ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Imanuel Baumann, Dem Verbrechen auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland 1880 bis 1980 (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 13), Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 430 S., geb., 46,00 €.

,,Dem Verbrechen auf der Spur" ist entgegen dem Untertitel keine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland von 1880 bis 1980, sondern vor allem eine exemplarische Darstellung von Kriminalbiologie, Kriminalpolitik und Strafrechtspraxis mit Schwerpunkt auf den Südwesten der Bundesrepublik Deutschland in der Zeit zwischen 1945 und 1980. Zum Zweiten handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit der bisherigen Geschichtsschreibung der Kriminologie - insbesondere der fachinternen - nach 1945.

Zwar werden sehr knapp kriminologische Positionen in Kaiserreich und Weimarer Republik geschildert (S. 35-80) sowie der Umgang des NS-Regimes mit Straftätern dargelegt (S. 80-113), doch mehr als zwei Drittel des Buches befassen sich mit der Zeit nach 1945. Baumann unterteilt diesen Zeitabschnitt in zwei Phasen. In der ersten - datiert von 1945 bis 1959 - wird die Kontinuität bestimmter kriminologischer Überzeugungen aus der NS-Zeit dargelegt. Die zweite Phase von 1959 bis 1974, mit einem eher kursorischen Ausblick auf die Jahre nach der NS-Zeit, sei gekennzeichnet - so Baumann - durch einen weitreichenden Wandel innerhalb der Kriminologie, der sich insbesondere durch die Abkehr von kriminalbiologischen Argumentationsweisen zugunsten soziologischer Begründungen für Kriminalität auszeichne. Für beide Phasen werden exemplarisch Forschung und Strafpraxis, d.h. Urteilsbegründungen und Prognosen wie sie innerhalb von Strafanstalten gemacht wurden sowie Jugendkriminalität, analysiert. Ferner kommen einzelne Gefängnisinsassen zu Wort, deren Aussagen die staatlich-administrative Perspektive durchbrechen, die in Arbeiten über die Geschichte von Kriminologie und Strafvollzug zumeist dominiert.

Wahrscheinlich wäre der Autor besser beraten gewesen, einen defensiveren Untertitel zu wählen, denn gerade der Zeitraum bis 1945 ist - wie auch Baumann einräumt - von Richard Wetzell, Christian Müller und Sylviana Galassi bereits ausführlicher untersucht worden. Ferner müsste erst festgestellt werden, ob die Lage in Südwestdeutschland ohne Weiteres als exemplarisch für die gesamte Bundesrepublik (von der DDR ganz zu schweigen) gelten kann. Auf das Fehlen einschlägiger Studien weist Baumann einleitend (S. 17) hin, ebenso auf die Problematik der Zuschreibungen von Kontinuität und Bruch in der Kriminologie über Epochenschwellen wie 1945 hinweg. Seine Vorgehensweise verbindet sozial- und diskurshistorische Elemente mit einer sehr auf biografische Zugänge ausgerichteten Methodik. Letztere äußert sich in einer Fülle biografischer Skizzen, die für sich zwar oft instruktiv, in ihrer Menge und Ausführlichkeit aber teilweise ermüdend sind und die Frage aufwerfen, ob nicht ein biografisch-generationenhistorisches Modell bei der Konzeption der Arbeit Pate gestanden hat.

In der Studie werden insbesondere zwei Felder der Kriminalpolitik und Strafpraxis exemplarisch herangezogen: Erstens der Umgang mit Rückfalltätern und der sogenannten Sicherheitsverwahrung (d.h. der zeitlich unbestimmten Einsperrung bestimmter Delinquenten) und zweitens die Jugendkriminalität - mit einem starken Bezug auf die kriminologisch inspirierte Beurteilung jugendlicher Straftäter im Hinblick auf deren Rückfälligkeit. Baumann breitet damit nur einen Ausschnitt kriminologischer Forschungen aus. Er beschränkt seine Betrachtung auf die von ihm fast absolut gesetzte Dominanz kriminalbiologischer Ansätze mit ihrer Verknüpfung zu psychopathologischen Deutungen individuellen Verhaltens der Straftäter, die sich in Anlage/Umwelt-Theorien einfügten und daher ein hohes Maß an Plausibilität besaßen.

