Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Torsten Gass-Bolm, Das Gymnasium 1945-1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 7), Wallstein Verlag, Göttingen 2005, 490 S., geb., 40,00 €.
Der Untergang des deutschen Gymnasiums ist - mal laut und dramatisch, oft melancholisch - häufig besungen worden. In wohltuend anderer Tonlage widmet sich die Dissertation des Freiburger Historikers Torsten Gass-Bolm dieser sehr deutschen Form der Höheren Schule von 1945 bis 1980 in der Bundesrepublik. Äußerlich habe das deutsche Gymnasium den Wandel der Zeiten ziemlich unbeschadet überstanden. Innerlich aber tue sich seit Ende der 1960er Jahre ein Graben zur Vergangenheit auf, in dem die in den 1950er Jahren noch deutlich erkennbaren Verbindungslinien zum 19. Jahrhundert verschwänden.
Die Kontinuität der Struktur des Gymnasiums beschäftigt den Freiburger Historiker kaum. Schon der Untertitel ,,Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland" zeigt an, dass der Autor den engeren Rahmen einer auf Institutionen fixierten Bildungsgeschichte zugunsten eines Ansatzes verlässt, der das Gymnasium immer in Bezug auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse betrachtet.
Gass-Bolm nähert sich seinem Gegenstand aus wechselnden Perspektiven und über verschiedene thematische Zugänge. Um den Einfluss des gesellschaftlichen Normenwandels auf das Gymnasium zu fassen, behandelt er die Entwicklung des Schulrechts, Bildungspolitik und pädagogische Diskurse, die Sozialstruktur und, anhand einer Fallstudie aus Freiburg, auch die Schulpraxis. Das Gymnasium selbst betrachtet er unter vier Aspekten: als Ort der Wissensvermittlung am Beispiel des Deutschunterrichts, als Ort der Erziehung am Beispiel des Schüler-Lehrer-Verhältnisses und der Schülermitverwaltung, als Ort der Elitereproduktion mit Blick auf das gymnasiale Selbstverständnis, sowie als Objekt für Begabungs- Sozialstruktur- und schließlich Forschung über Geschlechterdiskurs und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern.
Auch der Untersuchungszeitraum ist in vier Abschnitte unterteilt: die ,,Phase der konservativen Kulturkritik" von 1945 bis 1959, die ,,Periode des beginnenden Wandels" zwischen 1959 und 1967, die ,,Zeit einer Reformeuphorie" von 1967 bis 1973 und schließlich im Ausblick die Jahre bis 1980 als Zeit der ,,konservativen Tendenzwende bei gleichzeitiger Stabilisierung" (S. 12).
Zu loben sind die klare Gliederung, knappe Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels sowie der erfreulich konkrete, auch für Laien verständliche Stil - gerade bei der Fülle des ausgewerteten Materials, das Schularchivalien, Verwaltungs- und Ministeriumsakten, Fachzeitschriften und Monografien ebenso wie Schülerzeitungen, Festschriften und Erinnerungen von Zeitzeugen sowie sozialstatistische Daten umfasst.
Im ersten und zweiten Kapitel vollzieht der Autor die Entstehungsgeschichte des Gymnasiums seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und seine Entwicklung bis 1945 nach. Er weist darauf hin, dass die dem traditionellen Gymnasium zugrunde liegende humboldtsche Bildungsidee die ,,allgemeine Menschenbildung" zum Ziel hatte, also nicht die Eliten-, sondern die Volksbildung anstrebte und zeichnet die von Wilhelm II. bis zum Nationalsozialismus fortschreitende Tendenz einer Nationalisierung der Bildung weg vom Leitbild der Antike hin zu dem einer nationalen deutschen Kultur nach. Für die Weimarer Zeit konstatiert Gass-Bolm misslungene Demokratisierung und Reformstau, für den Nationalsozialismus die beispiellose Ideologisierung der Schule durch die Politik.
Ein Trend ist bei allen wechselnden politischen Konstellationen und auch gegen manche bildungspolitischen Intentionen auszumachen: Die höhere Schulbildung expandierte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert kontinuierlich. Das gilt auch für die höhere Mädchenbildung, deren Geschichte ebenfalls kurz skizziert wird.
Der Wiederaufbau des westdeutschen Schulsystems nach dem Ende des Nationalsozialismus stand - obwohl die amerikanischen und britischen Alliierten zunächst auf einen Systemwechsel hin zu einem horizontalen Schulsystem drängten - im Zeichen der Restauration. Hier trifft der durch Walter Dirks berühmten Aufsatz Der restaurative Charakter der Epoche (1950) zum Topos gewordene Ausdruck für die 1950er Jahre tatsächlich zu. Blickt man auf die nationalsozialistische Vergangenheit, so war die personelle Kontinuität in der Lehrerschaft beträchtlich. Meist schon nach wenigen Jahren hatten auch zunächst entlassene ehemalige Nationalsozialisten wieder eine Anstellung. Diese überwiegend jungen Lehrer macht Gass-Bolm aber nicht für das reformunfreundliche Klima der 1950er Jahre verantwortlich: eher sei im Gegenteil plausibel, dass konservative Konzepte als Reaktion auf den Nationalsozialismus noch einmal gestärkt wurden.
