Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Renate Hürtgen, Zwischen Disziplinierung und Partizipation. Vertrauensleute des FDGB im DDR-Betrieb, Böhlau Verlag, Köln etc. 2005, 353 S., geb., 42,90 €.
Renate Hürtgen hat hier weit mehr als eine Geschichte der Vertrauensleute in der DDR vorgelegt. Indem sie den Schwerpunkt auf betriebliche Herrschaftspraxen in den 1970er- und 1980er-Jahren legt, hat sie eine empfindliche Forschungslücke aufgefüllt. So sind wir zum einen mittlerweile vergleichsweise gut über die Arbeitergeschichte von den späten 1940er- bis in die 1960er-Jahre informiert - also über eine Phase, von der allgemein angenommen wird, dass alle wesentlichen Weichenstellungen für die Ausprägung des Herrschafts- und Gesellschaftssystems der DDR abgeschlossen worden seien. Zum anderen verdanken wir der Transformationsforschung viele wichtige Erkenntnisse über die Wendezeit 1989/90 sowie die daran anschließenden Jahre. Die 1970er- und 1980er-Jahre jedoch, als eine Periode, in der scheinbar nichts passiert sei, liegen immer noch eigentümlich im Dunkeln. (1)
Die DDR war eine ,,Funktionärsgesellschaft" (S. 9) im doppelten Sinne: Kennzeichen waren erstens eine Verschmelzung von Partei-, Gewerkschafts- und Staatsaufgaben und zweitens, eine derart massenhafte Verteilung von Funktionen, dass vermutlich ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung der DDR zumindest einmal in ihrem Berufsleben ein Ehrenamt ausgeübt haben dürfte. Die Bedeutung dieses Phänomens bekommt Hürtgen durch ihren Ansatz in den Blick. Weit entfernt von einem totalitarismustheoretischen Herrschaftsverständnis, das mit seiner dichotomischen Aufteilung in Herrscher und Beherrschte für das Massenphänomen der ehrenamtlichen Funktionäre keinen Platz hat, tappt Hürtgen genauso wenig in die Falle neuerer Lebenswelt- und Milieuforschung, in denen Arbeitern ein allzu großes Ausmaß an Autonomie zugesprochen wird. (2) Jenseits solcher zu einfacher Antworten leuchtet Hürtgen das Spannungsfeld von Disziplinierung und Partizipation empirisch konkret aus und beherzigt dabei, dass Herrschaft zwar auch in der DDR ein Aushandlungsprozess war, aber eben immer ein asymmetrischer, in dem die Beherrschten den Durchherrschungsansprüchen der SED-Spitze zwar Grenzen setzen konnten, die Bedingungen und Spielregeln des Aushandlungsprozesses allerdings wesentlich von oben gesetzt wurden (S. 18).
Im Einzelnen behandelt Hürtgen zunächst - auf immerhin 75 Seiten - das ,,Vorfeld" zwischen 1946 und 1970. Dabei geht sie davon aus, dass die politischen und wirtschaftlichen Strukturen in der Tat innerhalb weniger Jahre etabliert gewesen seien, die Gesellschaft sich aber noch stark von der der 1970er-Jahre unterschieden habe. Als historische Bruchstelle gilt ihr der 17.6.1953: Hier sei das letzte Mal ein allgemeiner und selbstverständlicher Bezug der Beschäftigten auf Arbeiterbewegungstraditionen aus der Zeit vor 1933 festzustellen gewesen (S. 60). Danach hätten Repressionen und Überwachung dafür gesorgt, dass Protestformen immer individueller und weniger nachweisbar, politische Inhalte hingegen tabu geworden seien (S. 67). Für die 1960er-Jahre nimmt Hürtgen die in der Forschung häufig gestellte Frage auf, ob die Reformen dieses Jahrzehnts nach dem Mauerbau - konsequent verwirklicht - der DDR noch eine andere Entwicklung hätten bescheren können. Dies verneint Hürtgen klar und kritisiert, dass die Belegschaften auf der Suche nach Gründen für das Scheitern der Wirtschaftsreformen bisher ungenügend in den Blick gekommen seien: Eine moderne Industrie komme eben - so ihre These - ohne einen sich partizipatorisch verhalten könnenden Beschäftigten, ,,einen, der seine Interessen offen, kollektiv und organisiert einbringen kann", nicht aus (S. 94).