Den Wandel innerhalb der Kriminologie, wie er sich in den 1960er Jahren andeutete und schließlich durchsetzte, erklärt Baumann mit der Wiederentdeckung alternativer Erklärungsmodelle und Verschiebungen innerhalb der hegemonialen kriminologischen Überzeugungen. Das Erscheinen der ,,kritischen Kriminologie" Ende der 1960er Jahre mit ihrer Betonung sozialer Faktoren und des labeling approach wird so in eine längere Entwicklung eingebettet und historisiert.

Die durchweg gut geschriebene Arbeit hat Stärken in der Aufarbeitung der Kriminologie bzw. bestimmter kriminologischer Positionen, die in der Bundesrepublik Deutschland bedeutsam waren. Ferner ist die Verknüpfung wissenschaftlicher Erkenntnisse und deren praktische Bedeutung für Justiz und Strafvollzug geeignet, den Blick für das Zusammenspiel von Wissenschaft und Praxis, gerade im Justizwesen, zu schärfen und in zukünftiger Forschung verstärkt zu berücksichtigen. Auch die Verweise auf individuelle Schicksale derjenigen, die durch die kriminologisch informierte Strafrechtspraxis nur schwer aus Justizvollzugsanstalten herauskamen, sind erhellend.

Doch zeigt die Arbeit auch eklatante Schwächen. Es beginnt damit, dass einleitend versäumt wird, eine Begründung für die exemplarische Auswahl der Felder ,,Sicherheitsverwahrung" und ,,Jugenddelinquenz" anzubieten. Ist dies inhaltlich begründet, liegt es an dem spezifischen Forschungsstand oder hat es mit der NS-Kriminalpolitik zu tun? Dann zeichnet Baumann ein zu grobes Bild dessen, was zwischen 1880 und 1945 als ,,Kriminologie" definiert werden kann. Dieses Vorgehen verwundert angesichts der einleitend formulierten Einsicht, dass ,,Kriminologie" sehr vielfältige Forschungen bezeichnet (S. 21), doch diese Differenzierung wird immer stärker zurückgenommen. Abschließend behauptet der Autor, dass es seit Ende des 19. Jahrhunderts Konsens der Strafrechtsreformer gewesen sei, die als unverbesserlich angesehenen Straftäter sterilisieren zu müssen (S. 365); dies ist so nicht richtig. Ebenso ist zweifelhaft, ob um die Jahrhundertwende der Sammelbegriff ,,Kriminalpsychologie" für die ,,kriminalwissenschaftlichen Betrachtungen des Verbrechens" (S. 12) dominierte. Zwar verweist Baumann auf Gustav Aschaffenburgs Lehrbuch über das Verbrechen (1) und den Titel der 1904 begründeten Zeitschrift Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform, sonst führt er aber keinen Beleg an. Auch die Behauptung, dass erst in den 1960er Jahren eine ,,Pluralisierung" der Kriminologie stattgefunden habe (S. 373), ist so nicht haltbar. Der Verfasser selbst begründet vorher den langsamen Wandel in der kriminologischen Forschung in den 1960er Jahren mit einer ,,Wiederentdeckung" alternativer Erklärungsmodelle (S. 272), geht also zumindest implizit schon vor den 1960er Jahren von Pluralität aus.