Im Rückgriff auf idealistische, neuhumanistische Traditionen wurde ein ,,christlicher Humanismus" zum Leitbild erhoben, der Antike, Christentum und deutsche Klassik zu seinen zentralen und ewig gültigen Bildungsgütern erklärte. Diesen Bildungsbegriff charakterisiert Gass-Bolm als normativ und antipluralistisch.
Nur eine Fußnote ist dem Autor allerdings der Hinweis wert, dass Anfang der 1950er Jahre eine erhebliche Ausweitung des Begriffs ,,Gymnasium" stattfand: Erst jetzt wurde ,,Gymnasium" zum Oberbegriff für alle höheren Schulen, also nicht nur für das traditionelle Gymnasium mit den Kernfächern Latein und Griechisch, sondern auch für die naturwissenschaftlich ausgerichtete Oberrealschule und das neusprachliche Realgymnasium, die 1900 dem traditionellen Gymnasium seine Monopolstellung als Vorbereitungsanstalt für die Universität hatten streitig machen können.
Das Selbstverständnis des Gymnasiums in den 1950er Jahren war elitär und wurde gestützt durch die noch weitgehend von biologistischen Vertretern dominierte Begabungsforschung. Auch der Geschlechterdiskurs war von traditionellen Vorstellungen der Geschlechterpolarität beherrscht: ,,intuitive Mädchen" versus ,,analysierende Knaben" und daraus folgend eine Ablehnung der Koedukation. Wegen Schulraum- und Finanznot kam es in der Praxis aber immer häufiger zu gemeinsamem Unterricht.
Ein aus der Reformpädagogik der Jahrhundertwende stammendes Konzept der Partnerschaft mit autoritären Zügen prägte das Lehrer-Schüler-Verhältnis und die Schülermitverwaltung. Interessenkonflikte waren in diesem Harmoniemodell nicht vorgesehen. Im Konfliktfall wurden Schülervertreter nicht selten vom Direktor abgesetzt, die demokratischen Spielregeln, die in diesem Gremium eingeübt werden sollten, also missachtet.
Nach der Phase der ,,gebremsten Modernisierung" kennzeichnet Gass-Bolm die Jahre 1959 bis 1967 als ,,Aufbruch des Gymnasiums" im Zeichen der ,,Akzeptanz der Moderne". Ausführlich widmet sich dieses Kapitel Reformvorschlägen, pädagogischen Neuansätzen und bildungspolitischen Diskursen: Wilhelm Flitners Maturitätskatalog (1958), dem Rahmenplan des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen (1959), den gesellschaftspolitischen Vorstößen von Georg Picht (1964) und Ralf Dahrendorf (1965), Hartmut von Hentigs Versuch einer Erneuerung des humanistischen Bildungsbegriffs und dem maßgeblich von Wolfgang Klafki geprägten Aufkommen der bildungstheoretischen Didaktik. Das Nebeneinander von Neuansätzen sieht Gass-Bolm als Indikator für die sich anbahnende Individualisierung und Pluralisierung des Bildungsbegriffs und der Gymnasialbildung.
Konkret zeigte sich die Öffnung gegenüber der Moderne am veränderten Lektürekanon des Deutschunterrichts: Statt der von der konservativen Kulturkritik bevorzugten Autoren wie Ernst Jünger, Ernst Wiechert oder Hans Carossa, die in den 1950er Jahren dominierten, hielten nun Franz Kafka, Heinrich Mann und auch der Kommunist Bertolt Brecht Einzug in den Deutschunterricht.
Den Wandel des Lehrer-Schüler-Verhältnisses zu mehr Demokratie in der Schülerselbstverwaltung und weniger Autorität im schulischen Miteinander beschreibt Gass-Bolm als stillen Liberalisierungsprozess. Ähnlich schleichend vollzog sich die Abkehr vom Modell der Geschlechterpolarität; die Koinstruktion war zum Regelfall geworden.
Um 1970 geriet das Gymnasium in seine größte Krise: Der Strukturplan des Deutschen Bildungsrates (1970) und der Bildungsgesamtplan der Bund-Länder-Kommission (1973) plädierten für Stufensystem und Gesamtschule. Damit schien die seit den 1920er Jahren in Deutschland immer wieder aufflammende Diskussion um eine horizontale oder vertikale Schulgliederung entschieden und das Ende des Gymnasiums in Sicht. Statt eines spezifisch gymnasialen Bildungsbegriffs galt nun für alle Stufen und Schultypen ein pragmatischer Lernbegriff, der ohne metaphysische Aufladung auf die Optimierung von Lernprozessen zielte. Ein verabsolutiertes Emanzipationskonzept führte aber zur gleichen Zeit zu einer neuen metaphysischen Überfrachtung des Bildungsbegriffs.
