ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bernhard Gotto, Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933-1945 (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 71), Oldenbourg Verlag, München 2006, 476 S., geb., 69,80 €.

Die Forschung zur kommunalen Selbstverwaltung im NS-Staat stand lange Zeit unter dem Einfluss des Standardwerks, das Horst Matzerath 1970 vorlegte. Dessen Thesen schienen ebenso überzeugend wie unwiderlegbar zu sein: Demnach seien die Kommunalverwaltungen nach 1933 zwischen den Mühlsteinen eines wachsenden Reichszentralismus und dem Zugriff lokaler Organe der NSDAP aufgerieben und in ihrem Handlungsspielraum immer weiter eingeengt worden. Zum einen hätten sie mit ansehen müssen, wie das Reichsministerium des Innern sie mit staatlicher Auftragsverwaltung überlastet habe. Zum anderen hätten die permanenten Eingriffe der NSDAP in die kommunale Verwaltung und ihre Mitspracherechte in der Personalpolitik jede verwaltungstechnische Effizienz verhindert. Im Mittelpunkt von Matzeraths Darstellung, die sich primär auf strukturelle Aspekte des Verhältnisses zwischen den kommunalpolitisch relevanten Institutionen beschränkte, stand jedoch der lokale Dualismus zwischen Staat und Partei, den er bereits nach Erlass der ,,Deutschen Gemeindeordnung" vom 30. Januar 1935 zugunsten der NSDAP als entschieden ansah. Daher formulierte Matzerath apodiktisch: ,,Die Gemeinde als örtliche politische Ebene war in der Hand der Partei". (1)

Die neuere Forschung hat Matzeraths Thesen in Frage gestellt und stattdessen die gestaltende Rolle der kommunalen Verwaltungsbehörden insbesondere bei der Judenverfolgung betont. Daraus resultierte ein Paradigmenwechsel, in dessen Verlauf sie weniger am Idealtyp der Selbstverwaltung, als an der Funktionalität ihrer administrativen Praxis gemessen wurden. Die vorliegende Studie, eine preisgekrönte Augsburger Dissertation aus dem Jahre 2004, treibt diesen Paradigmenwechsel weiter voran. Ihr liegen drei Prämissen zugrunde: Erstens waren die kommunalen Verwaltungen eigenständige Akteure in der lokalen NS-Herrschaft. Zweitens bildete sich eine spezifische ,,administrative Normalität" aus, unter der Gotto sowohl die Adaption weltanschaulicher Zielvorstellungen an kommunales Verwaltungshandeln als auch die informellen Spielregeln der Verwaltung subsumiert. Drittens existierte auf der kommunalen Ebene ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen Staat, Partei und anderen Herrschaftsträgern, das festen Regeln folgte und sich bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein als ausgesprochen stabil erwies. Im Mittelpunkt dieser kommunalen Polykratie stand die Stadtverwaltung, der es immer wieder gelang, die NS-Herrschaft vor Ort auszubalancieren.

Gotto zeichnet diese Systemstabilisierung von unten anhand des Augsburger Beispiels nach, indem er die Machtübernahme der NSDAP vom März 1933, die Ämter- und Personalstruktur und die Stellung der Kommunalverwaltung innerhalb des lokalen Herrschaftsgeflechts, das kommunale Verwaltungshandeln vor dem Krieg sowie die Transformationen der Stadtverwaltung während des Zweiten Weltkrieges und deren Entnazifizierung nach 1945 untersucht. Ein Verdienst der Darstellung ist, dass der Autor die Augsburger Entwicklung stets mit anderen Großstädten korreliert, die ähnliche Strukturmerkmale aufwiesen. Denn als Sitz der NSDAP-Gauleitung Schwaben und der Bezirksregierung von Schwaben und Neuburg besaß Augsburg einige Besonderheiten, weshalb sich vorschnelle Verallgemeinerungen verbieten. Großen Wert legt der Autor auf die Facetten des kommunalen Erfahrungsaustauschs, denen er anhand der Akten des Deutschen Gemeindetages und der Korrespondenz des Augsburger Oberbürgermeisters Josef Mayr mit seinen Stuttgarter, Nürnberger und Münchener Amtskollegen nachgeht. Daraus entsteht eine moderne Verwaltungshistoriographie, die organisations-, sozial- und transfergeschichtliche Elemente zu einer integrierten Gesamtschau synthetisiert.

Die administrative Praxis der Augsburger Stadtverwaltung war, so Gotto, durch eine außerordentliche Flexibilität gekennzeichnet. Auftretende Probleme wurden gelöst, indem man den vorgeschriebenen Instanzenweg einfach umging oder die lokalen NSDAP-Dienststellen einschaltete. Eine besondere Rolle spielte die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), die im Bereich der kommunalen Fürsorge viele Entscheidungen vorstrukturierte, weil ihr Personal mit der Durchführung der größtenteils repressiven Verwaltungsaufgaben in diesem Politikbereich betraut war. Ähnliches lässt sich für die Einbeziehung der Deutschen Arbeitsfront (DAF) in den kommunalen Wohnungsbau zeigen. Sie finanzierte 30 Prozent des Augsburger Wohnungsbauprogramms vor 1939 und versorgte die Bauträger mit dem notwendigen Baumaterial. Eine wie auch immer geartete Entscheidungsbefugnis kam jedoch weder der NSV noch der DAF zu, sondern verblieb bei der Augsburger Stadtverwaltung. Das Credo ,,Die Partei befiehlt dem Staat", das Hitler beim Nürnberger Reichsparteitag im September 1934 ausgegeben hatte, wurde dadurch nachgerade auf den Kopf gestellt. Unter Umgehung der staatlichen Instanzenzüge und durch funktionale Einschaltung der lokalen Parteiorgane gelang es der Augsburger Stadtverwaltung, das Dienstleistungsniveau für die Bevölkerung im Wesentlichen zu halten. Dazu musste sie die im Zuge des ,,Vierjahresplanes" eingeführte Zwangsbewirtschaftung oft bewusst torpedieren. Zur Erklärung dieses Sachverhaltes übernimmt der Autor den treffenden Begriff der ,,brauchbaren Illegalität" (S. 170 f.) aus Niklas Luhmanns Organisationssoziologie. Demnach trägt auch informelles Verwaltungshandeln, wie es die Augsburger Kommunalverwaltung praktizierte, zur Systemstabilisierung bei.

