ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Sean Dobson, Authority and Upheaval in Leipzig, 1910-1920. The Story of a Relationship, Columbia University Press, New York 2001, geb., 476 + XVI S., 51,10 €

Sachsen war das Herzland der deutschen Arbeiterbewegung, die Wirtschaftsmetropole Leipzig eine ihrer Keimzellen. Hier gründete Lassalle den ADAV, von hier aus wirkten Bebel und Liebknecht. Im wilhelminischen Reich war Leipzig die Hochburg des linken Flügels der Arbeiterbewegung. Seiner in SPD und Freien Gewerkschaften gut organisierten Arbeiterschaft stand ein differenziertes und selbstbewusstes Bürgertum gegenüber. Es liegt daher nahe, Leipzig zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, die über Organisations- und Politikgeschichte hinaus den Machtgewinn und das relative Scheitern der Arbeiterbewegung in den Revolutionsjahren 1918-20 auch aus ihrem Verhältnis zum Bürgertum erklären will. Zudem ist es sinnvoll, dass Sean Dobson in der Druckfassung seiner Dissertation weiter zurückgreift und auch die politischen Konstellationen und Konflikte im wilhelminischen Reich und im Ersten Weltkrieg eingehend würdigt. Es ist allerdings nicht die Absicht seiner Studie, die Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der Leipziger Arbeiterbewegungsgeschichte im deutschen Vergleich möglichst differenziert darzustellen. Vielmehr will er, eher einem gegenwartsorientierten Konzept sozialer Bewegungen als einem marxistischen Revolutionskonzept folgend, am Beispiel der sächsischen Metropole herausarbeiten, welche Chancen zu weitreichenden Veränderungen auch der radikalere Teil der Arbeiterbewegung in den Revolutionsjahren 1918-20 ungenutzt ließ. Das verleiht seiner Studie im ganzen einen etwas schematischen Charakter und so wird ihr reichhaltiges Quellenmaterial nicht adäquat ausgeschöpft.

Dobson umgeht die klassische Frage nach Konstituierung und Umfang einer politisch bewussten Arbeiterklasse unter Hinweis auf den empirischen Befund, dass die Revolution von 1918-20 von der Leipziger Lohnarbeiterschaft insgesamt getragen worden sei. Im Zentrum seiner Untersuchung stehen die Machtbeziehungen zwischen dieser Lohnarbeiterschaft und den ,,nonworkers", wie Dobson, wenig glücklich, die Gesamtheit aller bürgerlichen Gruppen bezeichnet. Die bis 1914 auf sozialer Distanz, ökonomischem und politischen Machtgefälle ruhende Herrschaft (,,authority") des Bürgertums, so die Argumentationslinie der Studie, sei unter dem Druck von militärischer Lage und materiellen Lebensbedingungen während des Krieges allmählich erodiert und habe Ende 1918 zu einer offenen Situation geführt, in der die revolutionäre Bewegung der Arbeiter die Fundamente für eine stabile Demokratie und größeren Einfluss in den Betrieben hätte legen können, wenn sie von den Unabhängigen Sozialdemokraten der Stadt nur zielstrebig genug geführt worden wäre.

Diese Argumentation wird in drei großen, der vertrauten Chronologie folgenden Kapiteln entfaltet, wobei der Verfasser sich auf eine breite Quellenbasis stützt, die Akten aus den lokalen und regionalen Archiven ebenso einschließt wie die lokale Presse und Lebenserinnerungen führender Politiker, insbesondere des 1919/20 eine zentrale Rolle spielenden USPD-Führers Curt Geyer. Die Forschungsliteratur wird umfassend herangezogen, wobei allerdings einige empfindliche Lücken auffallen; so fehlen die Sammelbände von Bramke und Heß zu Sachsen und Mitteldeutschland, Aufsätze von Jim Retallack und die möglicherweise für den Druck zu spät erschienene (1999) Studie von Adam zur Leipziger Arbeiterbewegung 1871-1933. Im ganzen fasst Dobson die zentralen Befunde der Forschung zur Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung im wilhelminischen Reich, zu den wachsenden sozialen und innenpolitischen Spannungen im Verlauf des Ersten Weltkriegs und zu den Weichenstellungen nach 1918 angemessen zusammen. Nicht zutreffend ist jedoch seine Kritik an Gerhard A. Ritter und Klaus Tenfelde, denen er vorhält, sie hätten behauptet, die Arbeiterschaft sei im wilhelminischen Reich dank einer großzügigen Sozialpolitik weitgehend in die herrschende Ordnung integriert gewesen. Dobson ignoriert, dass Ritter und Tenfelde gerade die Spannung zwischen gesellschaftlicher und politischer Integration hervorheben und baut einen Popanz auf, damit er seine eigene These von der tiefgreifenden Entfremdung und revolutionären Grundstimmung der Leipziger Arbeiterschaft umso deutlicher markieren kann. Die Wirkungen der Sozialpolitik misst er selbst allerdings nur mit dem sehr engen Kriterium des verfügbaren Einkommens und geht damit etwa an den nicht so leicht messbaren Resultaten besserer medizinischer Versorgung vorbei, während als Beleg für die radikale Grundstimmung der Arbeiterschaft vor 1914 nicht viel mehr angeführt wird als eine den Direktiven der Parteiführung zuwiderlaufende Wahlrechtsdemonstration der Parteibasis in der Protestbewegung des Jahres 1905. Gerne hätte man hier mehr über die Stimmungen und Einstellungen der Arbeiter in einzelnen Branchen und vor allem auf Betriebsebene erfahren, doch darüber sagt der Verfasser, abgesehen von knappen Hinweisen zu Unterschieden zwischen dem öffentlich Sektor und der Privatwirtschaft, auch in den anderen Kapiteln seiner Studie sehr wenig.