Schülerbewegung, Oberstufenreform und Bildungsboom der Mädchen sind Themen und Schlüsselphänomene des durch das Schlagwort ,,Demokratisierung" gekennzeichneten Zeitabschnitts zwischen 1967 und 1973.
Den Höhe- und Wendepunkt der Reformeuphorie markiert der Streit um die hessischen Rahmenrichtlinien für die Fächer Deutsch und Gesellschaftskunde von 1972, die die Tradition für bedeutungslos erklärten und als einzige Kriterien Rationalität, Emanzipation und Kritikfähigkeit gelten lassen wollten. Gegen ein solches Reformverständnis, das in seinem ,,Glauben an die gesellschaftsverändernde Kraft der Rationalität bereits wieder irrationale Züge" trug (S. 311), wandten sich auch zahlreiche bisherige Reformer.
Reformbedarf bestand aber durchaus noch, zum Beispiel im Schulrecht. Zwischen 1969 und 1971 - in einer Phase, in der die Schulpraxis von zunehmenden Disziplinproblemen gekennzeichnet war - wurde endlich die Körperstrafe gesetzlich verboten. Auch die Einschränkung der Grundrechte von Schülern durch das besondere Gewaltverhältnis fiel in der Folge eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1972.
Für die Jahre 1973 bis 1980, die als ,,Ausblick" deutlich knapper abgehandelt werden als die übrigen Zeitabschnitte, bleibt das Bild ein wenig diffus. Nachdem das Gymnasium seine Existenzkrise überstanden hatte, gab es zahlreiche Versuche, den um 1970 diskreditierten Bildungsbegriff zwischen den Extremen von pragmatischem Lernbegriff und idealistischem Humanismuskonzept neu zu definieren.
Die Planungseuphorie war einer neuen Modernitätskritik, nun von links, gewichen und statt vom Ende war nun wieder von der Zukunft des Gymnasiums die Rede. Die Gräben zwischen links und rechts, die die Auseinandersetzungen um die Reformkonzepte Anfang der 1970er Jahre gerissen hatten, blieben sichtbar, doch zumindest bestand weithin Einigkeit über die Funktion des Gymnasiums als Ort der Qualifizierung für möglichst viele Schülerinnen und Schüler.
Gass-Bolm ist seinem eigenen Anspruch, die Geschichte des bundesdeutschen Gymnasiums als Sozial- und Kulturgeschichte zu erzählen, in vollem Umfang gerecht geworden. Die gelungene Verschränkung unterschiedlicher Perspektiven führt auch immer wieder zu überraschenden Einsichten und Erkenntnissen, etwa dass der Lehrerinnen diskriminierende Beamtinnenzölibat endgültig erst 1957 aus der Beamtengesetzgebung verschwand. Vor allem aber wird offensichtlich, wie ideologiebeladen und vom Zeitgeist bestimmt nicht nur die bildungspolitischen Debatten, sondern auch die Lesebücher und Interpretationshilfen für den Deutschunterricht gerade in den 1950er und 1970er Jahren waren.
Die Crux von Reformprojekten im Zeichen der Modernisierung hat Reinhard Koselleck eindrucksvoll beschrieben als die Spannung zwischen ,,Erfahrungsraum" und ,,Erwartungshorizont": ,,Je geringer die Erfahrung, desto größer die Erwartung, dies ist eine Struktur der Moderne, sofern sie vom ,Fortschritt' auf ihren Begriff gebracht wurde. Dies war plausibel, solange alle bisherigen Erfahrungen nicht hinreichten, die Erwartungen zu begründen, die sich aus dem Prozeß einer technisch sich überformenden Welt ableiten lassen. Werden freilich dementsprechende politische Entwürfe verwirklicht [...], so arbeiten sich die alten Erwartungen an den neuen Erfahrungen ab." (1)
Das Modernisierungs- und Liberalisierungsparadigma, das dieser wie anderen bei dem Freiburger Historiker Ulrich Herbert entstandenen Arbeiten zugrunde liegt, führt wohl zwangsläufig zu einer Vernachlässigung möglicher Kosten des hier als erfolgreich beschriebenen Wandlungsprozesses. Wie aber würde eine Geschichte der bundesrepublikanischen Hauptschule ausfallen?
Teresa Löwe-Bahners, Berlin und Frankfurt/Main
Fußnoten:
1 Reinhart Koselleck, ‚Erfahrungsraum' und ‚Erwartungshorizont' - zwei historische Kategorien, in: ders. (Hrsg.), Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 1989, S. 349-375, S. 374.