Diese Zuspitzungen, denen sich weitere anfügen ließen, werden zwar oft an anderer Stelle des Buches relativiert oder teilweise zurückgenommen, lassen aber den Eindruck entstehen, dass Baumann zuweilen vorschnell Schlüsse zieht oder seine Befunde überpointiert ausdrückt. Das mag auch mit der Auswahl der Autoren und Quellen zusammenhängen, die er im Verlauf seiner Untersuchung trifft. Zwar verweist er immer wieder auf andere Deutungen rechtsbrecherischen Verhaltens oder auch den größeren, internationalen kriminologischen Diskurs, doch wird die von ihm überwiegend untersuchte kriminalbiologische Forschung zu sehr als dominant und repräsentativ für die gesamte Forschung zu Kriminalität und deren Ursachen dargestellt. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang, dass Baumann einseitig die 1927 gegründete Kriminalbiologische Gesellschaft zum hegemonialen Sprachrohr der Kriminologie erklärt. Doch haben zumindest bis 1933 durchaus andere Fachverbände und Fachleute weiterhin Gehör gefunden und auch nach 1945 gab es, spätestens ab 1959, mit der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft (DKG) eine Vereinigung, die in ihrer stärker soziologischen Ausrichtung zeigt, dass auch in den 1950er Jahren die deutschsprachige Kriminologie vielfältiger gewesen ist, als Baumann meint. (Die DKG wird von ihm erstmals und einmalig auf S. 377 erwähnt). Der kriminologische Diskurs wird dadurch sehr verkürzt. Auch ist es verwunderlich, dass Robert Heindl (1883-1958), der einflussreiche Theoretiker des ,,Berufsverbrechertums", völlig unerwähnt bleibt. Das erstaunt umso mehr, weil dieser zwischen 1917 und 1958 (mit Unterbrechung 1945-1955) als Herausgeber der wichtigen Zeitschrift Archiv für Kriminologie (gegr. 1898) an entscheidender Stelle saß und außerdem kriminologische Tradition zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Diktatur und Bundesrepublik verkörpert. Als weiteres Beispiel kann die kursorische Erwähnung von Hans Gross gelten, dessen Handbuch für Untersuchungsrichter seit 1893 häufig aufgelegt wurde und einen mindestens ebenso großen Einfluss auf die Strafrechtspraxis ausgeübt hat, wie jene Lehrbücher, die Baumann erwähnt. Deren Bedeutung für Kriminologie und Kriminalwissenschaft, etwa Kurt Schneiders Die psychopathischen Persönlichkeiten (1. Aufl. 1923) und Ernst Kretschmers Körperbau und Charakter (1. Aufl. 1921), wäre hingegen zu relativieren. Ferner geht Baumanns Kritik an Richard Wetzell, dass dieser ,,wesentliche Aspekte der Kriminalwissenschaft in der NS-Diktatur außer Acht" (S. 91ff.) lasse, zu weit. Wetzell bestreitet keinesfalls die Zusammen- und Zuarbeit von führenden deutschen Kriminologen zur nationalsozialistischen Kriminalpolitik; er verdeutlicht aber, dass Teile der Forschung zwischen 1933 und 1945 eben nicht ausschließlich stromlinienförmig dem Regime Begründungen für exterministische Positionen lieferten. Differenzierungen ergeben sich bei Wetzell, weil eben auch konkurrierende und abweichende Ansätze vorgestellt und gewürdigt werden, bzw. weil Kriminologie und Politik auch im NS keinen automatischen Gleichklang bildeten. Die Kriminologie wird so sicherlich nicht vom Vorwurf der Kooperation mit dem Regime freigesprochen. Baumann hingegen fällt - zugunsten seiner homogenen und linearen Erzählung - hinter den Forschungsstand zurück. Zudem werden die Termini ,,Kriminologie", ,,Kriminalistik" usw. zeitweise unscharf dargestellt; das gleiche gilt für die durchaus bedeutsame Unterscheidung zwischen Berufs- und Gewohnheitsverbrecher. Bei Baumann entsteht der Eindruck, erst nach 1945 sei hier differenziert worden.

Baumanns Studie hat sich zwar dankenswerter Weise der Geschichte von Kriminologie und Strafpraxis nach 1945 angenommen, doch hinterlässt sie eine gewisse Enttäuschung. Wenn es dem Autor darum ging, die Verstrickungen von Kriminologie und Strafrechtlern in das System des Nationalsozialismus und die Kontinuitäten über 1945 hinaus nachzuweisen, so ist ihm dies gelungen. Wenn ihm an einer Kritik der Auseinandersetzung der Kriminologie mit ihrer Geschichte gelegen war, so sind die Einsichten, dass 1945 kein radikaler Bruch stattfand und auch der langsame Wandel der Disziplin in den 1960er Jahren, nicht so neu wie Baumann meint. Hier rennt er teils offene Türen ein. Ob bei dieser Vorgehensweise das Hauptziel des Buches, ,,Transformationsprozesse innerhalb der Kriminologie zu analysieren" (S. 21) erreicht wird, ist zweifelhaft.

Jens Jäger, Köln


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