ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gisela und Dieter Riesenberger (Hrsg.), Alfred Hermann Fried. Mein Kriegstagebuch. 7. August 1914 bis 30. Juni 1919 (Geschichte und Frieden, Bd. 13), Donat Verlag, Bremen 2004, 384 S., geb., 18,80 €.

Der Name und die Person von Alfred Hermann Fried ist heute wohl nur noch Kennern der Geschichte der deutschen und europäischen Friedensbewegung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bekannt. Dabei war Fried, 1864 in Wien geboren und dort 1921 gestorben, einer der eifrigsten und produktivsten Theoretiker und Publizisten des bürgerlichen Pazifismus um die Jahrhundertwende. Auf seine Initiative hin entstand 1892 die ,,Deutsche Friedensgesellschaft", er begründete und gab seit 1899 die heute noch bestehende Zeitschrift ,,Friedens-Warte" heraus, und sein zweibändiges ,,Handbuch der Friedensbewegung" (1905) ist ein heute noch unverzichtbares Kompendium. Als Auszeichnung für diese Bemühungen erhielt Fried 1911 den Friedensnobelpreis. Eine aus den Quellen gearbeitete und wissenschaftlichen Maßstäben genügende biografische Darstellung über Leben und Werk Frieds existiert bis heute nicht, obwohl dazu reiches publizistisches und archivalisches Material vorliegt. Um so mehr wäre demnach die von Gisela und Dieter Riesenberger herausgegebene Edition des Kriegstagebuches zu begrüßen, wenn sie dem Leser einen problemorientierten und kritischen Zugang zu Frieds Leben und Werk bieten könnte. Doch dies ist leider nicht der Fall.

Fried hatte seit Kriegsbeginn einen letztlich vergeblichen Kampf darum geführt, die ,,Friedens-Warte" trotz der Eingriffe der österreichischen Pressezensur erscheinen zu lassen. Im Frühjahr 1915 emigrierte er deshalb nach Zürich und gab die Zeitschrift dort heraus. Sein Kriegstagebuch war von vornherein für die Publikation in der ,,Friedens-Warte" verfasst worden. Es handelt sich also nicht um ein privates Tagebuch, sondern um eine fortlaufende polemische Intervention gegen die Kriegspolitik der Mittelmächte. Letztlich ist es eine in Buchform gebrachte Sammlung von Zeitungsglossen, die selbst wiederum überwiegend auf Notizen und Berichten seiner Zeitungslektüre basiert, die er zum Gegenstand seiner Reflexionen und Kommentare macht. Fried folgt dabei den Sprechweisen des liberalpazifistischen Diskurses, wenn er den als monolithischen Block konzipierten preußischen ,,Militarismus" mit seinen Bestandteilen wie ,,Junkertum", ,,Reserveoffizierswesen" und ,,Kriegervereinswesen" (S. 56 u.ö.) für den Beginn und die Eskalation des Krieges verantwortlich macht. Das war ein alles andere als origineller Gedanke, der in seinen Grundzügen der bereits 1893 veröffentlichten Streitschrift von Ludwig Quidde gegen den deutschen ,,Militarismus" entstammt und den die pazifistische Propaganda seitdem ad nauseam wiederholt hatte. Der ,,Militarismus" und die ,,Alldeutschen" als per definitionem kriegstreibende Kräfte sind für Fried die Hauptschuldigen am Krieg (S. 156). Seine Analysen und Kritiken atmen den Geist eines ungebrochenen Vernunftglaubens, der an Voltaire und der Aufklärung des 18. Jahrhunderts orientiert war und die Rituale und Mechanismen des Maschinenkrieges nur als Ergebnis einer von den Priestern des Militarismus inszenierten Massenverdummung begreifen konnte (S. 219 u.ö.). Der Pazifismus wird von Fried als eine rationale ,,Prophylaxis" künftiger Kriege konzipiert, die in den gegenwärtigen Krieg kaum eingreifen will und kann. Der hyperrationalistische Vernunftglaube führt Fried allerdings zu der optimistischen Erwartung, dass die politische ,,Verbannung des Pazifismus" aus der Öffentlichkeit während des Krieges ihm künftig ,,Millionen Anhänger" zuführen müsse (S. 139).

