ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ingrid Kerz-Rühling/Thomas Plänkers, Verräter oder Verführte. Eine psycho-analytische Untersuchung Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi, Christoph Links Verlag, Berlin 2004, 245 S., kart., 19,90 €.

Zu DDR-Zeiten war der Inoffizielle Mitarbeiter (IM) ein nur innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) geläufiger Begriff. Erst mit dem Zusammenbruch der DDR kam der ,,Typus IM" durch Aufdeckungen der Praktiken des MfS überhaupt ans Tageslicht. Seitdem steht er gemeinhin als Symbol für die moralische Verwerflichkeit eines Staates, dessen politische Stabilität in erster Linie auf der Ausnutzung menschlicher Ängste und Bedürfnisse aufbaute. Bereits 1992 erklärte der ostdeutsche Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz die IM zu ,,schwarzen Schafen" der Nation. Damit verwies er auf unbewusste psychische Prozesse der Schuldverschiebung, die Tendenzen einer Sündenbock-Jagd hatten und ehemalige DDR-Bürger vor der Erkenntnis der eigenen Unterwerfung und Anpassung retten sollten.

Mit dem vorliegenden Band wollen nun zwei westdeutsche Psychotherapeuten des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts vor allem den unbewussten Motivationen der IM nachgehen, um zu verstehen, wodurch sie zum Ausspionieren von Freunden und Kollegen verleitet wurden. Anhand psychologischer Tests und psychoanalytisch orientierter Interviews werden die psychischen Voraussetzungen sowie die familiären Bedingungen herausgearbeitet, die eine Empfänglichkeit für die Zusammenarbeit mit dem MfS geschaffen haben sollen. Nach kurzer historischer und methodischer Einleitung werden die Interviews zunächst zusammengefasst, es folgt eine Gesamtbeurteilung anhand ausgewählter Gesichtspunkte, danach ein Vergleich zwischen Stasi-Akten und Interviews. Im letzteren erwähnten Teil werden die, von Helmut Müller-Enbergs, Mitarbeiter der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, zusammengefassten Akten von den Autoren kommentiert. Ohne Kriterien für deren Auswahl anzugeben, werden zwei Einzelfälle mit längeren Auszügen aus den Interviews näher geschildert. Abschließend gehen die Autoren auf einige politische und gesellschaftliche Aspekte ein, die den psychoanalytischen Ansatz dieser Studie ergänzen.

Untersuchungsgegenstand sind zwanzig ehemalige IM, die aus unterschied-lichsten Gründen und zu verschiedenen Zeiten mit dem MfS zusammengearbeitet hatten. Obwohl etwa 90 Prozent der IM Männer waren, sind fast die Hälfte der in dieser Studie vorgestellten IM Frauen. Die Dauer der IM-Tätigkeit reicht von knapp einem Jahr bis über dreißig Jahre, die Motive setzen sich aus politischen und psychologischen Faktoren zusammen, wobei letztere nach Aktenstudium für das MfS bei der Auswahl der IM-Kandidaten zu überwiegen scheinen. Die wenigsten IM mussten erpresst werden, auch wenn manche sich bei der Anwerbung bedrängt fühlten und glaubten, keine Alternative zu haben. Vielmehr gelang es dem MfS durch psychologische und geheimdienstliche Erforschung IM-Kandidaten zu identifizieren und herauszufinden, wie sie zu motivieren waren. Das Versprechen persönlicher Vorteile war einer von vielen Gründen für die Zusammenarbeit. Da das MfS häufig Personen aus Kinderheimen und gebrochenen Familien gewann, suchten viele auf diese Weise angeworbene IM bei ihrem Führungsoffizier Fürsorge oder Liebe. Es wundert nicht, wenn diese IM, die besonders labile Selbstwertgefühle oder auch depressive Tendenzen zeigten, durch ihre IM-Tätigkeit eine Aufwertung der Persönlichkeit erlebten. Auch überzeugte SED-Mitglieder, die an der Macht partizipieren wollten und ein starkes Geltungsbedürfnis hatten, sahen in ihrem Führungsoffizier einen Ansprechpartner und glaubten mit ihrer Zusammenarbeit `der guten Sache' zu dienen. In vielen Fällen spielten auch die Angst vor Strafmaßnahmen, Erwartung von Belohung oder Befriedigung von Hass- und Rachegefühlen eine nicht unbedeutende Rolle. Das war das psychologisch oder politisch Verführerische an geheimdienstlicher Arbeit, die sowohl persönliche Bedürfnisse als auch Bedrängnisse ausnutzte und Verratsbeziehungen herbeiführte.

