ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Georg Herbstritt/Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.), Das Gesicht dem Westen zu... DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Bd. 23), Edition Temmen, Bremen 2003, 458 S., geb., 24,80 €.

Dieser Band protokolliert eine Tagung der Abteilung Bildung und Forschung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR im November 2001 in Berlin. Die Behörde stellte die Ergebnisse der seit 1992 laufenden Forschungen zu der ein halbes Jahrhundert andauernden Spionagetätigkeit der DDR gegen die Bundesrepublik Deutschland und ihre militärischen Verbündeten vor. Es handelt sich um eine Bestandsaufnahme der aktuell vorliegenden Erkenntnisse in insgesamt 21 Beiträgen. Die Forschungsergebnisse von Historikern werden mit den Erfahrungen der unmittelbar beteiligten Personen zusammengeführt. So zählen zu den Autoren neben Historikern wie Prof. Manfred Görtemaker, Thomas Auerbach, Dr. Roger Engelmann u.a. auch leitende Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundeskriminalamtes, des Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes. Joachim Lampe, Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, informierte die Teilnehmer der Tagung über die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Spionage. Heinz Busch, zu DDR-Zeiten Oberst und stellvertretender Abteilungsleiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A), referierte über den seinerzeitigen Erkenntnisstand der DDR-Militärs über die NATO.

Im Wesentlichen deckt der vorliegende Band drei Themenfelder ab: den gegenwärtigen Stand der Quellenlage, die historische Entwicklung der DDR-Spionage und die Untersuchung einzelner Spionagekomplexe wie Wirtschafts- oder Militärspionage. Bis zur politischen Wende in der DDR 1989/90 bestand die Quellenlage zur DDR-Spionage aus den Aussagen verhafteter Spione, dem von Überläufern übermittelten Material, den Erkenntnissen der eigenen Dienste und den Mitteilungen befreundeter Dienste. Erst nach der Wende war es möglich, zu einem umfassenden Gesamtbild zu kommen. Heute schätzen alle beteiligten Dienste die Zahl der in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt eingesetzten DDR-Spione auf etwa 20.000.

Rainer O. M. Engberding, Kriminaldirektor im Bundeskriminalamt, schreibt hierzu:

,,Ich glaube, niemand in der alten Bundesrepublik war sich des tatsächlichen Ausmaßes der Spionage durch das MfS voll bewußt." (S. 134)

Der Rezensent ist darüber hinaus der Ansicht: Wäre sich tatsächlich jemand des vollen Ausmaßes der östlichen ,,Aktivitäten" auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik bewusst gewesen, niemand hätte ihm Gehör geschenkt, man hätte von Verfolgungswahn und Entspannungsfeindlichkeit gesprochen und den Betreffenden als ,,unverbesserlichen Kalten Krieger" gebrandmarkt.

Das Gerüst für die Quellenlage bildet die Datenbank ,,SIRA" (SIRA ist das Kürzel für ,,System der Informations-Recherche der Aufklärung"), die im Jahre 1998 entschlüsselt werden konnte. Diese Datenbank besteht vorwiegend aus Statistikbögen und zwei Karteien: Die Statistikbögen enthielten die Registriernummer, den Decknamen und die steuernde Diensteinheit der im Westen tätigen Spione und gaben Aufschluss über Zeitpunkt, Umstände und Motivation der Anwerbung, sowie über Lebensumstände und finanzielle Verhältnisse der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM). Hinzu kommen Angaben über Zielobjekt, Zuverlässigkeit, Sicherheitsprobleme und Verbindungswesen (Deckadressen, Konspirative Wohnungen, Instrukteurverbindungen, Geheimschreibmittel, Kurzwellenfunk).

Ergänzt werden diese Statistikbögen durch die 314.000 verfilmte Karteikarten umfassende Personenkartei (F16-Kartei), auch als ,,Rosenholz-Materialien" bekannt. Die F16-Kartei enthält die Klarnamen der Inoffiziellen Mitarbeiter und des jeweils zuständigen Führungsoffiziers, sowie von Kontaktpersonen der IM. Ergänzt wird diese Kartei durch die Vorgangskartei der HV A (F22-Kartei). Diese Vorgangskartei enthält 63.000 verfilmte Karteikarten mit folgenden Angaben: Vorgangsnummer, Anlegungsdatum der Akte, zuständige Diensteinheit, zuständiger Mitarbeiter der HV A, angelegte Aktenteile, gegebenenfalls Übergabe an andere Diensteinheiten oder Archivverfügungen.