Es sind wohl solche Bemerkungen gewesen, die den Schweizer Historiker Adolf Gasser in einer knappen und gelungenen biografischen Skizze über Fried, die im Anhang nochmals abgedruckt ist, zu der These geführt haben, sein Fortschrittsglaube sei letztlich eine Form von ,,Realitätsverlust" gewesen (S. 380). Eine neuerliche Edition der Kriegstagebücher, die Fried selbst bereits 1918 bis 1920 in vier Bänden herausgebracht hatte, würde dann einen wissenschaftlichen Mehrwert bringen, wenn sie diesem Gedanken nachginge und die Sprachmuster und zeitgeschichtlichen Kontexte des idealistischen Pazifismus von Fried analysieren und veranschaulichen würde. Das in Leben und Werk einführende Vorwort von Dieter Riesenberger ist davon jedoch weit entfernt. Es ergeht sich in einem ungebrochenen Lobeshymnus auf die ,,zutreffende Diagnose" der internationalen Politik vor 1914, die Fried angeblich vorgelegt habe (S. 9). Mit seiner Weigerung, diese Politik als ,,Friede" zu bezeichnen, sondern sie vielmehr als ,,kein Krieg" zu brandmarken, habe Fried ,,den modernen Friedensbegriff" vorweggenommen (S. 9). Das ist offensichtlich eine Anspielung auf das Konzept des ,positiven Friedens' von Johan Galtung, bei dem es sich allerdings nicht um den ,,modernen Friedensbegriff" handelt, sondern um ein Konzept, das weite Teile der sozialwissenschaftlichen und historischen Friedensforschung seit mehr als einer Dekade radikal verworfen haben, da es analytisch unergiebig und konzeptionell verfehlt ist.

Ob es ratsam ist, Frieds ,,humane Grundeinstellung" zu preisen, wie dies Riesenberger im Vorwort tut, scheint mir ebenfalls fraglich (S. 20). Immerhin endet das Kriegstagebuch mit einem ,,Fluch" gegen jene, die im Sommer 1914 den Krieg ausgelöst hätten. Sie sollten laut Fried ,,für immer Ausgestoßene der Menschheit" sein und ihr ,,Andenken" solle ,,geächtet und bespien" werden (S. 280). Deutlicher und drastischer lässt sich wohl kaum formulieren, dass die inklusive Vergemeinschaftung der friedlichen Menschen für Fried auf der Markierung und Exklusion all jener beruhte, die er als strukturell nicht friedensfähig auszuschließen für nötig hielt. Spätestens an dieser Stelle ist erkennbar, warum die vorliegende Edition zu jener leider immer noch zu großen Zahl von Publikationen im Feld der historischen Friedensforschung gehört, die - je nach Temperament - ärgerlich oder ermüdend wirken. Statt Frieds hochtrabenden Vernunftidealismus und seine Schattenseite, die Exklusion der nicht Friedfertigen, einer textkritischen Rekonstruktion und Kontextualisierung zu unterziehen, wird sein Kriegstagebuch nur als Beleg dafür angeführt, dass die Pazifisten es schon immer besser gewusst haben. Aber warum blieb dieses Wissen dann so folgenlos, ganz im Gegensatz zu Frieds hochtrabenden Erwartungen? Um diese Frage zu beantworten, müsste man allerdings die selbstgenügsame und bestenfalls Insider interessierende Pflege der identity politics des Pazifismus verlassen und eine mit angemessenem Instrumentarium durchgeführte Analyse der performativen Widersprüche in den Texten von Fried in Angriff nehmen.

Ein Wort noch zu den umfangreichen Anmerkungen der Herausgeber (S. 281-364), die Erläuterungen zu Personen, Daten und Anspielungen im Text liefern und die letztlich den einzigen Mehrwert gegenüber der Ausgabe von 1918-1920 ausmachen. Manches davon ist hilfreich, vieles jedoch überflüssig, da zur Not in jedem Konversationslexikon problemlos eruierbar. Darüber hinaus haben sich aber auch sachliche Fehler eingeschlichen, welche die Benutzung des Anmerkungsteils zum Problem machen: So waren etwa, obwohl dies auch eine unter Historikern immer noch gepflegte Legende ist, nicht ,,336.000 Tote" auf deutscher Seite in der Schlacht bei Verdun zu beklagen, sondern ,nur' etwa 80.000, und Vergleichbares gilt für die Verlustzahlen an der Somme (S. 317, 326). (1)

Benjamin Ziemann, Sheffield


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