ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rainer Pöppinghege, Im Lager unbesiegt. Deutsche, englische und französische Kriegsgefangenen-Zeitungen im Ersten Weltkrieg, Klartext Verlag, Essen 2006, 349 S., 32,00 €.*

Die Millionen militärischer Gefangener und Zivilinternierter, die zwischen 1914 und 1918 festgehalten wurden, werden häufig als die ,,vergessenen Opfer" des Ersten Weltkrieges bezeichnet, aber wie sie selbst ihr Dilemma deuteten, ist selten einer detaillierten Untersuchung unterzogen worden. Stattdessen beziehen sich Historiker normalerweise auf offizielle Regierungsunterlagen oder Memoiren, die nach dem Krieg geschrieben wurden; beide bieten aber keinen authentischen Zugang zur Mentalität der Kriegsgefangenen während des Krieges. In diesem Sinne bietet uns Rainer Pöppingheges kürzlich erschienenes Buch neue Perspektiven auf die Erfahrung der Kriegsgefangenschaft. Gefangene, so seine These, waren aktiv in ihrem eigenen Krieg beteiligt und nicht nur einfach passive Objekte der kriegsführenden Staaten. Insbesondere haben sie mit dem Phänomen der Kriegsgefangenen- oder Lagerzeitungen ihre eigene Methode entwickelt, ihre Erfahrungen darzustellen. Bis zu 100 dieser Zeitungen erschienen in Lagern für alliierte Kriegsgefangene in Deutschland und 59 weitere wurden von deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen in Großbritannien und Frankreich publiziert. Jede Zeitung hatte eine durchschnittliche Leserzahl, die in die Hunderte bzw. Tausende ging, wobei die Ausgaben, die nach Hause geschickt wurden, nicht mitgezählt sind (S. 31). Darüber hinaus waren sie, gestützt auf eine Vielfalt von Fähigkeiten der Gefangenen (unter ihnen befanden sich Redakteure, Illustratoren, Dichter, Künstler usw.), technisch eindrucksvoll und sprachen ein breit gefächertes Publikum an, so dass sie die ,,wesentlichen Züge der Massenkommunikation" (S. 307) trugen. Tatsächlich wurden einige der regelmäßig erscheinenden Titel schnell zu Sammelobjekten und tauchten sogar schon vor Ende des Krieges auf Buchmessen und Ausstellungen auf. Das folgende Beispiel spricht für sich: Nachdem der Chefredakteur einer französischen Lagerzeitung hörte, dass Exemplare der Zeitung von der Bibliotheque Nationale in Paris angefordert wurden, bezeichnete er dies als das Äquivalent eines Ritterschlages für besondere Leistungen im Krieg (S. 234).

Neben der Analyse ihrer Rolle in der Kommunikation zwischen den Gefangenen und der heimischen Öffentlichkeit während des Krieges, betrachtet Pöppingheges Arbeit auch die Verbindung zwischen den Lagerzeitungen und der Entwicklung einer Kriegskultur innerhalb der Lager selbst. Für die beteiligten Personen war eine der Funktionen der Veröffentlichungen im Lager die Langeweile und Routine des täglichen Lebens in Gefangenschaft zu überwinden und die Symptome von Heimweh und die Gefahren von Geisteskrankheit (die sogenannte Stacheldrahtkrankheit) zu lindern. Journalismus im Lager diente jedoch nicht nur dem bloßen Eskapismus: Vielmehr ,,verfolgte [man] in der Regel ein höheres nationales bzw. kulturelles Ziel" (S. 230). So nahm beispielsweise unter britischen Gefangenen die Stärkung der Gruppenidentität oft eine Form von Selbstspott und Ironie an. Deutsche Kriegsgefangene hingegen - und besonders deutsche Zivilinternierte in Großbritannien - schienen eher darauf bedacht gewesen zu sein, die ,,Ideen von 1914" und die Vorstellung einer einzigartigen deutschen kulturellen Aufgabe in Europa aufrechtzuerhalten (S. 245-55). Trotzdem lehnt Pöppinghege an dieser Stelle ausdrücklich das Interpretationsmuster eines deutschen Sonderweges ab. Seiner Meinung nach stellten die deutschen Lagerzeitungen nur eine Variante einer allgemeineren ,,bürgerliche[n] Leistungsethik" und eines ,,Männlichkeitsideals" dar. Diese haben letztlich dazu beigetragen, eine ,,transnationale Öffentlichkeit" zu kreieren, ein gemeinsames Verständnis über den Sinn der Kriegsgefangenschaft und ihren Beitrag zu den Kriegsanstrengungen. Im Prinzip versuchten alle Gefangenen - mit Ausnahme einer kleinen Gruppe von Pazifisten - für sich selbst einen ,,Kämpferstatus" zu konstruieren, der Mittel der Selbstlegitimation und der Teilnahme an dem, was von weiten Teilen der Gesellschaft als weltverändernde Ereignisse aufgefasst wurde, sein sollte. Für militärische Kriegsgefangene war ein weiterer Faktor, dass sie sich gegen den Vorwurf verteidigen wollten, sie hätten das Vaterland verraten, indem sie ,,es vorgezogen" hätten, sich zu ergeben, anstatt bis zum Tod zu kämpfen. Dies taten sie durch eine Vielfalt rhetorischer Mittel, etwa indem sie den charakterformenden Aspekt des Lagerlebens und seinen Beitrag zur Entwicklung ,,soldatischer" und ,,männlicher" Qualitäten betonten (S. 170). Der Inhalt der Lagerzeitungen war sozusagen transnational und kann nur von einer transnationalen Perspektive aus verstanden werden, auch wenn die Form, die vereinzelte Lagerzeitungen annahmen, einen oft sehr nationalistischen Ton hatte, dersicherlich wenig dazu beitrug, transnationale Identitäten zwischen den Gefangenen selbst zu fördern (S. 309).

