ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ellen Thiemann, Der Feind an meiner Seite. Die Spitzelkarierre eines Fußballers, mit einem Geleitwort von Joachim Gauck, F.A. Herbig Verlag, München 2005, 366 S., kart., 22,90 €.

Das nachstehend rezensierte Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung zur Geschichte der DDR. Es können daher auch seitens des Rezensenten fairer Weise nicht die Maßstäbe angelegt werden, die für eine wissenschaftliche Veröffentlichung gelten. Dennoch ist manches zu monieren: Ein Verzeichnis der zitierten Stasi-Akten mit Datum und Aktenzeichen fehlt, Presseberichte werden ohne Angabe von Jahrgang, Seitenzahl und Titel des Artikels zitiert, andere Veröffentlichungen hätten in einer kleinen Bibliografie erfasst werden können. Im beigefügten Personenverzeichnis fehlen die Decknamen der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) unter Zuordnung des Klarnamens. Für die Leserinnen und Leser in den westlichen Bundesländern hätte sich wahrscheinlich auch ein kleines Verzeichnis der gebräuchlichsten DDR-Abkürzungen empfohlen - handelt es sich hier doch um ein Buch, das einen möglichst breiten Leserkreis erreichen soll. Woher soll ein Hesse oder Bayer schließlich wissen, was einen ,,GMS" (,,Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit") von einem ,,IMB" (,,Inoffizieller Mitarbeiter mit Feindberührung") unterscheidet oder dass ,,RF" das gebräuchliche Kürzel für ,,Republikflucht" war ?

Es handelt sich bei diesem Buch um die persönliche und stark von Emotionen geprägte Abrechnung einer Frau mit ihrem Ex-Mann, der von 1973 bis 1990 als Spitzel für das MfS tätig war. Die Autorin war und ist Sport- und Modejournalistin, sie ist mit der Praxis journalistischer Arbeit vertraut, was der Lesbarkeit des Buches bei dem mitunter äußerst spröden Stoff (IM-Akten des MfS) zugute kommt. Gründliche Recherchearbeit und objektive Aufarbeitung der Fakten machen das Buch zu einem wichtigen Dokument für die Sportgeschichte der DDR und die Geschichte der innerdeutschen Beziehungen in der Zeit des Kalten Krieges.

Selbstverständlich fand beiderseits des Eisernen Vorhangs der Kalte Krieg im Sport seinen Ausdruck. Der Rezensent erinnert sich an die Zeiten, in denen westdeutsche Fans randalierten, wenn DDR-Sportler (,,Zonensportler") Erfolge errangen und die Staatshymne der DDR (,,Becherhymne") gespielt sowie die Staatsflagge der DDR (,,Spalterflagge") gehisst wurde. Mit welcher Perfidie allerdings das MfS die gesamtdeutschen Sportkontakte, von vielen Deutschen auf beiden Seiten als Rest wünschenswerten nationalen Zusammenhalts empfunden, seinen politischen Zwecken unterzuordnen versuchte, dafür liefert die Biografie des ,,Dynamo"-Spitzensportlers, DDR-Sportjournalisten und Stasi-Spitzels Klaus Thiemann ein erschütterndes und überzeugendes Beispiel.

Ellen Thiemann wurde 1937 in Dresden geboren. 1960 heiratete sie den DDR-Spitzensportler und Sportjournalisten Klaus Thiemann. Am 29. Dezember 1972 wurden Klaus und Ellen Thiemann wegen ,,Vorbereitung zur Republikflucht" verhaftet. Ihr Mann, den sie bei den Verhören deckte, kam nach kurzer Zeit wieder frei. Ellen Thiemann wurde am 22. Mai 1973 zu drei Jahren und fünf Monaten Zuchthaus verurteilt. Davon verbüßte sie zweieinhalb Jahre im berüchtigten Frauenzuchthaus Hoheneck bei Stollberg in Sachsen. 1984 erschien ihr Buch ,,Stell Dich mit den Schergen gut - Erinnerungen an die DDR", in dem sie über ihre Haftzeit in Hoheneck berichtet. Sie wurde am 29. Mai 1975 zunächst nach Ostberlin entlassen und ließ sich am 8. Juli 1975 von ihrem Mann scheiden, der zwischenzeitlich mit einer anderen Frau zusammenlebte. Am 19. Dezember 1975 konnte sie durch Vermittlung des Rechtsanwalts Wolfgang Vogel über den Bahnhof Friedrichstraße zunächst nach Westberlin und danach in die Bundesrepublik ausreisen. Seit 1975 lebt Ellen Thiemann in Köln. 1992 beantragte sie Akteneinsicht bei der ,,Gauck-Behörde", wie die Einrichtung des/ der ,,Bundesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik" nach ihrem ersten Vorsitzenden, dem ehemaligen Bürgerrechtler Joachim Gauck, im Volksmund allgemein benannt wurde.