Beide Karteien sind auch elektronisch gespeichert.

Die zur Vorgangskartei gehörigen Akten wurden im Zuge der Selbstauflösung der

HV A zum größten Teile vernichtet oder an den sowjetischen Geheimdienst übergeben. Ein kleiner Teil blieb jedoch erhalten, ein anderer konnte durch mühselige Kleinarbeit restauriert werden. Ein großer Teil der ,,Rosenholz-Materialien" gelangte nach der Wende 1989/90 in die Hände des amerikanischen Geheimdienstes CIA. Ab 1993 erhielten die deutschen Behörden unter der Federführung des Generalbundesanwalts durch den Partnerdienst Zugang zu den ,,Rosenholz-Materialien". Im Jahre 1995 war die Auswertung der ,,Rosenholz-Materialien" durch das Bundesamt für Verfassungsschutz im Wesentlichen abgeschlossen (S. 103).

Die Auswertung durch den Verfassungsschutz erbrachte Erkenntnisse über knapp 2.000 Personen. Eine Vielzahl ehemaliger Stasi-Agenten konnte enttarnt und einem rechtsstaatlichen Strafverfahren zugeführt werden. Bis 1998 konnten 1.553 Verdachtsfälle an den Generalbundesanwalt abgegeben werden, 66 Personen wurden zu Haftstrafen von mehr als zwei Jahren verurteilt (S. 105). Das Hauptziel der Aktion ,,Rosenholz" war jedoch, das Netz der DDR-Spionage aufzudecken und zu neutralisieren, um zu verhindern, dass die ehemaligen Agenten für ausländische Dienste oder terroristische Organisationen tätig werden konnten. Dieses Ziel ist erreicht worden, obwohl die Angehörigen des Verfassungsschutzes bei der Befragung der ehemaligen Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes auf eine ,,Mauer des Schweigens" stießen, so dass man nicht gerade von ,,tätiger Reue" der ehemaligen Stasi-Leute sprechen kann.

Die DDR-Spionage umfasste die klassischen Spionagefelder Spionageabwehr, Politische Spionage, Militärspionage, Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage. Hinzu kommt jener Bereich, den westliche Dienste als ,,covert actions", die DDR aber als ,,aktive Maßnahmen" bezeichnete. Hierzu gehörten Rufschädigung und Verleumdung, Desinformation durch Falschmeldungen, ,,Zersetzung", aber auch Sabotageakte, Sprengstoffanschläge gegen Gebäude und Personen, Menschenraub und Mord. Für die Spionageabwehr war die Hauptabteilung II des MfS zuständig, die ihrerseits wiederum eng mit der Hauptabteilung III (Funk- und Fernmeldeaufklärung des MfS) zusammenarbeitete. Sie überwachte das Autotelefonnetz in der Bundesrepublik Deutschland, das polizeiliche Informationssystem INPOL, den Observationsfunk der westdeutschen Sicherheitsbehörden, die Richtfunktrassen und leitungsgeführten Verbindungen innerhalb der Bundesrepublik und zwischen Westdeutschland und Westberlin (S. 82). Die Politische Spionage und die Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage waren Sache der HV A. Ausspähungsziele der Politischen Spionage waren die Bundesregierung, die Obersten Bundesbehörden, die Länderregierungen, die politischen Parteien sowie ihre Stiftungen und Arbeitsgemeinschaften, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Massenmedien, links- und rechtsextremistische Organisationen, die Vertriebenenverbände und sogenannte ,,Feindzentralen", wie beispielsweise die Vereinigung ,,Hilferufe von drüben", die ,,Arbeitsgemeinschaft 13. August", die ,,Internationale Gesellschaft für Menschenrechte" und andere.

