ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Die 9. Ausgabe des von Micha Brumlik, Susanne Meinl und Werner Renz herausgegebenen Jahrbuchs des Fritz Bauer Institut zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Gesetzliches Unrecht im 20. Jahrhundert, stellt nicht die Biografien einzelner Täter oder die Geschichte in den Nationalsozialismus involvierter Institutionen, sondern die gesellschaftlichen und staatlichen Grundlagen, das von Gustav Radbruch 1946 so bezeichnete ,gesetzliche Unrecht' in den Mittelpunkt. In seinem einleitenden Beitrag diskutiert Micha Brumlik den Untersuchungsgegenstand anhand exemplarischer Aussagen von Giorgio Amgaben, Carl Schmitt, Gustav Radbruch und Hans Kelsen. Während für Amgaben das ,Lager' als Symbol für ein neues politisches Paradigma, den ,,gewollten Ausnahmezustand" (S. 16) steht, definiert Schmitt diesen als eine ,,Schwelle der Unbestimmtheit" zwischen Demokratie und Absolutismus (S. 17). Ausgehend von Radbruchs Formel lässt sich nach Ansicht Brumliks auch in Kelsens Verfassungslehre kein ausdrückliches Argument gegen den Ausnahmezustand finden.

Gesetzliches Unrecht allein schafft aber noch keine Opfer: Diese erhalten ihre Rolle erst durch das Hinzutreten der Täter als den ,Umsetzern' der gesetzlichen Bestimmungen. Im Rahmen der einleitenden Begriffsdiskussion wäre es deshalb sinnvoll gewesen, sich auch mit Begriffen wie Regime- oder Staatsverbrechen zu befassen. Mitte der 90er Jahre schlug Wolfgang Naucke hier die Lesart als ,,staatsverstärkter Verbrecher" vor, die das Wechselspiel zwischen Tätern und staatlichen Strukturen - im Interesse der Tat eingesetzt - noch deutlicher kennzeichnet. (1)

Im ersten von drei Abschnitten geht es um die Kontinuitäten in der deutschen Geschichte. Cornelia Essner geht der Frage nach, ob zwischen den (rassistischen) Weltbildern und Taten im deutschen Kaiserreich und dem Dritten Reich nachweisliche Kontinuitäten bestehen. Auch wenn Kolonialismus und Antisemitismus im Kaiserreich ,,getrennte, jedoch indirekt verschlungene Wege" (S. 39) gingen, konnten sich die Diskurse aus Gründen der Rassenlogik nicht vereinen: Die ,weiße Rasse' inklusive der Juden stand über den ,anderen Rassen'. Der Zusammenschluss gelang erst, als auch noch die Kategorie ,Blut' hinzukam. Die deutsche Kolonialpolitik und das Kolonialrecht bildeten nach Essner das Feld (Peripherie), auf dem der Normenstaat der Metropole seine Konflikte zur rechtsstaatlichen Gewaltenteilung austragen konnte. Während in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg Formen des Rassismus und der Kolonialideologie in England und Frankreich weiterhin an der kolonialen Situation ,abgearbeitet' werden konnten, verschob sich in Deutschland das Objekt nach innen: Über den Transmissionsriemen der völkisch-nordischen Rassenlehre fand eine entsprechende rassistische Definition des ,Juden' Einzug in das Recht. Der lange unterschwellig vorhandene ,,Blutaberglauben" (S. 60) wurde auf juristischer und bürokratischer Ebene für die Politik umgearbeitet. Damit war die Basis für die völlige Entrechtung der jüdischen Bevölkerungsteile gelegt, wie Susanne Meinl in ihrem Beitrag zur Umsetzung des antisemitischen Steuer- und Devisenrechts des Dritten Reiches am Beispiel Hessens zeigt: Schon ab 1933 sorgte die alltägliche steuerliche Benachteiligung dafür, aus Juden Bürger zweiter Klasse zu machen. Auf die Enteignung im Rahmen der so genannten ,Arisierung' folgte die Ausbürgerung, bei der das Vermögen dem Reich zufiel, zudem war die Zahlung einer (hohen) ,Reichsfluchtsteuer' ,obligatorisch'. Devisenstellen und ,Reichsfluchtsteuer' waren jeweils schon unter der Regierung Brüning - wenn auch mit anderer Zielsetzung - eingeführt worden. Die ,Beweispflicht' gegenüber den Verwaltungen setzte sich teilweise bis zu den Verhandlungen über Wiedergutmachung bzw. Entschädigung fort.

