutschland gegen den Versailler Vertrag aufbegehrte. In Anerkennung seines Einsatzes für die europäische Einigung wurde Coudenhove-Kalergi 1950 als erster mit dem Karlspreis der Stadt Aachen ausgezeichnet. Andererseits finden sich in seiner Publizistik verschiedene irritierende Ansichten, die mit jenem sympathischen Streben kontrastieren. Eine eingehende monografische Untersuchung der Paneuropa-Bewegung ist eine lohnende Aufgabe.

Anliegen der Autorin dieser anzuzeigenden Grazer Habilitationsschrift ist es, die Geschichte der Paneuropa-Bewegung "umfassend und unter Berücksichtigung [...] der von Coudenhove vorgegebenen Trias 'politisch-wirtschaftlich-kulturell' zu rekonstruieren" (S. 13). Darüber hinaus möchte sie einen Beitrag zur Ausbildung des Europabewusstseins innerhalb der gegenwärtigen Europäischen Union leisten. Ihr Ansatz ist erklärtermaßen politikgeschichtlich und ideengeschichtlich. Obwohl der Untertitel zwei Brennpunkte bezeichnet, steht die Person Coudenhove-Kalergis im Zentrum der Untersuchung. Von der Sache her ist das vertretbar: Die Satzung der "Paneuropäischen Union" war so sehr auf die Person ihres Präsidenten Coudenhove zugeschnitten, die Bewegung wurde von ihm so stark dominiert, dass sich neben ihm kein Mitstreiter mit eigenem Gewicht zu profilieren vermochte. Aus arbeitsökonomischen Gründen wurde darauf verzichtet, die Tätigkeit der einzelnen Länderorganisationen in die Untersuchung einzubeziehen, nur die in Österreich und Deutschland werden gelegentlich kurz in den Blick genommen.

Der größte Teil der ausgewerteten Quellen stammt von Coudenhove: Mehrere Bücher, seine Aufsätze in seiner Monatsschrift "Pan-Europa", Reden, die von interessierten Zeitungen referiert wurden. Überdies hat die Autorin das Archiv des Hauptbüros der Union, das von der Gestapo 1938 beschlagnahmt und am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Moskau verbracht worden war, heranziehen können. Die Quellenbasis konnte so durch unveröffentlichten Korrespondenzen und Akten erweitert werden.

Den Hauptteil des Buches bilden fünf große Kapitel (VI bis X). Vorangestellt sind die notwendigen Angaben zur Quellenlage (III), zum Forschungsstand, in den auch einige Eindrücke von Zeitgenossen über die Persönlichkeit Coudenhoves einbezogen sind (IV), und ein "biografischer Teil" (V) von 30 Seiten. Hier findet man Mitteilungen über Herkunft und Werdegang Coudenhoves, zu seiner Gemahlin, zu seinen philosophischen Studien. Über seine Tätigkeit nach 1938 wird nicht mehr berichtet. Die Skizze beruht zum größeren Teil auf den Memoiren des Grafen, ergänzend wurden einige Akten der Universität Wien sowie ein paar Elogen von Freunden herangezogen.

Im ersten Kapitel des Hauptteils (VI) werden zunächst die Grundgedanken Coudenhoves zur europäischen Einigung referiert, die er ausführlich in seinem im Herbst 1923 in deutscher Sprache erschienenen Buch "Pan-Europa" dargelegt hat und alsdann in programmartig formulierten Manifesten und öffentlichen Appellen an leitende Politiker zu popularisieren suchte; die Verfasserin geht dabei auch auf Vorstufen in einzelnen Zeitungsaufsätzen und spätere Modifizierungen ein. Sodann verfolgt sie Coudenhoves Bemühungen, eine internationale Organisation aufzubauen und die dafür notwendigen finanziellen Mittel zu erlangen. Da sie sich hierzu auf die Akten des Zentralbüros stützen kann, erfährt man mancherlei Neues. Angeschlossen ist die Charakterisierung der Zeitschrift "Pan-Europa", des persönlichen Propaganda-Organs des Grafen. Nützlich ist, dass die Autorin im Anhang sämtliche von Coudenhove verfassten Beiträge zu seiner Zeitschrift heftweise aufgelistet hat.

