ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Sabine Rutar, Kultur - Nation - Milieu. Sozialdemokratie in Triest vor dem Ersten Weltkrieg (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen - Bd. 23), Klartext Verlag, Essen 2004, 368 S., brosch., 45 €.

Die Hafenstadt Triest erlebte zwischen 1850 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs tiefgreifende Veränderungen. Ähnlich wie in zahlreichen anderen europäischen Städten lösten Industrialisierung und Modernisierung eine Zuwanderungswelle aus, wodurch sich die Einwohnerzahl mehr als vervierfachte. Triest zählte 1913 etwa 247.000 Einwohner und wurde somit nach Wien, Budapest und Prag zur viertgrößten Stadt der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die Entwicklung zu einem bedeutenden Industrie- und Handelszentrum war mit einem umfassenden Bevölkerungswandel und damit in Zusammenhang stehenden politischen Auseinandersetzungen und gesellschaftlichen Friktionen verbunden. Die vor allem aus dem Karst, Istrien, dem Görzer Gebiet sowie den italienischen Regionen Venetien und Friaul zuwandernden Arbeiter wurden in der Stadt mit einem gesellschaftlichen Umfeld konfrontiert, das ihnen ,,bürgerliche Leitkulturen" vorgab, sich jedoch zugleich klar gegen das entstehende Arbeitermilieu abgrenzte. Im Vergleich zu anderen Industrialisierungsregionen durchliefen die Versuche der Arbeiterbewegung, sich politisch zu organisieren und gesellschaftlich zu emanzipieren, eine besondere Entwicklung, da sie parallel zu nationalen Emanzipationsbestrebungen von Italienern und Slowenen stattfanden.

In ihrer Arbeit über die Triester Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg untersucht Sabine Rutar, wie sich die Gleichzeitigkeit sozialer und nationaler Bestrebungen auf das Arbeitermilieu der Stadt auswirkte und zur Entstehung eines spezifischen Milieus beitrug, das nicht durch nationale Eindeutigkeiten geprägt war. Dieses war Ausdruck eines konfliktreichen, aber insgesamt funktionierenden Integrationsprozesses, der aufgrund der weiteren Entwicklung nach 1914 zu einem Ende kam. Die ,,mikrokosmische Illustration" (S. 34) Rutars versucht dieses ,,Laboratorium" zu untersuchen, in dem sie aus einer Vielzahl zeitgenössischer Schilderungen eine besonders dynamisch verlaufene Phase der Stadtgeschichte rekonstruiert und sie den bis heute vorherrschenden nationalen Sichtweisen der slowenischen und italienischen Historiografie entgegenstellt.

In der Vergangenheit wurde die Geschichte der Arbeiterbewegung und des zugehörigen Milieus in der nördlichen, polyethnisch geprägten Adriaregion meist selektiv behandelt. Ihre Darstellung blieb jeweils auf eine nationale Gruppe beschränkt und erwähnte parallel verlaufene oder gemeinsame Entwicklungen meist nur nebenbei. Zudem fehlte der Bezug zur Geschichtsschreibung zur Sozialdemokratie in der Habsburgermonarchie, die sich wiederum vor allem auf die deutsche und tschechische Entwicklung konzentrierte. Vor allem die Arbeiten Marina Cattaruzzas konnten dieses Manko inzwischen weitgehend beseitigen. Aufbauend auf den neuesten Forschungsstand sowie kulturgeschichtliche Ansätze zielt die vorliegende Studie Rutars auf eine integrative Analyse des Triester sozialdemokratischen Milieus, in der nicht politische Entwicklungen sondern die quellennahe Beschreibung der Lebenswelt der Arbeiter im Vordergrund steht.