In ihren beiden Beiträgen beschreibt auch Diemut Majer den massiven Wandel in der Rechtsstellung der jüdischen Bevölkerung. Seit Mitte 1941 war diese nicht mehr ,,Teil der Rechtsgemeinschaft, wenngleich mit erheblichen Diskriminierungen belastet", sondern stand nun ,,außerhalb" (S. 95). Die normativen Regeln des Gemeinwesens hatten für sie keine Gültigkeit mehr. Unter dem Polizeiregime war das Recht nicht nur dem Inhalt nach, sondern auch formal aufgehoben - ersetzt durch nur noch verwaltungsinterne Bekanntmachungen. Majer unterscheidet dabei zwischen den ,antijüdischen' Maßnahmen (Beschränkung der Freizügigkeit, wirtschaftliche Beraubung, Isolierung) und Maßnahmen gegen Fremdarbeiter. Im Rahmen des vom Recht abgetrennten Polizeiregimes waren Juden damit ,vogelfrei'. Anders war das Vorgehen in den besetzten Gebieten im Osten. Hier, in den neuen ,Kolonien' und nicht mehr in Afrika oder der Südsee, lag nun der zukünftige Lebensraum für deutsche Siedler. Analog zum Vorgehen gegenüber den Kolonialvölkern war der Bevölkerung nur die Rolle als Arbeitssklaven zugedacht. Am Beispiel des Generalgouvernements beschreibt Majer die Ausbeutungspolitik gegenüber den Polen. In Verbindung mit den rassistischen Vorstellungen und der Polizeiwillkür zeigt sich ein völliges Scheitern (etwaiger) Ansätze der Anwendung kolonialpolitischer Grundsätze auf Osteuropa.

Der zweite Abschnitt stellt drei Fallstudien vor, zu Namibia, dem faschistischen Italien und seinen Kolonien sowie Südafrika. Im Mittelpunkt steht jeweils die Frage nach der Form der Umsetzung rassistischen Rechts sowie nach Parallelen und nationalen Kontinuitäten. Die in den bisherigen Beiträgen aufgestellten Schemata der Zuordnung zu einer rassisch ,minderwertigen' Gruppe, das Vorenthalten von Rechten und die völlige wirtschaftliche Ausbeutung bei gleichzeitiger Registrierung und ständiger Überwachung findet sich auch in Deutsch-Südwestafrika zwischen 1884-1915. Jürgen Zimmer sieht in der rassistischen Alltagspolitik nicht nur eine deutliche Vorstufe der Apartheidspolitik im späteren Südafrika, sondern auch der Rassenpolitik des Dritten Reiches. Auch an diesem Beispiel zeigt sich der (allmähliche) Wandel von einer kulturalistischen zu einer biologistischen Definition des ,,Anderen" (S. 142): dem Abstammungsprinzip durch Blutsverwandtschaft. Zimmer verbindet mit der Entwicklung in Deutsch-Südwestafrika keine Kausalität, die auf geradem Weg in das besetzte Osteuropa geführt hätte. Allerdings konstatiert er einen umfassenden Erfahrungsraum für die ,,Utopie eines Rassen-, Kontroll- und Entwicklungsstaates" (S. 149).

Mit der Legende der Italiener als der brava gente räumt Aram Mattioli auf. Das faschistische Italien war in höherem Maße als bisher allgemein bekannt ein rassistisches Unrechtsregime. Sowohl in den afrikanischen Kolonialgebieten als auch auf dem Balkan kostete der italienische Besatzungsterror Hunderttausenden das Leben (S. 156). Rassistische Gewalt gehörte von Anfang an zum Alltag im neuen faschistischen Staat, ein offener Rassismus setzte aber erst nach der Eroberung Äthiopiens 1936 ein. Vor diesem Erfahrungshintergrund stehen die Rassengesetze des Jahres 1938. So zeigte sich die vermeintliche Höherwertigkeit der italienischen Zivilisation im so genannten ,,Grenzlandfaschismus" (S. 159) gegenüber Deutschen in Südtirol und besonders als ,,slavofobia" (S. 158) gegenüber Slowenen und Kroaten.