Das sehr umfangreiche Kapitel "Das 'politische' Paneuropa" (VII) ist chronologisch angelegt. Die Verfasserin unterscheidet drei Phasen, mit Zäsuren Mitte 1930 (Publizierung des französischen Europamemorandums) und Ende 1933 (ohne präzise Fixierung auf ein Ereignis). Sie behandelt die Reaktionen Coudenhoves auf die politische Entwicklung in Europa - in aller Regel nur die seinigen; Diskussionen innerhalb der Organisation fanden anscheinend kaum statt, oder sie sind nicht zu fassen? Sie beschreibt seine diversen Unternehmungen und Vorschläge: Rundfragen bei Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zum Gedanken der europäischen Einigung; die vier Paneuropa-Kongresse (1926, 1930, 1932, 1935); die Aktivitäten anläßlich der Initiative Briands; Coudenhoves Bejahung des verfehlten deutsch-österreichischen Zollunionsplans (1931); seine Bemühungen, führende österreichische Politiker für seine Vorstellungen zu erwärmen, was dazu führte, dass er nach 1934 die Politik der Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und Kurt von Schuschnigg befürwortete; den parallelen Versuch, Mussolinis Interesse zu gewinnen - eines von mehreren Beispielen für gravierende politische Fehleinschätzungen Coudenhoves; auch seine zwiespältige Kommentierung des Überfalls auf Abbessinien gehört dazu. Der Preis für die Fokussierung auf die Person Coudenhove-Kalergi ist der Verzicht auf eingehende Analysen der Beiträge anderer Redner auf den Kongressen sowie der gründlichen Ausschluss von Awertungen der Antworten und des auf die verschiedenen Umfragen reagierenden Personenkreises; Auch bei Coudenhoves "Entwurf für einen paneuropäischen Pakt" (Anfang 1930), mit dem er Briand treiben wollte, zum "Großen Sprung" anzusetzen, begnügt die Autorin sich leider mit einem referierenden vergleichenden Überblick über Parallelen und Unterschiede der beiden Papiere.

Das Kapitel "Das 'wirtschaftliche' Paneuropa" (VIII) soll die Frage beantworten, welche Möglichkeiten Coudenhove sah, Europa wirtschaftlich zusammenzuführen, und welche Strategien er empfahl, um die drängenden Wirtschaftsprobleme der Zeit zu bewältigen. Jedoch war die Wirtschaft nicht das Feld des Grafen, so dass in diesem Kapitel einige andere Protagonisten Paneuropas zu berücksichtigen waren: so der französische Ökonom Francis Delaisi, der schon 1926 auf dem ersten Paneuropa-Kongreß den gemeinsamen Markt und die Währungsunion postuliert hat, und der österreichische Journalist Otto Deutsch (m.E. hätten die Überlegungen dieser Herren und einiger anderer eingehender behandelt werden müssen). Sehr ausführlich beschreibt die Verfasserin die nach 1933 nicht nachlassenden Aktivitäten Coudenhoves, Kongresse zu organisieren, auf denen europäische Wirtschaftsfragen erörtert werden sollten und für die er immer wieder genügend Interessenten und (auch staatliche) Geldgeber fand. Über die inhaltlichen Schwerpunkte der Diskussionen auf diesen Konferenzen erfährt man wiederum selten mehr als das Programm und die Referenten sowie abschließende Resolutionen, so dass man versucht ist zu glauben, die Autorin teile die Meinung Coudenhoves, "daß nicht die Ergebnisse für den Verlauf der Konferenz wichtig seien, sondern vielmehr die Tatsache, daß die einzelnen Kommissionen ständig tagen werden" (S. 297).