Für die Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage, der in der DDR wegen der ständig knappen Devisenlage und des technisch-wissenschaftlichen Rückstands auf vielen Gebieten, insbesondere auf dem Gebiet der EDV, besondere Bedeutung zukam, richtete die HV A eine eigene Abteilung, den Sektor ,,Wissenschaft und Technik" (SWT) ein. Ausspähungsziele waren vorwiegend technische Innovationen auf den Gebieten der Kernenergie, der EDV, der Luft- und Raumfahrt, der Elektrotechnik, des Kraftfahrzeugbaus und des Werkzeugmaschinenbaus. Erkenntnisse, die die DDR selbst nicht verwerten konnte, reichte sie an die UdSSR und andere Ostblockstaaten weiter. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Bundesrepublik Deutschland und ihren Verbündeten durch die Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage der DDR erheblicher Schaden zugefügt worden ist.

Mit der Tätigkeit der ,,Arbeitsgruppe Sonderaufgaben beim Minister für Staatssicherheit" beschäftigt sich der Beitrag von Thomas Auerbach ,,Sabotage- und Terrorstrategien des MfS gegen die Bundesrepublik":

Bis Ende März 1985 hatte die AGM/S (Arbeits-Gruppe beim Minister/ Sonderaufgaben) 3.500 MfS-Mitarbeiter zum Terrorkampf gegen die Bundesrepublik ausgebildet. Sie wurden ausgebildet als Einzelkämpfer, Sprengstoffattentäter, Kampftaucher und Kampfschwimmer. Zu den ,,Zielobjekten" zählten die Kernkraftwerke Neckarwestheim, Stade, Würgassen, Grundremmingen, Biblis, Phillipsburg, die Kernforschungsanlage Jülich und das Kernforschungszentrum Karlsruhe, die Binnenwasserstraßen, Hochspannungsleitungen, Eisenbahnen und Wasserleitungen in der Bundesrepublik.

Die AGM/S verfügte über Sprengstoffe, Zünder, Brandsätze, Gifte, funkferngesteuerte Sprengfahrzeuge, Sprengtextilien und Reizgase. Der Autor kommt in seinem Resümee zu dem Schluss:

"Umfang und Intensität der über Jahrzehnte betriebenen Aktivitäten machen deutlich, daß es sich keineswegs um Sandkastenspiele handelte: Die Bedrohung war real." (S. 238)

Der Rezensent möchte sich jedoch vorwiegend mit dem Phänomen der Militärspionage befassen, da hierzu Stellungnahmen der ehemaligen ,,Gegner" vorliegen und der Vergleich die vorhandenen Widersprüche deutlich macht.

Die Militärspionage teilten sich das Ministerium für Staatssicherheit und das Ministerium für Nationale Verteidigung (MfNV) der DDR. Der ,,Bereich Aufklärung" unter dem General Alfred Krause unterstand dem MfNV, allerdings hatten sich die Stasi-Leute ihren Einfluss dadurch gesichert, dass sie zahlreiche ,,Verbindungsoffiziere" in den ,,Bereich Aufklärung" lancierten. Dennoch handelte es sich um einen eigenständigen militärischen Nachrichtendienst; das MfS, in erster Linie eine Geheimpolizei zur Bespitzelung und Unterdrückung der Bevölkerung der DDR, verfügte nun einmal trotz allen militärischen Gehabes nicht über die erforderlichen militärischen Kenntnisse.

Später - nach 1982 - unterhielt allerdings auch die HV A des MfS eine Abteilung für Militärspionage.

Gegenübergestellt werden sollen die Beiträge des Leiters der Spionageabwehrabteilung des MAD, Oberst Joachim Zöller, und des ehemaligen Chefauswerters der Hauptverwaltung Aufklärung" des MfS DDR, Oberst i. R. Heinz Busch.

Gegenstand der Militärspionage ist nach der Definition von Oberst Joachim Zöller die ,,Aufklärung des militärpolitischen und strategischen Bereichs, Absichten und militärische Einsatzplanungen, Rüstungsplanungen und Entwicklungen, Fragen der personellen und materiellen Ausstattung von Streitkräften, bis hin zur Motivation ihrer Soldaten" (S. 204).

