ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900-1970 (Ordnungssysteme, Bd. 16), Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2005, 486 S., geb., 64,80 €.

,,Die Verfassungsgeschichte gilt als ein etablierter Zweig der Geschichtswissenschaft." So urteilte vor mehr als zwanzig Jahren einer der renommiertesten Kenner der Materie, Hans Boldt, über ein Fach, das sich im Grenzbereich mindestens dreier Wissenschaften bewegt, der Rechts-, Politik- und eben auch der Geschichtswissenschaft. Boldts Deutung der Verfassungsgeschichte im Sinne einer politikwissenschaftlich inspirierten Geschichte der Regierungssysteme ist jedoch bis heute nicht unumstritten, wie beispielhaft die Einleitungen in aktuellen thematischen Standardwerken von Dietmar Willoweit oder Heinz Duchhardt zeigen.

Vor dem Hintergrund dieser uneinheitlichen Auffassung über fachliche Inhalte wie Grenzen untersucht Ewald Grothe in seiner 2003 an der Bergischen Universität Wuppertal angenommenen und nun in überarbeiteter Form vorliegenden Habilitationsschrift die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung des Faches in Deutschland. Ausgehend von einer instruktiven Einleitung, in der er zu den terminologischen und methodischen Grundlagen seiner Untersuchung Stellung nimmt, spürt Grothe zunächst den Wurzeln der Verfassungsgeschichtsschreibung in der Frühen Neuzeit nach. Die anschließende, chronologisch angelegte Schilderung deutscher Verfassungshistoriographie seit 1900 bis etwa 1970 orientiert sich in ihrem Aufbau an den die deutsche Geschichte jenes Zeitraumes bestimmenden politischen Systemen, also Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Nachkriegsdeutschland, wobei die DDR nur marginal behandelt wird.

Die drei großen ,,H" deutscher Verfassungsgeschichte der ersten Jahrhunderthälfte ziehen sich dabei wie rote Fäden durch die deshalb bisweilen etwas redundant wirkende Darstellung; gemeint sind die Verfassungshistoriker Otto Hintze, Fritz Hartung und Ernst Rudolf Huber, die für vorherrschende Kontinuitäten, aber auch spürbare Zäsuren in der Fachentwicklung stehen. Auf Basis eines eindrucksvollen Quellencorpus gelingt es Grothe, nicht nur diverse personelle Verflechtungen aufzuzeigen, sondern vor allem das Selbstverständnis der jeweiligen Verfassungshistorikergeneration in Bezug zu den zeitgenössischen politisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen zu setzen. Dadurch entsteht ein äußerst facettenreiches Bild einer Disziplin, die über weite Strecken des 20. Jahrhunderts nicht nur institutionell ihren Platz zwischen Geschichts- und Rechtswissenschaft finden und behaupten musste, sondern darüber hinaus auch den herrschenden Vorstellungen von Staat und Gesellschaft in eher konservativer Deutung entsprach: Die innovativen, typologischen Ansätze Otto Hintzes im Stile einer vergleichenden europäischen Verfassungsgeschichte zu Jahrhundertbeginn versandeten im Kontext einer nach 1918 verunsicherten (Verfassungs-) Geschichtswissenschaft und wurden erst spät, genauer genommen seit den 1960er Jahren im Umfeld bundesrepublikanischer Struktur- und Sozialgeschichte, wiederentdeckt. Statt dessen setzte sich für die kommenden Jahrzehnte die noch am Vorabend des Ersten Weltkrieges entstandene Darstellung des Hintze-Schülers Fritz Hartung durch, die zwar in methodischer Hinsicht deutlich hinter die Leistungen Hintzes zurückfiel, aber dennoch aufgrund ihrer kenntnisreichen Beschreibung der deutschen Verfassungsgeschichte in Verbindung von statischen und dynamischen Elementen Maßstäbe setzte, gerade im Vergleich zu meist eher deskriptiven rechtsgeschichtlichen Abhandlungen.