Im Kapitel über das "geistig-kulturelle" Paneuropa (IX) liegt der zeitliche Schwerpunkt in den 1930er Jahren, da Coudenhove erst nachdem sich die politische und die wirtschaftliche Einigung Europas als bis auf weiteres nicht realisierbar erwiesen hatten, den kulturellen Bereich als "Rettungsanker für ein vereintes Europa" betrachtet habe (S. 17). Gegenstand sind seine Aktivitäten, zur Schaffung eines Europabewusstseins beizutragen: wiederum durch mehrere Tagungen, durch neue Umfragen, darunter eine unter Geografie-Professoren über die Verortung der Ostgrenze Europas, durch Vorschläge, eine europäische "Hauptstadt" (Wien), einen "Europatag" (17. Mai), eine "europäische Akademie" zu stiften. In Unterabschnitten werden ferner seine Überlegungen, die Jugend für Europa zu gewinnen, und der Anteil von Frauen an der Paneuropabewegung besprochen. Dieser Abschnitt hätte vielleicht besser in Kapitel VI untergebracht werden sollen, in dem auch Angaben darüber, welche Persönlichkeiten aus Politik und Kultur mit der Bewegung sympathisiert haben, sinnvoll gewesen wären.

Im letzten Kapitel des Hauptteils: "Paneuropa im Diskurs mit den Ideologien und geistigen Strömungen der Zwischenkriegszeit" will die Verfasserin die Auseinandersetzung Coudenhoves (wiederum nicht der Gesamtorganisation) mit Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus, aber auch seine Einstellung zu Demokratie und Nation sowie sein Verhältnis zum Völkerbund untersuchen. Da die Positionen des Grafen keineswegs immer eindeutig und konzis waren, ist dies ein sehr wichtiger, ja notwendiger Teil der Arbeit. Den Bolschewismus lehnte Coudenhove entschieden ab. Vor dem Nationalsozialismus warnte er früh und ohne Schwanken. Dagegen war seine Einstellung zur modernen Demokratie widersprüchlich, weil sie mit seinem Ideal einer neoaristokratischen Gesellschaft, in der eine geistige Elite (zu der er sich selbst rechnete) zur Führung berufen wäre, nicht kongruierte. Daraus resultierte seine positive Beurteilung Benito Mussolinis und des italienischen Faschismus; ein peinliches Fehlurteil, das auch nicht durch die Erklärung, Coudenhove habe sich um seines paneuropäischen Ziels willen strikte innenpolitische Neutralität verordnet, plausibel begründen werden kann. Sein "Paneuropa" bot er als Alternativ-Bewegung zwischen Internationalismus und Nationalismus an. Nach 1933 bemühte er sich komplementär zu seinen sonstigen Aktivitäten, einen positiv besetzten österreichischen Nationalismus zu propagieren zwecks Abwehr der Anschlussbestrebungen seitens österreichischer und deutscher Nationalsozialisten; das führte ihn dazu, den autoritären, antidemokratischen Kurs von Dollfuß zu bejahen. Dem Völkerbund stand Coudenhove sehr kritisch, ja negativ gegenüber, er sah in ihm eigentlich ein Hindernis für "Paneuropa", fühlte sich von dessen Generalsekretariat auch zu wenig ernstgenommen und unterstützt.