Die DDR war in dieser Hinsicht sehr erfolgreich. Sie hatte Informationen über die Einschätzung der gegnerischen Kräfte durch die NATO, über die erwarteten Kriegsformen und Warnzeiten, über die militärische Konzeption der NATO und der Bundeswehr, die Beurteilung des Einsatzwertes der Truppen des Warschauer Paktes, die spezielle Bewertung des Einsatzwertes einzelner Verbände, über den Zeitbedarf für Mobilmachung und Aufmarsch, über Mängel, Schwächen und Rückstände in den Bereichen Material und Personal (S. 211). Insgesamt ,,betreute" die Militärspionage der DDR mehr als 1.700 ,,Aufklärungsobjekte". In der EDV der Militärischen Aufklärung der DDR waren im Jahre 1990 etwa 500.000 Datensätze über Streitkräfte, Rüstungspolitik sowie über militärische und politische Funktionsträger gesammelt. Die Daten gelten als äußerst präzise. Zur Informationsgewinnung standen neben den eingesetzten Spionen auch technische Quellen zur Verfügung: die funktechnische Aufklärung der NVA, die Luftaufklärung der NVA, die Seeaufklärung der Volksmarine und die Grenzaufklärung der Grenztruppen und der ,,Grenzbrigade Küste", deren Ergebnisse in Operativ-Taktischen Lagezentrum (OTakL) des MfNV zusammengefasst wurden. Westliche Fachbücher, Fachzeitschriften, Rundfunk- und Fernsehsendungen wurden ausgewertet.

Die gewonnenen Erkenntnisse kamen natürlich nicht nur der DDR, sondern auch der Sowjetunion zugute. Egon Bahr äußerte später: "Die westliche Verteidigung barg keine Geheimnisse für den Osten." (S. 222) Oberst Joachim Zöller vom MAD schreibt, dass die Militärspionage der NVA für die Staatsführung der DDR einen besonderen Stellenwert hatte, da ihre Ergebnisse von existentieller Bedeutung im Kalten Krieg waren. Jedoch hätten die Aufklärungsergebnisse auch dazu gedient, wider besseres Wissen die These von der ,,aggressiven" NATO und der ,,imperialistischen" Bundesrepublik zu untermauern. Recherche-Ergebnisse seien in dieser Hinsicht verfälscht oder bewusst ignoriert worden, wenn sie nicht diesem Bild entsprochen hätten.

Die HV A des MfS unterhielt jedoch auch eigene ,,Organe" für Militärspionage. Der ehemalige DDR-Offizier Heinz Busch (HV A des MfS) bewertet die Arbeit seiner eigenen Dienststelle so, dass seine Leute der politischen Führung der DDR und des Warschauer Paktes ,,ein ungeschminktes, weitgehend realistisches und fundiertes Bild zur Lage, zu den Absichten und den militärischen Potenzen der NATO für die politische Entscheidungsfindung und die militärische Entschlussfassung" zur Verfügung gestellt hätten. Dies sei auch aus rückwirkender Sicht nochmals zu bekräftigen (S. 244). Sicher eröffnet sich hier noch ein weites Feld für die wissenschaftliche Forschung, insbesondere die der Militärhistoriker.

Dieses Buch sollte jedoch darüber hinaus für alle, die sich mit zeitgeschichtlicher Forschung und mit der Geschichte der deutschen Teilung und Wiedervereinigung befassen, den Charakter eines Handbuchs bekommen. Es bietet den Beweis dafür, dass nachrichtendienstliche Tätigkeit keine Randerscheinung der allgemeinen Politikgeschichte oder der Militärgeschichte darstellt, sondern ihrer Geschichte in Zukunft weit mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muss, als dies bisher der Fall war. Dem interessierten Laien eröffnet sich ein Einblick in die Tätigkeit der Nachrichtendienste.

Ein Abkürzungsverzeichnis, ein Personenregister und die Kurzbiografien der Autoren runden das Werk ab. Das Personenregister hätte sicher an Aussagekraft gewonnen und dem Leser die Arbeit erleichtert, wenn man den Decknamen der Inoffiziellen Mitarbeiter die entschlüsselten Klarnamen beigefügt hätte. Eine Bibliografie der in den einzelnen Beiträgen als Fußnoten angegebenen Literatur wäre ebenfalls wünschenswert gewesen, selbst wenn hierdurch der Preis des Buches etwas gestiegen wäre. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Leser zu einem soliden Preis und in solider Ausstattung ein umfangreiches Werk über die Tätigkeit der Geheimdienste in der Nachkriegsära erhält.

Johann Frömel, Nürnberg

Johann Frömel, Nürnberg


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