ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans-Walter Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871-2002. Zwischen Fürsorge, Hoheit und Markt, Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 2003, 776 S., geb., 12,50 €.

Die Arbeitsverwaltung gehört zu den wichtigsten Behörden des deutschen Sozialstaates. Die Nürnberger Hauptstelle und das landesweite Netzwerk von Arbeitsämtern der Bundesagentur für Arbeit verwalten die Arbeitslosenversicherung, betreiben Arbeitsvermittlung und Berufsberatung, fördern Weiterbildungs-, Rehabilitations-, und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und einiges mehr. Wie der Sozialstaat als Ganzes steht auch die Arbeitsverwaltung seit den Neunzigerjahren und insbesondere seit dem Skandal um geschönte Vermittlungszahlen im Jahre 2002, im Kreuzfeuer einer eifrigen Reformdiskussion, die sogar die Frage einschließt, ob das Arbeitsamt eine Zukunft hat.

Mit seinem Buch ,,Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871-2002" legt Hans-Walter Schmuhl nun eine Gesamtdarstellung dieser wichtigen Behörde vor. Mit diesem umfangreichen Buch leistet er der Forschung zur Entwicklung des deutschen Sozialstaates einen großen Dienst, ohne allerdings das letzte Wort zur Geschichte der Arbeitsverwaltung zu liefern.

Schmuhl bietet eine zeitlich und thematisch umfassende Geschichte an. Der ,bunte Flickenteppich' im Arbeitsvermittlungswesen des Kaiserreichs umfasste eine zunehmende Zahl von städtischen Arbeitsnachweisen, aber auch gewerbliche Stellenvermittler, Arbeitgebernachweise, usw. Einer Arbeitslosenversicherung standen etliche Fragen (War ein solches Risiko überhaupt berechenbar?) und die unüberbrückbaren Gegensätze der Arbeitgeber und Gewerkschaften noch im Wege. Der Erste Weltkrieg brachte die Wende: Man verband die städtischen Ämter zu einem einheitlichen Netzwerk im Dienst der Mobilisierung aller Arbeitskräfte und führte eine Erwerbslosenunterstützung ein. In Weimar wurden diese kriegsbedingten Lösungen auf eine festere Basis gestellt und die Fundamente der heutigen Arbeitsverwaltung geschaffen: eine dreistufige (Hauptstelle, Landesarbeitsämter, Arbeitsämter), drittelparitätische (Arbeitnehmer, Arbeitgeber, öffentliche Hand) und landesweite Behörde und eine Arbeitslosenversicherung. Die Hauptkonkurrenten in der Arbeitsvermittlung - gewerbliche Büros und Arbeitgebernachweise - wurden ausgeschaltet. Im Nationalsozialismus ließ sich dann die Arbeitsverwaltung in Kriegswirtschaft und Kriegsverbrechen (z.B. durch ihre Rolle in der Beschaffung von Zwangsarbeitern) einspannen. Nach 1945 bzw. 1949 gingen die Arbeitsverwaltungen in Ost- und Westdeutschland getrennte Wege: Während sie in der DDR in die allgemeine Kommandowirtschaft integriert wurde, knüpfte man in Westdeutschland an die Strukturen der Weimarer Zeit an. Im Zuge des Wirtschaftswunders entwickelte die Arbeitsverwaltung dann neue Aufgaben: Sie sollte nicht reaktiv, sondern aktiv in den Arbeitsmarkt eingreifen. Das Ende des Wirtschaftwunders Anfang der 1970er Jahre aber stellte die Arbeitsverwaltung vor das neue (und alte) Problem des Umgangs mit hoher Arbeitslosigkeit - ein Problem, das durch die Wiedervereinigung nicht einfacher geworden ist.

All diese Entwicklungen zeichnet Schmuhl mit dankenswerter Klarheit und Gründlichkeit nach. Auch von Nutzen sind die Abschnitte, in denen er die demografischen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen beschreibt, die den Rahmen für die Arbeitsverwaltung bildeten.

Diesen Stärken des Buches stehen aber auch einige Schwächen gegenüber. Trotz (oder vielleicht gerade wegen) der vielen Details fehlt es an übergreifenden Thesen. In den frühen Kapiteln heißt es gelegentlich, dass man sich auf dem Weg zu einer ,modernen' Arbeitsverwaltung befand, in deren Notwendigkeit man ,Einsicht' gewann. Aber natürlich soll dieser Anspruch nicht für die Nazizeit gelten, und auch nicht für alles, was in den letzten Jahrzehnten geschah. Überhaupt dürften solche teleologisch-whigartigen Wendungen wenig zum historischen Verständnis beitragen. Weil Schmuhl sich (mit Ausnahme des Kapitels zum Nationalsozialismus) nicht auf archivalische Recherchen stützt, fehlt oft ein detailliertes Bild der Interessen und Ideen, die die Arbeitsverwaltung beeinflussten. Das kann zu nicht unbedeutenden Verzerrungen führen. Schmuhl übersieht z.B. den Anspruch der Arbeitsverwaltung auf die ,Totalerfassung' aller Vorgänge auf dem Arbeitsmarkt, welcher nicht nur in der Nazizeit, sondern in dem ganzen Zeitraum zwischen etwa 1916 und 1960 galt. So berücksichtigt Schmuhl auch nicht die Krise in der Arbeitsverwaltung um 1960, in der es darum ging, die Totalerfassung aufzugeben. Gleichfalls erkennt der Autor nicht ausreichend die Antriebskräfte und Ideen hinter der frühen Berufsberatung. Schon vor dem Ersten Weltkrieg, aber insbesondere nachher, förderte das Preußische Handelsministerium die allgemeine Berufsberatung, um möglichst viele junge Leute in gelernte Arbeit zu bringen, in der sie produktive Arbeiter und stabile Bürger werden sollten. Obwohl Deutschland die Früchte dieses Programms erst nach 1945 ernten sollte, wurde die Saat in den 1920er und 1930er Jahren (auch unter den Nazis) gesät.

Solche und weitere Zusammenhänge bedürfen noch der gründlichen Aufklärung. Diejenigen aber, die solche Studien unternehmen, sind Hans-Walter Schmuhl für seine hilfreiche vorbereitende Arbeit zu Dank verpflichtet.

David Meskill, Harvard


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