Die zentrale These des Buches ist somit überzeugend und gründlich dokumentiert. Es ist zudem eine wichtige Korrektur zu der eher trostlosen, eschatologischen Betrachtung des ,,Lagerphänomens", die die französischen Historiker Stéphane Audoin-Rouzeau und Annette Becker bieten. (1) Dennoch gibt es einige Probleme bei Pöppenheges Ansatz. Insbesondere scheint er sich nicht entscheiden zu können, ob er ein Buch über Kriegsgefangene im Allgemeinen oder eine Studie über Lagerzeitungen im Besonderen schreiben möchte. Als eine allgemeine Studie ist das Buch fehlerhaft. So kann zum Beispiel die Behauptung, Deutschland habe in der Behandlung seiner feindlichen Kriegsgefangenen ,,faktisch einen relativ liberalen Kurs" verfolgt, nur zu Einsprüchen führen. In der Praxis war die Situation weit komplexer, als Pöppinghege es nahe legt, nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass die deutsche Oberste Heeresleitung mehr als 250.000 Kriegsgefangene in den besetzten Gebieten West- und Osteuropas unter sehr schlechten Bedingungen hielt und ab 1915 mehrere hundert Tausende für dezentralisierte Arbeitskommandos an der Heimatfront mobilisierte. (2) In der Tat hätte die eigene Aussage des Autors, dass ,,die Existenz von Lagerzeitungen allein ... wenig über die Behandlungsqualität aus[sagt]" (S. 307), ihn zu mehr Vorsicht ermahnen sollen.

Als Untersuchung der Kommunikation innerhalb der Lager hat das Buch mehr zu bieten. Dennoch stellt Pöppinghege meines Erachtens das Ausmaß, in dem die Kriegsgefangenen von der Außenwelt abgeschnitten und dadurch in Hinblick auf Inspirationen nur auf sich selbst angewiesen waren, etwas übertrieben dar (S. 85-86). Es stimmt durchaus, dass die Lagerzeitungen eine ,,eindimensionale Kommunikationsstruktur" darstellten, ,,[d]enn sie kommunizierten ausschließlich Begebenheiten des Lagers nach außen, nicht umgekehrt" (S. 264). Es gab jedoch andere Formen der Kommunikation, die offensichtlicher in beide Richtungen liefen. So wurden viele Kriegsgefangene, wie wir gesehen haben, in Arbeitskommandos eingesetzt, in denen sie oftmals die Möglichkeit hatten, mit Kriegsgefangenen anderer Nationen und Bürgern des Staates, von dem sie gefangen gehalten wurden, zusammenzutreffen; andere Gefangene - insbesondere Zivilisten - konnten von ihren Frauen und Kindern besucht werden. Briefe und Zeitungen, die in die Lager kamen, wurden zensiert, aber nicht immer so streng wie man es erwarten könnte und das Schmuggeln von Waren war weit verbreitet. Schließlich waren insbesondere in Zivilinternierungslagern Nationalitäten und kulturelle Ansichten der Insassen gemischt, wodurch sich der Prozess der Ausbildung einer Gruppenidentität erschwerte und destabilisiert wurde. Im Engländerlager Ruhleben in der Nähe von Berlin beispielsweise gehörten bei einer Bevölkerung von ca. 4.000 Gefangenen etwa 600 bis 800 einer deutschgesinnten (pro-German) Gruppe an, die ihre eigenen kulturellen Gruppen bildeten, über die in den Lagerzeitungen nicht oder nur selten berichtet wurde. Gleichermaßen waren viele der deutschen Zivilisten, die in Großbritannien interniert wurden, zumindest teilweise anglisiert und einige haben praktisch ihr ganzes Leben in Großbritannien verbracht. (3)

All diese Faktoren zeigen die Grenzen der Lagerzeitungen als Quelle für das Leben innerhalb der Lager auf - Grenzen, die der Autor nicht immer anerkennen will. Einige kleine Fehler fallen zudem auf (zum Beispiel die Fehlaussage, dass James W. Gerard britischer - nicht amerikanischer - Botschafter in Berlin war, S. 59-60). Davon abgesehen ist die Arbeit insgesamt gut geschrieben und verdient Lob für ihre Tiefe und Originalität. Sie ist und bleibt zweifellos eine Pionierarbeit im Bereich der Kriegsgefangenenforschung und der Geschichte der Kriegskulturen und stellt daher eine willkommene Ergänzung zur aktuellen Literatur dar.

Matthew Stibbe, Sheffield

* Diese Rezension wurde von Sebastian Tripp aus dem Englischen übersetzt.


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