In diesem Kapitel begegnet dem Leser endlich auch bislang Vernachlässgtes: einige Ansätze zu mehr oder weniger deutlicher kritischer Bewertung und Distanzierung von bestimmten Positionen Coudenhoves. Die übergroße Zurückhaltung der Autorin in dieser Hinsicht findet in der Schlussbilanz eine eigentümliche Erklärung: "Hier soll der Mythos 'Coudenhove-Kalergi und Paneuropa' nicht demontiert werden" (S. 502). Gleichwohl: Warum bleibt Coudenhoves imperialistische Vereinnahmung des afrikanischen Kontinents als Rohstoffbasis für "Paneuropa" ohne Kommentierung, warum wird sein arroganter Überlegenheitsanspruch gegenüber den afrikanischen Völkern (Europas Beziehung zu Afrika südlich der Sahara müsse auf "Herrschaft, Erziehung und Führung" aufgebaut bleiben, nicht auf "Gleichberechtigung", denn das "entspricht der Ungleichheit der Menschenrassen" so in Paneuropa, 5. Jg. H.2, S. 5) nicht einmal erwähnt? Immerhin findet man das Urteil, er habe eine "teilweise ebenfalls ungeheuerliche Rassentheorie" gehabt (S. 422); deren wirre Bestandteile nachvollziehbar zu machen, ist ein wenig lohnendes Unterfangen. Warum werden seine Verfassungsvorstellungen nicht eingehend erörtert, damit deutlich würde, wie wenig ausgegoren sie teilweise waren, so z.B. sein allzu kleines europäisches Parlament? Falsch ist übrigens die Behauptung (S. 159, Anm. 703), im "Entwurf für einen paneuropäischen Pakt" habe Coudenhove Österreich weder im Bundesrat noch in der Bundesversammlung einen Sitz zuerkannt. Als Staat mit einer Einwohnerzahl zwischen 1 und 10 Millionen hätte Österreich in letzterer zwei Delegierte stellen können, im Bundesrat sollten alle Regierungen (außer den Staaten unter 100000 Einwohnern) einen Vertreter haben. (1)

In der gesamten Durchführung überwiegt eine deskriptive vereinzelt saloppe Berichterstattung mit der Anführung von Äußerlichkeiten und schlichten Inhaltswiedergaben der Äußerungen Coudenhoves. Da es sich bei der großen Mehrzahl nur um publizistisches Feuerwerk handelt, wäre es umso wichtiger, diejenigen Abhandlungen gründlich zu analysieren, in denen er seine Grundgedanken entfaltet, bemerkenswerte - zutreffende oder irrige - Einschätzungen und Prognosen abgibt oder konkrete Vorschläge zur Gestaltung "Paneuropas" unterbreitet. Es wäre sinnvoll und berechtigt gewesen, die chronologische Abfolge abschnittsweise preiszugeben zugunsten zusammenfassender Betrachtungen, weil der Graf zu allen möglichen politischen Ereignissen und Problemen Stellung nahm, bei denen er eine Anknüpfungsmöglichkeit zur Propagierung von "Paneuropa" zu erkennen meinte, und weil er außerdem seine Grundgedanken ständig wiederholte. Auch sonst wird Wichtiges und Nebensächliches oft nicht ausreichend hierarchisiert. Die Verfasserin bezeichnet als eines ihrer Anliegen, die Bedeutung der Gemahlin Coudenhoves zu würdigen - warum auch nicht - was sie dazu beitragen kann, führt allerdings nur wenig weiter. Mussten die Bemühungen, Büroräume in der Hofburg zu bekommen, mehrmals erwähnt werden? Die Absicht Coudenhoves, eine europäische Partei zu gründen, wird dreimal angekündigt, bevor man endlich erfährt, in welchem Lande er das tun und mit wem er dafür zusammenarbeiten wollte.

Bedenklich ist ferner, dass die Autorin sich nirgends zu kritischen Überlegungen hinsichtlich der Aussagekraft ihrer Quellen veranlasst sieht. Unbefangen übernimmt sie in vielen Fällen spätere Wertungen aus Coudenhoves Erinnerungsbüchern, ohne sie mit seinen früheren Äußerungen zu konfrontieren, ja sie benutzt die Memoiren manchmal ohne jeden kritischen Vorbehalt zum Ausfüllen von Lücken.

Betrüblich ist die stellenweise nachlässige sprachliche Gestaltung. Der Einsatz des Konjunktivs in der indirekten Rede scheint einer gewissen Beliebigkeit zu unterliegen. Umgangssprachliche Ausdrücke wie "egal" oder "schlussfolgern" sowie das unsinnig-tautologische "schlussendlich" finden sich mehrmals; sogar das grausliche "sich outen" ist schon hoffähig. "Heilner [...] war politisch sehr rechts und kapitalistisch eingestellt" (S. 111) - von einer sich habilitierenden Historikerin darf man doch wohl eine präzisere Ausdrucksweise erwarten.

Ernst Laubach, Münster


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