Im zweiten, 200 Seiten umfassenden Kapitel geht es um die 1970er- und 1980er-Jahre. Behandelt werden auf der betrieblichen Ebene Fragen der sozialen Ungleichheit innerhalb der Arbeiterschaft, Sozialpolitik, die Rolle der Gewerkschaften sowie insbesondere der Vertrauensleute, die Überwachungsstrategien der Staatsicherheit und die Entwicklung von Konfliktlösungsstrategien. Hürtgen zeigt dabei, wie neue Unterschiede innerhalb der Arbeiterschaft in Arbeitsbedingungen und Löhnen aufgrund von Ausbildungs- und Qualifizierungsprogrammen sowie einer selektiven Investitionspolitik entstanden, welche von den Beschäftigten als ungerecht, weil nicht dem Leistungsprinzip entsprechend, empfunden wurden. Die betriebliche Sozialpolitik habe kaum für mehr Zufriedenheit gesorgt: Sie habe oftmals Erwartungen geweckt, die nicht erfüllt werden konnten; ihre Leistungen waren juristisch nicht einklagbar und hätten vielfach zur Festigung von Ungleichheit beigetragen. Von der gewerkschaftlichen Betriebsarbeit werden vor allem die Wettbewerbe und Schulen der sozialistischen Arbeit behandelt. In Bezug auf die Staatssicherheit stellt Hürtgen fest, dass es nirgendwo sonst ein dermaßen gut ausgebautes Informations- und Kontrollnetz wie in den Betrieben gegeben habe (S. 212). Entsprechend gestaltete sich das Konfliktverhalten der Beschäftigten. Streiks nahmen immer weiter, auch in der Zahl ihrer Beteiligten, ab und hatten in ihrer Zielsetzung einen ausschließlich defensiven Charakter; Konfliktkommissionen blieben von Seiten der Beschäftigten fast ungenutzt; Eingaben hingegen wurden zu einem massenhaften Mittel, wobei aber sowohl die Kollektiveingabe wie auch grundsätzlichere Argumentationen entsprechend dem damit verbundenen Verfolgungsdruck die Ausnahme blieben. Als Partizipationsmöglichkeit könnten Petitionen ohnehin nur gelten, so Hürtgen, wenn sie Bestandteil eines breiten Spektrums möglicher Formen der Interessendurchsetzung seien. Seien sie hingegen wie in der DDR das hauptsächliche Mittel und zudem nicht öffentlich, so sei ihre Wirkung nicht nur beschränkt, sondern habe auch als Instrument des Staates zur Überwachung sowie zur Kanalisation von Unzufriedenheit zu gelten (S. 295).
Im dritten, 20 Seiten umfassenden Kapitel skizziert Hürtgen die Entwicklungen im Betrieb von 1989/90. Die ,,betriebliche Wende" habe zeitversetzt stattgefunden, da sich hier im Vorfeld des Herbstes 1989 entsprechend einer von Überwachung geprägten Betriebskultur keine oppositionellen Gruppen hätten herausbilden können, die nun handlungsbereit gewesen wären. Eine erkennbare Funktion in der Wendezeit erhielten aber einige gewerkschaftliche Vertrauensleute - ganz im Gegensatz zu dem von hauptamtlichen Funktionären getragenen FDGB-Apparat, der innerhalb kürzester Zeit implodierte. Dabei hatten die Vertrauensleute seit der DDR-Gründung deutlich ihr Profil verändert. Um 1950 war der typische Vertrauensmann jung, männlich und SED-Mitglied gewesen (S. 47). Nach 1953 verloren die Vertrauensleute deutlich an Bedeutung und Ansehen (S. 68, 86-91). Erst in den 1970er-Jahren aktualisierte sich ihre Rolle als Verteiler sozialer Güter und Dienste wieder: Sie waren nun als Teil des staatstragenden Apparates zuständig für sozialen Ausgleich und Harmonie am Arbeitsplatz. Entsprechend dieser Funktion hatte sich das Sozialprofil geändert: Vertrauensleute waren nun - passend zum historisch gewachsenen Rollenverständnis - überwiegend Frauen; typisch war die weibliche Angestellte mittleren Alters ohne SED-Zugehörigkeit (S. 178-180). 1989 versuchten einige dieser Vertrauensleute eine demokratische Initiative in ihren Betrieben zu beginnen (S. 314). Am deutlichsten aber traten Vertrauensleute im Sommer 1990 in Erscheinung, als sie sich in den Sozialausschüssen der Betriebs- und Personalräte für eine ,,gerechte" Entlassungspraxis einsetzten, um dann aber in den Betriebsratswahlen von 1992/93 einem neuem Funktionärstypus Platz zu machen (S. 320).