Im Januar 1973 nahm das MfS erstmals Kontakt mit Klaus Thiemann, dem Ehemann der zu dieser Zeit in U-Haft bei der Staatssicherheit einsitzenden Ellen Thiemann, auf - in der Absicht, ihn für eine Tätigkeit als Spitzel anzuwerben. Noch wurde er als ,,Kontaktperson" in den Akten geführt, aber bereits im Januar 1973 muss er Spitzelaufträge für die Stasi ausgeführt haben, wie aus einem Bericht von MfS-Oberstleutnant Gerlach vom 15.10.1973 hervorgeht:

Von diesem Zeitpunkt an war aus der Kontaktperson ,,Klaus" der IM ,,Mathias" geworden, dessen ,,inoffizielle Mitarbeit" erst am 15. Dezember 1989 durch seine ,,Entpflichtung" aus den Diensten des MfS endete. Sein Führungsoffizier, MfS-Oberstleuntnant Gerhard Radeke, berichtete an seine Vorgesetzten über diesen Vorgang:

Noch am gleichen Tage, dem 15.Dezember 1989, folgte der Redakteur des ,,Deutschen Sportecho" Klaus Thiemann gemeinsam mit dem Rundfunk- und Fernsehreporter Heinz-Florian Oertel einer persönlichen Einladung der Redaktion der ,,Bild"-Zeitung zur offiziellen Weihnachtsfeier von ,,BILD" und knüpfte erste Kontakte zu seinem zukünftigen Arbeitgeber. 1991 wurde Klaus Thiemann bei ,,BILD" eingestellt und arbeitete bis 1999 in der Westberliner Redaktion der Zeitung. DDR-Sportredakteure wurden vor ihrer Einstellung bei Springer nicht auf Stasi-Aktivitäten überprüft. Über Klaus Thiemann und seine ,,Aufgaben" hieß es:

Und wie beschrieb das MfS die ,,Aufgaben" Thiemanns? Bereits 1973 hatten die Führungsoffiziere Gerhard Radeke und Hans-Dieter Pleul die Schwerpunkte festgelegt:

Was in dieser ,,To-Do-Liste" des MfS besonders auffällt, ist der ungewöhnlich häufige Gebrauch des Begriffs ,,Kontakte": Klaus Thiemann muss wohl seitens der Führungsoffiziere als äußerst ,,kontaktfreudiger" Mensch eingeschätzt worden sein.

In der abschließenden Beurteilung über Thiemann durch das MfS heißt es:

Ellen Thiemann erbringt in ihrem Buch den Beweis dafür, dass Klaus Thiemann nicht nur die Clubkameraden aus dem eigenen Verein, sondern auch aus anderen Fußballvereinen der DDR, westdeutsche Fußballvereine, Sportjournalisten und Fußballfans, bespitzelt hat und auch ,,aktiv" - meistens durch Karriereverhinderung - auf die Schicksale einzelner Fußballer und Sportfunktionäre Einfluss genommen hat. Sie kritisiert auch das Verhalten der bundesdeutschen Justiz, die zahlreiche Strafanträge gegen ihre ehemaligen Peiniger aus rechtsstaatlichen Gründen zurückweisen musste - in den meisten Fällen, weil die Beweislage eine Anklageerhebung nicht zuließ.

Ein Kapitel widmet sie der 2004 geplanten Umwandlung des ehemaligen Frauenzuchthauses Hoheneck, für zahlreiche Opfer der nationalsozialistischen und der kommunistischen Diktatur auf deutschem Boden mit grauenhaften und traumatisierenden Erinnerungen verbunden, in eine Spaß- und Eventburg durch einen saarländischen Investor. Sie zitiert den Beitrag der Journalistin Gabi Thieme in der Chemnitzer ,,Freien Presse" vom 14. September 2004:

Das Vorhaben konnte durch gemeinsame Anstrengungen der Verbände der ehemaligen politischen Häftlinge und der Stiftung Sächsische Gedenkstätten gerade noch verhindert werden, der Investor zog sich zurück. Dies rief allerdings bei einem Teil der Einwohnerschaft der Stadt Stollberg Unmut hervor, die auf ein lohnendes Investitionsobjekt für den Tourismus gehofft hatten. Ellen Thiemann betont jedoch ausdrücklich, dass sie gegen eine sinnvolle Investition, bei der der Respekt vor den Leiden der Opfer gewahrt wird, nichts einzuwenden habe (S. 355).

Die Klage über den mangelnden Respekt vor den Leiden der Opfer und über die allgemein übliche Verharmlosung der Täter des SED-Regimes durchzieht das ganze Buch. Dazu schreibt Joachim Gauck in seinem Geleitwort, dass angesichts der ,,Dreistigkeit der in der Regel gut davongekommenen Schergen und Spitzel" und der ,,künstlich unschuldigen Rückblicke der Nostalgiker" noch viele Leute über die ,,Spuren und Einflüsse der schäbigen Despoten, die zu DDR-Zeiten über uns herrschten", berichten sollten und kommt zu dem Fazit:

Auch der Rezensent, selbst ehemaliger politischer Häftling aus der DDR, wünscht dem Buch trotz einiger Vorbehalte einen großen Leserkreis.

Johann Frömel, Nürnberg


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