Im Kapitel ,,Lebenswelten und Milieus" zeigt die Autorin zunächst, welche gesellschaftlichen Bedingungen die Hafenstadt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts prägten. Die wirtschaftliche Entwicklung brachte eine ,,fortschreitende wirtschaftliche Anbindung" an die Habsburgermonarchie mit sich, der die Orientierung des italienischsprachigen Bürgertums an die italienische Nationalbewegung gegenüberstand. In Abgrenzung dazu bildete sich ein slowenisches Bürgertum heraus, was an der von vielen Zeitgenossen wahrgenommenen Dichotomie - italienische Stadtbevölkerung versus slowenische Bevölkerung im Umland - zunächst kaum etwas änderte. Die in die Stadt zuwandernde Bevölkerung orientierte sich bis 1900 vor allem am italienschen bürgerlichen Milieu. Während einigen Gruppen die Etablierung im prägenden Milieu gelang, machte die Masse der Arbeiter vor allem Erfahrungen der Desintegration. Wohn- und Arbeitsbedingungen spiegelten die Ausgrenzung wider, die ,,gemeinsam erfahrene[n] Misere" erhielt eine ,,identitätsstiftende Funktion" (S. 89). Hier liegt die Ausgangsbasis für die Herausbildung eines sozialdemokratischen Milieus, das sich an den bürgerlichen Lebenswelten orientierte, ohne nach ihnen zu streben.

Der Entstehung einer eigenen Festkultur der Arbeiter, der Gründung von Zeitungen, Bibliotheken, Vereinen und Chören ist das Kapitel zur ,,Gestaltung und Inszenierung kultureller Praxis" gewidmet. Der Arbeiterbewegung in Triest kam dabei zugute, dass der Staat in weitaus höherem Maße irredentistische und nationale als sozialdemokratische Organisationen überwachte. Besonders gelungen sind die Teilkapitel zur Besetzung des öffentlichen Raumes sowie zur Erinnerungskultur. Ein niedergeschlagener Streik von Hafenarbeitern im Jahr 1902, bei dem mehrere Todesopfer zu beklagen waren, wurde bereits kurze Zeit später mystifiziert und rituell erinnert. Er ist ein gutes Beispiel dafür, wie bürgerliche Formen der Erinnerung nicht einfach adaptiert, sondern vielmehr eklektisch übernommen und überformt wurden.

Das entstehende Triester Arbeitermilieu war mit der Wirkkraft der bürgerlichen Nationalbewegungen konfrontiert, ohne jedoch darin aufzugehen. Versammlungen und Demonstrationen, bei denen Reden auf Italienisch, Slowenisch und in einigen Fällen auch auf Deutsch gehalten wurden, sowie mehrsprachige Kulturveranstaltungen waren keine Seltenheit. Deutlich wird in den letzten beiden Kapiteln zu sozialen und nationalen Inklusions- und Exklusionsprozessen, dass es durchaus auch fließende (nationale) Identitäten gab, die durch die eingeübte ,,multinationale Praxis" gestärkt werden konnten. Allerdings war dieses Milieu nicht völlig durchlässig. Das ,,Sozialdemokratische Emanzipationsprojekt" (S. 343) kreiste um einen ,,harten Kern" von Engagierten, erreichte vor allem qualifizierte Arbeiter und verlor in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg seine Offenheit gegenüber zuwandernden Gruppen.

Die vorliegende Publikation bietet einen beeindruckenden Einblick in einen sozialdemokratischen Gegenentwurf zu einer bürgerlichen Lebenswelt, die durch sozialen Ausschluss und nationale Segregation geprägt war. Sie macht die Spezifika ,,ethnisch gemischter Städte" deutlich, in denen eine sozialdemokratische Lebensform auf zwei differierende bürgerliche Kulturen traf. ,,Internationalismus" musste hier praktisch gelebt und nicht nur theoretisch eingefordert werden. Die besondere Stärke der Studie, der gelungene Einblick in einen Mikrokosmos, ist in seiner Umsetzung zugleich eine ihrer wenigen Schwächen: Die äußerst detailreiche Schilderung, verbunden mit einer verwirrend hohen Dichte an Namen von Aktiven der Triester Arbeiterkultur, kann den Leser bisweilen ermüden. Hilfreich wäre zudem gewesen, an einigen Stellen die gewonnenen Erkenntnisse zu pointierten Interpretationen oder Zusammenfassungen zu bündeln. Wünschenswert wäre zudem ein Ausblick gewesen, der andeutet, welche Faktoren zur Auflösung dieses labilen, aber grundsätzlich intakten Mikrokosmos führten. Abgesehen von diesen kleineren Kritikpunkten zeigt die Publikation neue Wege der Geschichtsschreibung zur Arbeiterbewegung auf, die helfen könnten, den ,,Normalfall" in ethnisch ,homogeneren' Regionen neu zu hinterfragen und die Entwicklung in Ostmitteleuropa jenseits lange Zeit vorherrschender ideologischer Prämissen zu untersuchen.

Martin Zückert, München


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