ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bodo Wegmann, Die Militäraufklärung der NVA. Die zentrale Organisation der militärischen Aufklärung (Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Bd. 22), Verlag Dr. Köster, Berlin 2006, 714 S., brosch., 48,00 €.

Bei dem zu rezensierenden Werk handelt es sich um den unveränderten Nachdruck der im Jahre 2005 am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin eingereichten Dissertation gleichen Titels (mit dem ergänzenden Zusatz versehen: ,,Vergleichende Dokumentation ihrer Entwicklung und Funktionsweise.")

Das Ergebnis ist ein ursprünglich mehr als 1000seitiges Werk mit wahrhaft enzyklopädischem Charakter. Die Arbeit basiert auf umfangreichem Quellenmaterial aus Archiven und Bibliotheken sowie aus nicht-öffentlichen Sammlungen von deutschen und ausländischen Behörden und Diensten. Darüber hinaus wertete der Autor Medienberichte und Internetquellen aus. Er befragte über 80 Zeitzeugen und Kenntnisträger. Unter den Befragten befanden sich ehemalige hohe Offiziere des Zentrums der Militärischen Aufklärung in Ostberlin und des ehemaligen Verteidigungsministeriums der DDR. Da die militärische Aufklärung der DDR vollständig in das militärische Bündnissystem des Warschauer Paktes integriert war, erfährt der Leser viel über die Kooperation auf internationaler Ebene und die besondere Zusammenarbeit mit dem sowjetischen militärischen Nachrichtendienst GRU.

Leicht entsteht angesichts der Materialfülle und der präzisen Aufarbeitung des Materials der Eindruck, es gäbe auf diesem Gebiete nichts mehr zu erforschen. Wegmann selbst ist jedoch so fair, in dem als ,,Desiderata" deklarierten Abschnitt seiner Arbeit, auf vorhandene Forschungslücken hinzuweisen. Seine Priorität liegt auf der Erforschung der Geschichte der Spezialkampfkräfte, insbesondere des Fallschirmjägerbataillons 40 der NVA und der Militärorganisation der KPD/DKP. Möglichkeiten für eine weitergehende Forschung sieht er in Arbeiten über die Tätigkeit der Militärattachés der DDR und über das keineswegs unproblematische Beziehungsgeflecht zwischen der Militäraufklärung der NVA und dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR (S. 667). Hier wird ein weites Feld für die zukünftige Geheimdienstforschung - wie sich dieser Zweig der Politischen Wissenschaft nennt - eröffnet. Wegmann moniert allerdings die Bezeichnung Geheimdienstforschung. Er plädiert für eine klare Unterscheidung zwischen Nachrichtendiensten, deren Aufgaben die Sammlung, Gewinnung und Aufbereitung politischer und/oder militärischer Informationen für die politische Führung ist und Geheimdiensten, deren Aufgaben neben den bereits angeführten auch covert actions, bzw. aktive Maßnahmen umfassen, beispielsweise Desinformation, Sabotageakte und sogar terroristische Aktivitäten. Den Bereich Aufklärung (BA) der NVA rechnet er den Nachrichtendiensten zu. Diese Einschätzung teilt auch der Deutsche Bundeswehrverband, der Generalleutnant a. D. Theo Gregori, dem letzten noch lebenden Leiter des BA, im Jahre 2001 die Ehrennadel des Deutschen Bundeswehrverbandes verlieh (S. 626).

Der für die militärische Aufklärung der DDR zuständige Bereich wird ebenso akribisch rekonstruiert wie die von diesem verwendeten Mittel und Methoden.

Von 1952 (Gründung der Kasernierten Volkspolizei als Vorläufer der NVA) bis zur Selbstauflösung der DDR 1990 hatte die Militäraufklärung der NVA unter verschiedenen Namen (Amt für Koordinierung, Verwaltung Aufklärung, Bereich Aufklärung u. a.) folgende Schwerpunktaufgaben: Beobachtung der NATO als militärischer Organisation, der Bundeswehr, des potentiellen westeuropäischen Kriegsschauplatzes einschließlich der dort handelnden Streitkräfte sowie der Rüstungsindustrie der westeuropäischen Staaten. Zur Durchführung ihrer Aufgaben und Erlangung ihrer Informationen bediente sich der Militärische Nachrichtendienst der DDR aller verfügbaren Mittel:
Zu Humint (Human Intelligence) z. B. zählten Militärattachès der DDR und die sogenannten ,Legalisten'. Außerdem Illegale, also DDR-Bürger, die mit einer angenommenen Identität ausgestattet und in die Bundesrepublik und andere NATO-Staaten eingeschleust wurden. Hinzu kamen Agenturische Mitarbeiter - angeworbene Bundesbürger in Schlüsselpositionen der NATO, der Bundeswehr und der Rüstungsindustrie - und schließlich sogenannte Hilfsnetzelemente, die Personen, mit deren Hilfe die Verbindung zu illegalen und agenturischen Mitarbeitern gehalten wurde.

Ein weiteres Mittel stellte Tecint (Technical and Electronical Intelligence) dar. Dem Bereich Aufklärung stand somit ein umfangreiches technisches Potential zur Verfügung. Es konnte auf die Erkenntnisse der Luftaufklärung der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der DDR, der Seeaufklärung der Volksmarine, der Grenzaufklärung der Grenztruppen und des eigenen, in Dessau stationierten, Nachrichtenregiments, das mit modernster Abhörelektronik ausgestattet war, zurückgreifen. Die Sowjetunion stellte außerdem Satellitenaufnahmen zur Verfügung. Ergänzt wurden die v.a. Mittel durch Opsint (Open Source Intelligence): Hierzu zählte die Auswertung allgemein zugänglicher Quellen, wie Tageszeitungen, Nachrichtensendungen und militärwissenschaftlichen und rüstungstechnischen Fachzeitschriften aus dem NATO-Bereich durch das Militärwissenschaftliche Institut der DDR in Berlin-Grünau.

Die gewonnenen Erkenntnisse wurden durch das operativ-taktische Lagezentrum dem Nationalen Verteidigungsrat (NVR) der DDR, dem sowjetischen Militärischen Nachrichtendienst GRU und in Einzelfällen den entsprechenden Diensten anderer Ostblockstaaten zur Verfügung gestellt.

Im Oktober 1990 übergab der letzte Leiter des BA, Generalmajor der NVA Alfred Krause, das Zentrale Dienstobjekt in Ostberlin an die Bundeswehr. Die Geschichte eines fachlich hochqualifizierten und politisch hochmotivierten Nachrichtendienstes hatte ihr Ende gefunden. Auch die Militäraufklärer der DDR hatten deren brüchiges System nicht stabilisieren können.

Wegmanns Buch enthält umfangreiches und detailliertes Material über Aufbau, Struktur, Verwaltung, Finanzierung, Schulungswesen, Kaderpolitik, Bewaffnung und Logistik sowie die Geschichte des militärischen Nachrichtendienstes der DDR, außerdem Kurzbiographien der Leiter von 1952 - 1990. Auch auf die persönlichen Schicksale der DDR-Nachrichtendienstler nach der Wende wird, mitunter sehr verständnisvoll, eingegangen.

Allen, die sich für Geschichte der Nachrichtendienste interessieren, sei dieses Buch empfohlen, auch wenn Bodo Wegmann in seiner ,,Danksagung" (S. 714) schreibt :

,,Oder wüßten Sie, wie ich Ihnen dafür danken könnte, daß Sie das Buch bis hierher gelesen haben ?"

Johann Frömel, Nürnberg


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | August 2006