Hürtgens Leitmotiv, ihre Frage nach dem Ineinanderspiel von Partizipation und Disziplinierung auf dem Feld der gewerkschaftlichen Basisarbeit, hat sich als fruchtbar erwiesen - hier finden sich die vielleicht wichtigsten Erkenntnisse des Buches. Tatsächlich lässt sich auch die DDR nicht ohne Partizipation denken: Keine Diktatur kann mit der Gewalt von Panzern allein aufrecht erhalten werden; keine moderne Industriegesellschaft kommt ohne aktive Teilhabe ihrer Beschäftigten aus. Das heißt, es ging für die SED-Diktatur nicht darum, innerhalb einer ansonsten ,,stillgelegten" Gesellschaft nur eine scheinbare Massenzustimmung auf Großdemonstrationen zu mobilisieren, sondern sie war tatsächlich auf die Motivation der Lohnarbeiter angewiesen, musste dies aber erreichen - und das war ihr eigentliches Dilemma - , ohne das grundsätzliche Herrschaftsgefüge zu gefährden (S. 102). Mit einer oftmals ohnehin dysfunktionalen Sozialpolitik ließ sich dieses Problem nicht lösen. Wie die SED-Herrschaft im Alltag funktionierte und warum sie schließlich doch scheiterte, das lässt sich am Beispiel der Vertrauensleute gut nachvollziehen. Ihre Funktionen waren über die Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit sowohl disziplinierend wie auch in ihrer Rolle, ein gutes Klima am Arbeitsplatz zu schaffen, pazifizierend. Eine integrierende Funktion - und das war wohl ihre wichtigste Aufgabe innerhalb des Herrschaftsgefüges der SED - erfüllten sie aber über ihre schiere Existenz. Indem sich massenhaft Menschen auf die Übernahme einer solchen Funktion einließen, partizipierten sie am System - ihre winzig kleine Machtteilhabe stützte damit auch die SED-Herrschaft ab. Vertrauensleute selbst können als zumindest minimal mobilisiert gelten, wenn sie auch aufgrund ihrer geringen Kompetenzen nicht selbst mobilisierend auf Gewerkschaftsmitglieder wirken konnten. Zugleich sollte sich aber selbst diese kaum noch zu erkennende Kompetenzzuweisung für die SED als Problem erweisen: Als ihre Macht 1989 zu wanken begann, waren Vertrauensleute gemäß ihres in ihrer Funktion erworbenen Selbstverständnisses tendenziell aktiver als die restlichen Beschäftigten, Interessenvertretung zu betreiben - nun auch gegen die SED.
Diesem gut lesbar und engagiert geschriebenen Buch wünscht man viele Leser. Es ist nicht nur für die relevant, die sich für ostdeutsche Gewerkschaften im engeren Sinne interessieren. Vielmehr dürfte es für alle von Interesse sein, die besser verstehen wollen, wie diese zweite deutsche Diktatur des 20. Jahrhunderts in einem wichtigen Teilbereich ihrer Praxis tatsächlich funktionierte.
Helke Stadtland, Bochum
Fußnoten:
1 Erste, übergreifende Versuche hat nicht zuletzt Renate Hürtgen selbst vorgelegt, Vgl. insb. Renate Hürtgen/Thomas Reichel (Hrsg.), Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker, Berlin 2001; Bernd Gehrke/Renate Hürtgen (Hrsg.), Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989. Die unbekannte Seite der DDR-Revolution. Diskussion - Analysen - Dokumente, Berlin 2002.
2 Vgl. Peter Alheit/Hanna Haack, Die vergessene ,,Autonomie" der Arbeiter. Eine Studie zum frühen Scheitern der DDR am Beispiel der Neptunwerft, Berlin 2004.