Einen deutlichen Aufschwung erfuhr die Verfassungsgeschichte dann im Kontext nationalsozialistischer Herrschaft und der von ihr bewirkten Ideologisierung der Geisteswissenschaften. Grothe gelingt es überzeugend und eindrücklich, im mit 145 Seiten umfangreichsten Kapitel die vielschichtige Instrumentalisierung und Neuausrichtung des Faches nach 1933 deutlich zu machen, die vor allem mit dem Aufstieg eines Mannes verbunden ist: Ernst Rudolf Huber. Sehr anschaulich beschreibt Grothe die ,,neuen Wege" der Verfassungsgeschichtsschreibung in ihren begrifflichen Ausprägungen wie historischen Deutungen, aber auch die fachlichen Kontroversen in einer keinesfalls völlig ,,gleichgeschalteten" Wissenschaft, in der traditionell konservative, klein- wie gesamtdeutsch eingestellte Fachvertreter neben nationalsozialistischen Ideologen agierten. Der Carl Schmitt-Schüler Huber bildete dabei gleichfalls den Schnittpunkt beider Strömungen, wobei das National- und Machtstaatsmodell selbstverständliche Schablone für die Beschreibung der Vergangenheit war sowie - gerade bei Huber - ein ,,totaler", d.h. alle Lebensbereiche umfassender, überpositivistischer Verfassungsbegriff zunehmend an Bedeutung gewann.

Neben den äußerst spannend und flüssig zu lesenden Passagen zu den einzelnen Wissenschaftlerbiographien sind es insbesondere diese Befunde, die den Leser zum Nachdenken anregen: Berücksichtigt man beispielsweise, dass Hubers voluminöses Nachkriegswerk ,,Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789" bis heute in Forschung wie Lehre allein schon ob seiner ungeheuren Materialfülle, jedoch auch wegen seines scharfsinnigen, juristisch geprägten Darstellungs- und Urteilstils gängige Literaturempfehlung ist, so wird man nach der Lektüre von Grothes Arbeit sicherlich Hubers Leistungen und Verdienste um die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung deutlich kritischer als bisher zu bewerten haben. Das metaphysische Ordnungsdenken des Juristen Huber, der in der Weimarer Republik den autoritären Staat in den Vordergrund stellte, wurde in der NS-Zeit zum völkisch verklärten Nationalismus in der Tradition einer Reichsidee mit universeller Geltung, um nach 1945 - als ,,Verfassungsgeschichte" etikettiert - in einer umfassenden Volks- und Staatsgeschichte zu enden. Analog zu Otto Brunner, zeigt sich auch bei Huber, dass das Ordnungs- und Ganzheitsdenken nach 1945 weiterhin konstitutiv für den wissenschaftlichen Ansatz blieb, bei gleichzeitigem Fortbestand vieler Begrifflichkeiten und methodischer Versatzstücke aus einer keinesfalls rühmlichen Vergangenheit, die somit bis heute ihre Wirkung entfaltet.

Aber auch für die eingangs skizzierte Diskussion um die Positionierung und das Selbstverständnis des Faches ,,Verfassungsgeschichte" liefert Grothe angesichts vielfach fließender Grenzen, etwa zur traditionellen politischen Historiographie wie zur Rechtsgeschichte, interessante Denkanstöße: Seit jeher im Spannungsfeld verschiedener Fächer mit jeweils unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen gelegen, scheint die Verfassungsgeschichte - abseits ideologisch bedingter ,,Konjunkturen" - vor allem dann ein eigenständiges Profil zu entwickeln und entsprechend positiv wahrgenommen zu werden, wenn sie über den eigenen ,,Tellerrand" schaut und ausgehend von einem festen, historischen Fundament im Sinne Hans Boldts sich offen gegenüber - auch fachfremden - Impulsen zeigt.

Edgar Liebmann, Hagen


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