Es ist nicht überraschend und gewiss nicht falsch, wenn zwei Psychoanalytiker unbewusste Motivationen hauptsächlich in Persönlichkeitsstrukturen und traumatischen Kindheitserfahrungen entdecken. Es werden aber die politischen und sozialen Rahmenbedingungen in dieser Studie zu wenig berücksichtigt, sodass der Eindruck entstehen könnte, allein die Persönlichkeit des Einzelnen sei ausschlaggebend für eine Tätigkeit als IM. Erst in den abschließenden Bemerkungen behandeln die Autoren die von staatlichen Institutionen durchgeführte Erziehung zum sozialistischen Menschen, die kollektives Denken und Handeln forderte und die individuelle Eigenständigkeit stark einschränkte. In der Studie wird festgestellt, dass IM in vielen Fällen nach wie vor psychisch belastet sind, sich zu Sündenböcken gemacht fühlen, eher Scham- als Schuldgefühle wegen ihrer IM-Tätigkeit empfinden, und sich durch partiell unbewusste Abwehrmechanismen vor der Aufarbeitung der eigenen Schuldgefühlen schützen. In ihren Lebensgeschichten nimmt das eigene Leid einen großen Raum ein, oft als Rechtfertigung vergangenen Handelns oder als Klage über berufliche und persönliche Nachteile nach der Wende.

Es ist bedauerlich, dass die Autoren das `psychoanalytisch orientierte Interview' nicht näher definieren und die Interviewfragen als Anhang hinzufügen, um dem Leser einen genaueren Einblick in ihre Fragestellung zu geben und zu verdeutlichen, wie sich eine psychoanalytische Vorgehensweise von anderen qualitativen, sozialwissenschaftlichen Datenerhebungen unterscheidet. An einigen Stellen liegt die Vermutung nahe, dass die unbewussten Motivationen aus suggestiven Interviewfragen hervorgehen, wie in folgender Textstelle: ,,Auf meine Frage, ob er sich als der rechte Arm des Vaters gefühlt habe, antwortete Herr Voss: ,Ich war der rechte Arm des Vaters....'" (S. 207).

Dass Kerz-Rühling und Plänkers um Objektivität bemüht sind, zeigt sich in ihrer Selbstreflexion bezüglich der Dynamik zwischen westdeutschen Psychoanalytikern und ostdeutschen Interviewpartnern, wie auch in der Miteinbeziehung einer Expertengruppe von fünf Psychoanalytikern (darunter soweit erkennbar kein ehemaliger DDR-Bürger wie z. B. Maaz) die eine Gesamtbeurteilung sowohl für die durchgeführten psychologischen Tests als auch für jedes Interview erarbeiteten. Korrekterweise verstehen sich die Autoren weder als Ankläger noch als Verteidiger. Eine unbewusste westdeutsche Sichtweise bricht trotzdem an einigen Stellen hervor, an anderen Stellen teilen sie die Ansichten ihrer Interviewpartner, sodass letztendlich eine mehr oder weniger bilanzierende Darstellung überwiegt. Die Autoren zeigen insgesamt ein hohes Maß an Verständnis für die damaligen Konflikte, Ängste und Bedürfnisse der IM, die zu einer Zusammenarbeit mit dem MfS führten. Sie bleiben aber durchaus quellenkritisch, wenn sie die Motive der IM für die Teilnahme am Projekt oder die inhaltlichen Diskrepanzen zwischen Akten und Interviews besprechen.

Es fragt sich, ob der erhoffte Beitrag zum besseren Verständnis der psychologischen Auswirkungen der SED-Diktatur gelingen kann, wenn die Perspektive auf die IM beschränkt ist. Zwar würde es den Rahmen dieser Studie sprengen, aber die oft wiederholten Behauptungen der IM, niemandem geschadet zu haben, können durch die Aktenlage allein weder bestätigt noch widerlegt werden. Nur die Observierten wissen, inwieweit die Treffberichte, die die Mosaiksteine eines vom IM streng geheim gehaltenen Maßnahmeplans bildeten, ihnen geschadet haben. Dies gilt besonders, wenn Schaden nicht nur mit Verhaftung gleichgesetzt wird, sondern die psychologischen Folgen von Observierung und Zersetzungsstrategien für die Observierten zu DDR-Zeiten, wie auch die Entdeckung von Verrat und Vertrauensmissbrauch nach Akteneinsicht umfasst.

Ohne Zweifel hat die Menschenfeindlichkeit des autoritären Herrschaftssystems der DDR tiefe Spuren im Seelenleben vieler ehemaliger DDR-Bürger hinterlassen. Das trifft für die IM zu, wie auch für die Menschen, die durch die Zusammenarbeit der IM mit dem MfS der repressiven Macht dieser Organe ausgeliefert wurden. Nur sind nicht alle gleich Opfer dieses Systems. Auf den provokativen Titel, ob Verräter oder Verführte, geben die Autoren keine klare, ausführliche Antwort. Ihr psychoanalytischer Ansatz scheint die Verführung hervorzuheben, während die Lebengeschichten der IM die Tendenz haben, den Verrat auszublenden. Vielleicht käme der Titel ,Verräter und Verführte' der Realität näher, denn letztendlich scheinen die IM sowohl das eine als auch das andere gewesen zu sein.

Mary Beth Stein, Washington


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