ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848-1866, (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 71), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, 637 S., kart., 68,90 €.

Die Habilitationsschrift Jürgen Müllers fügt sich in jüngere Bemühungen, die lange und oft zu Unrecht vernachlässigte Epoche nach der Revolution von 1848/49 nicht mehr in erster Linie unter den Gesichtswinkeln von Repression und Reichsgründung in den Blick zu nehmen. (1) Entstanden ist die Studie im unmittelbaren Zusammenhang mit dem seit nahezu zwanzig Jahren von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften geförderten Editionsprojekt ,,Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes". Von den hier inzwischen vorliegenden vier voluminösen Quellenbänden hat Müller selbst zwei der Abteilung III bearbeitet, ein weiterer soll noch folgen. (2) Vor allem auf diesen Quelleneditionen, den Protokollen der Bundesversammlung sowie der archivalischen Überlieferung zahlreicher einzelstaatlicher Bundestagsgesandtschaften baut Müller seine in zwei Großkapitel gegliederte Untersuchung auf. Aus der weit verästelten Nationalismusforschung wählt er ein in jüngerer Zeit im Bereich der Neuesten Geschichte diskutiertes Konzept aus, das die föderative Grundierung der deutschen Geschichte betont: Mit der Formel der ,,föderativen Nation" vermeidet es der Frankfurter Historiker, seine Bundesgeschichte vom Kaiserreich her zu schreiben. Er fragt nach der Rolle des Deutschen Bundes im inneren und äußeren Nationsbildungsprozess, womit er die Modernisierungschancen dieser Institution neu auslotet, die nicht nur Zeitgenossen als reaktionäre Blockade der ersehnten Staatsnation galt. Müller interessiert sich dafür, inwieweit die Entwicklung des Deutschen Bundes und die nationale Bewegung miteinander verflochten waren und welcher Stellenwert den staatenbündisch-föderativen Reformalternativen zur Reichsgründung zuzumessen ist. Er blickt daher vor allem auf die Motive, die den Reformbestrebungen zugrunde lagen, sowie auf die zahlreichen und ganz praktischen Ausschuss- und Kommissionstätigkeiten der Bundesversammlung, die das Ziel hatte, Recht und Wirtschaft im Gebiet des Bundes zu vereinheitlichen.

Der erste Teil ,,Föderative Nation" (S. 33-388) spannt einen Bogen von den Anfängen des Deutschen Bundes in den Jahren 1814/15 und den vormärzlichen Bundesreformideen bis hin zur letzten Sitzung der Bundesversammlung in Augsburg am 24. August 1866, an der nach Königgrätz und dem Prager Frieden nur noch Gesandte von neun Regierungen teilnahmen. Den chronologischen Parforceritt durch Bundesreformpläne, Denkschriften, Entwürfe und Noten unterbricht Müller nur, um in einem Kapitel die reaktionären Maßnahmen des Bundes insgesamt zu durchleuchten und sich vor allem gegen die von Wolfram Siemann und anderen vertretene These zu wenden, dass auch nach der Revolution zentrale Bundeskontrollinstanzen dominiert und den Pfad föderativer Politik verlassen hätten (S. 90-145). Trotz einer unbestreitbaren Rückkehr in die Gleise alter Ordnungspolitik nach 1851 hält Müller dagegen, wie unmittelbar bereits den Zeitgenossen vor Augen stand, dass es mit einer Neuauflage der repressiven Vormärzpolitik à la Metternich - der 1855 übrigens nicht mehr im Exil weilte (S. 38) - nicht getan sei. Vielmehr wurde die Nation zu einer tiefverwurzelten öffentlichen Kategorie, die eingehegt und viel stärker ins politische Kalkül einbezogen werden musste. Das war zu einem beträchtlichen Teil natürlich auch Revolutionsprophylaxe und gegen jedwede bundesstaatliche Tendenzen gerichtet. Trotzdem bemühten sich gerade viele Mittel- und Kleinstaaten, Bundesreformen voranzutreiben, um die eigene Souveränität zu bewahren. Auch wenn letztlich alle Reformprojekte - wie etwa die Frage des Bundesgerichts - im Sande verliefen, macht Müller einen grundsätzlichen Reformwillen in Frankfurt aus, der jedoch an der schieren Interessenpolitik oder Blockadehaltung der beiden Vormächte in Berlin und Wien scheiterte.

Der zweite Teil ,,Nationales Recht" (S. 389-564) ist dann einer ganz praktischen Tätigkeit des Bundes verschrieben, die sich auf Artikel 64 der Wiener Schlussakte berufen konnte: der bundeseinheitlichen Rechtsetzung. Mit seiner Detailanalyse der Bundesabsichten, Rechts- und Wirtschaftsbestimmungen zu harmonisieren, beackert Müller nun in der Tat ein insgesamt nur wenig bestelltes Feld der historischen Forschung. Diese Bemühungen reichen vom Handelgesetzbuch und von der Zivilprozessordnung über die Einführung einheitlicher Münzen, Maße und Gewichte sowie das Urheberrecht bis hin zum Heimat- und Staatsangehörigkeitsrecht. Die von der Bundesversammlung an verschiedene Kommissionen und Ausschüsse delegierten Aufgaben werden zugleich auch immer wieder auf ihre nationalpolitische Bedeutung abgeklopft. Als geradezu idealtypisches Muster schält sich heraus, dass bundeseinheitliche Wege überall dort erfolgreich beschritten werden konnten, wo die einzelstaatliche Souveränität unangetastet blieb oder der zunehmende ökonomische Regelungsdruck Lösungen gleichsam einforderte. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb das Allgemeine Deutsche Handelgesetzbuch 1861 und 1866 kurz vor Toresschluss auch die Maß- und Gewichtsordnung noch verabschiedet werden konnten, während sich etwa ein einheitliches Heimat- und Staatsangehörigkeitsrecht ,,im Dickicht der Partikularinteressen" (S. 551) verlor.

Das selbst gesteckte Ziel zu zeigen, dass der Bund ,,weder ein geschichtlich illegitimes, antinationales Monstrum noch ein postnationales Modell", sondern vielmehr eine in die ,,Nationsbildung Deutschlands vielfach einbezogene politische Ordnung darstellte" (S. 29), erreicht Müller spielend - denn das ist keine bahnbrechend neue Erkenntnis. Der Gewinn der flüssig zu lesenden, aber streckenweise detaillastigen Studie liegt dabei im zweiten Teil, wird hier doch substanziell vor Augen geführt, wie sehr und auf welchen Feldern der Norddeutsche Bund und das Deutsche Reich von den Vorarbeiten des später vielfach so diskreditierten Gebildes Deutscher Bund profitierten. Vor allem deshalb wird man zukünftig immer wieder auf sie verweisen dürfen. Ein Anhang, der unter anderem alle Bundestagsgesandten zwischen Wiederbegründung und Auflösung sowie die wichtigsten Ausschüsse und Kommissionen jener Zeit dokumentiert, und ein zuverlässiges Register runden alles ab.

Nils Freytag, München


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