Mehr als ein Viertel der vorliegenden Untersuchung ist den Tätigkeiten der Augsburger Stadtverwaltung während des Zweiten Weltkrieges gewidmet. Seit 1939/40 wurden kommunale Verwaltungsmitarbeiter sukzessive durch in der Regel weibliche Aushilfskräfte ersetzt, unzählige neue Ämter zur Erledigung der Kriegsverwaltungsaufgaben gegründet und für weniger ,,kriegswichtig" befundene Verwaltungsreferate ,,stillgelegt". Trotz dieser einschneidenden personellen und strukturellen Veränderungen gelang es der Augsburger Stadtverwaltung, ihre institutionelle Vorrangstellung in der lokalen Polykratie zu bewahren. Sie erledigte ihre beiden wesentlichen Kriegsaufgaben - die Zahlung des ,,Familienunterhalts" an die Angehörigen der zur Wehrmacht Eingezogenen und die Bewirtschaftung mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Gebrauchs - durchaus effizient. Erst mit dem alliierten Bombenangriff auf Augsburg am 25. und 26. Februar 1944, in dessen Verlauf fast die Hälfte der Bevölkerung obdachlos wurde, scheint sich dies geändert zu haben. Allerdings gelang es der NSV und dem kommunalen Ernährungsamt, den Unmut der Bevölkerung durch die schnelle Bereitstellung von Lebensmitteln wenigstens einigermaßen zu kanalisieren. Eine nennenswerte Widerstandsbewegung gegen die NS-Herrschaft gab es in Augsburg bis Kriegsende nicht. Nach der kampflosen Übergabe der Stadt an die Amerikaner am 28. März 1945 blieb in der kommunalen Verwaltung der Primat des fachlichen Könnens maßgeblich. Dies führte dazu, dass nach einer kurzen ,,Schamfrist" viele NS-belastete Mitarbeiter wieder in kommunale Dienste übernommen wurden. Ein später Eintritt in die NSDAP, mittleres Alter und gute Fachkenntnisse boten dafür günstige Voraussetzungen. Lediglich Oberbürgermeister Mayr und einige andere Spitzenkräfte der Augsburger Stadtverwaltung waren mittlerweile untragbar geworden.

Summa summarum ist Gotto eine beeindruckende Darstellung gelungen, deren Relevanz weit über ihren engeren Gegenstandsbereich hinaus besteht. Vier Aspekte sind besonders hervorzuheben: Erstens bestreitet der Autor den Erkenntnisgewinn von Analysen, die den NS-Staat an den verfassungsrechtlichen Normen der Weimarer Republik messen. Ein solches Vorgehen, das in der NS-Forschung seit den 1950er Jahren praktiziert wurde und bei dem Ernst Fraenkels ,,Doppelstaat" und Franz L. Neumanns ,,Behemoth" Pate standen, ist unzureichend, weil es die Funktionsmechanismen von NS-Verwaltungsbehörden zugunsten einer allzu scharfen Unterscheidung von Demokratie und Diktatur vernachlässigt. Zweitens betont Gotto die Konfliktlösungskompetenzen und die Lernfähigkeit der Augsburger Stadtverwaltung. Kein Effizienz mindernder ,,Kampf aller gegen alle", sondern ein permanentes, durchaus erfolgreiches Neujustieren der Verwaltungspraxis war demnach das wichtigste Kennzeichen der lokalen NS-Herrschaft. Drittens relativiert er die Bedeutung des Dualismus zwischen Staat und Partei und weist die arbeitsteilige Zusammenarbeit zwischen den städtischen Ämtern beziehungsweise der NSDAP-Kreisleitung sowie den Kreiswaltungen von DAF und NSV nach. Viertens zeigt der Autor, wie reibungslos der Übergang zwischen Demokratie und Diktatur in der Augsburger Stadtverwaltung sowohl im März 1933 als auch im März 1945 verlief. Leider entwickelt er aus seinen überzeugenden Befunden keine neuen Begriffe ,,mittlerer Reichweite", mit denen sich der Stellenwert von Stadtverwaltungen im ,,Dritten Reich" präziser auf den Punkt bringen lässt, als es ältere Ansätze vermochten. Der Begriff ,,administrative Normalität" ist dafür zu unspezifisch, weil man damit den Struktur- und Funktionswandel von NS-Verwaltungsbehörden nicht erklären kann. Dies ändert allerdings nichts daran, dass Gottos Studie für die Interpretation des NS-Herrschaftssystems von eminenter Bedeutung ist. Die Forschung wird gut daran tun, ihre in vieler Hinsicht weiterführenden Ergebnisse gründlich zur Kenntnis zu nehmen.

Armin Nolzen, Warburg


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