Gleichwohl wird die soziale und politische Distanz zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum in der Vorkriegszeit anhand eines breiten Spektrums von Faktoren wie den Verwandtschaftsbeziehungen, den Einkommensunterschieden und der Frontstellung aller bürgerlichen Parteien gegenüber der SPD gut herausgearbeitet. Die russische Generalmobilmachung ließ im August 1914 dann aber auch die Leipziger Arbeiterschaft den deutschen Kriegseintritt unterstützen. Zusammen mit der Stagnation an der Front und der russischen Märzrevolution führten die sich verschlechternden Lebensbedingungen im April 1917 zu ersten großen Streiks, in deren Gefolge sich das Gewerkschaftskartell spaltete und die lokale Parteiorganisation endgültig in die Hände der neuen USPD kam. Das Ausmaß dieser Wendung nach links war einmalig in Deutschland. Dobson unternimmt jedoch nicht den Versuch, die Ursachen für diese Leipziger Sonderentwicklung im Detail herauszuarbeiten. Seine Darstellung deutet eher implizit an, dass bestimmte Personen wie der Reichstagsabgeordnete Friedrich Geyer und die Redakteure der Leipziger Volkszeitung ausschlaggebend waren, denen andere Parteiführer dann weniger aus Überzeugung, sondern eher aus Sorge um die Einheit der Parteiorganisation folgten. Darin, dass die Vertreter einer älteren, vom Kautskyanischen Attentismus geprägten Generation Schlüsselstellungen in der Leipziger und sächsischen USPD einnahmen, sieht Dobson letztlich den Hauptgrund für den mangelnden Veränderungswillen der maßgebenden Arbeiterführer in der Revolution vom November 1918 und danach. Auch der Leipziger Arbeiter- und Soldatenrat beschränkte sich auf die Kontrolle der Verwaltung und sorgte im übrigen für die Neutralisierung der Revolutionären Matrosenkompanie als einziger wirklich radikaler Kraft. Gleichzeitig bildete sich ein ,,Bürgerausschuss" unter der Leitung des linksliberalen Historikers Walter Goetz als effiziente Dachorganisation des Bürgertums, die gegen sozialrevolutionäre Veränderungen Front machte. Die Sozialisierungs- und Streikbewegung des Frühjahrs 1919 erfasste auch Leipzig, wo sie unter der Führung von Friedrich Geyers Sohn Curt in ein immer radikaleres Fahrwasser geriet. Im differenziertesten Teil seiner Studie schildert Dobson hier, wie der von fast allen Teilen der Arbeiterschaft getragene Streik zwar auf einen mit gleicher Entschlossenheit geführten Bürgerstreik traf, dank der disziplinierten Matrosenkompanie und einer neu aufgestellten Volkswehr aber friedlich und frei von einer Intervention durch die Regierungstruppen General Maerckers blieb. Dass der Streik in der Sache mit einem völligen Misserfolg endete, führt Dobson auf die mangelnde Koordination mit den Streiks in anderen Teilen Deutschlands zurück. Zudem hält er Curt Geyer vor, in den Wochen danach keine Vorkehrungen für einen Generalstreik getroffen zu haben, obwohl sich ein Eingreifen Maerckers nun immer deutlicher abzeichnete und ihm nur durch einen solchen Streik effektiv hätte begegnet werden können. Als das Landesjägerkorps Ende Mai tatsächlich in Leipzig einrückte, traf es auf keinerlei Widerstand und setzte mit der Entwaffnung der proletarischen Wehren und der Aufstellung einer Zeitfreiwilligeneinheit aus den Studenten der Universität den Chancen der Arbeiterschaft zur Umgestaltung der Verhältnisse ein rasches Ende. Die blutigen Kämpfe im Gefolge des Kapp-Putsches, in denen sich die Zeitfreiwilligen und bewaffnete Arbeiter gegenüberstanden und die weit über hundert Tote hinterließen, war nur noch ein Nachspiel, welches das Ende der Revolution definitiv besiegelte.

Das Hauptverdienst von Dobsons Studie liegt darin, die Bedingungen und Grenzen der in der Umbruchszeit von 1918/19 getroffenen Entscheidungen für den Leipziger Fall eindringlich herauszuarbeiten und damit auf die relative Offenheit der Situation hinzuweisen. Ob die von ihm favorisierte radikalere Strategie tatsächlich erfolgreicher gewesen wäre, bleibt freilich ungewiss. Der methodische Zuschnitt seiner Studie ist konventionell; kulturelle Praktiken und Diskurse werden nicht eigens untersucht. Vom Leipziger Bürgertum erfährt man insgesamt viel weniger als von seiner Arbeiterschaft. Das Potential einer stadtgeschichtlichen Studie wird damit nicht ausgeschöpft, wie ein Vergleich mit den Arbeiten Michael Schäfers zu Leipzig oder Martin Geyers zu München deutlich macht. Sinnvoll und den neueren Ansätzen der Forschung entsprechend wäre es auch gewesen, den Untersuchungszeitraum mindestens bis 1923/24 auszuweiten, um die neue Konfrontation zwischen den großen politischen Lagern in Sachsen zusammen mit den Wirkungen des Inflationsprozesses mit einzubeziehen. So kann die Arbeit von Sean Dobson als materialreiche Einführung in die Geschichte der Leipziger Arbeiterbewegung zwischen Jahrhundertwende und Kapp-Putsch gelesen werden, einer Neuinterpretation der Leipziger Stadtgeschichte dieses Zeitraums wird sie aber kaum den Weg bahnen.

Dirk Schumann, Washington, D.C.


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