Südafrika war jahrzehntelang ein Beispiel für historisch lange überholt geltende weiße Suprematieansprüche. Stefan Häußler zeigt, dass der ,weiße Afrikaner-Nationalismus' ursprünglich selbst aus antikolonialen Affekten der niederländisch-deutsch-französischen Siedler gegen die britische Verwaltung entstanden war. Der ox-wagon symbolisierte dabei die Freiheit der 'Afrikaner' gegenüber den Engländern. Diese Prägung und eine zusätzlich religiöse Begründung im Calvinismus sorgten für Wirkungsmacht und Dauer der Apartheid. Im Südafrika der Nachkriegszeit ergänzten sich die ,große' (Homelandpolitik) und ,kleine Apartheid' (Passgesetze, Separierung).

Abschließend hat das Jahrbuch mit einer Neuerung aufzuwarten. In einem dritten Abschnitt werden Skizzen zweier aktueller Forschungsvorhaben zur Geschichte und Wirkungsgeschichte des Holocaust vorgestellt. Götz Aly geht in seinem kurzen Beitrag der ,Arisierung' der Berliner Kondomfabrik Fromms Act. nach, Helgard Kramer untersucht, in wie weit zwei der SS-Mediziner in Auschwitz, Dr. Hans Münch (der ,Gute') und Dr. Eduard Wirths (der ,Böse'), den konventionellen Männerrollen ihrer Zeit entsprachen. Werte- und Bindungsverlust (H. Mommsen) und Entgrenzung (M. Wildt) sind für Kramer eingebunden in die nationalsozialistische Interpretation der Männerrolle - allerdings (nur) bei der jüngeren Tätergruppe (S. 229). Die konventionelle Männerrolle versteht Kramer als ,,Scharnier", in dem Werteverlust, sowie (persönliche) ,,Radikalisierung und Brutalisierung" mit der ,,Entgrenzung institutioneller Handlungsmuster [...] biographisch zusammengespannt wurden." (S. 231).

Die Ambivalenz zwischen konventioneller Männerrolle und Gewalt spiegelt sich ebenfalls deutlich in den Biographien der Kommandanten der frühen Emsländer Konzentrationslager Börgermoor, Esterwegen und Neusustrum wieder, denen Hans-Peter Klausch eine akribische und detaillierte Studie unter dem Titel Tätergeschichten gewidmet hat. Es handelt sich nicht allein um eine biografische Täterstudie im Rahmen der Forschung zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, sondern auch um einen Beitrag zur Geschichte der frühen Konzentrationslager. Liegt das Hauptaugenmerk der neueren Täterforschung in der Regel auf Verbrechen, die in den besetzten Gebieten im Osten wie im Westen bzw. auch gegen Deutsche in der Endphase des Krieges begangen wurden, so widmet sich Klausch den ,frühen' NS-Tätern.

Eine der Besonderheiten der frühen Konzentrationslager (1933-1934) in der Auf- und Ausbauphase des nationalsozialistischen Terror- und Vernichtungsapparates liegt in den variierenden Trägerschaften, die in einigen Fällen sogar mehrfach zwischen SS, SA und regulären Polizeieinheiten wechselten. Für die Zeit des Bestehens der emsländischen Konzentrationslager zwischen Juni 1933 und August 1936 (und später noch einmal zwischen November 1944 und März 1945) unterscheidet Klausch fünf Phasen, von denen die ersten beiden, d.h. vom 22. Juni bis zum 6. November (die verbliebenen Gefangenen werden in das fertig gestellte KZ Sachsenhausen überführt), im Mittelpunkt seiner Untersuchung stehen. Die einzelnen Biografien, denen Klausch jeweils ein eigenes großes Kapitel widmet, sind dabei fest in die Geschichte der Lager eingebunden. Die Konzentration auf den kurzen Zeitraum bis zur (ersten) Ablösung der SS-Bewachung erlaubt es Klausch, einzelne Ereignisse aus unterschiedlichen Täter- und Opferperspektiven mehrmals und damit in einer den Vorgängen gebotenen Deutlichkeit zu erzählen. Auf diese Weise entsteht eine dichte Beschreibung der Gewaltexzesse, die unter Duldung und teilweise auch Mitwirkung der Kommandanten vor sich gingen. Diese Arbeitsweise zeigt aber auch die oft deutlich voneinander abweichende ,Einschätzung' der Täter durch ihre Opfer - sowohl zum Tatzeitpunkt als auch in den Nachkriegsprozessen. So werden SS-Standartenführer Paul Brinkmann (Oberlagerkommandant in Papenburg) und SS-Sturmhauptführer Wilhelm Fleitmann (Börgermoor) zum Teil als deutlich weniger grausam beschrieben als andere Angehörige des Wachpersonals. Brinkmann hielt sich als Oberkommandant der täglichen Zwangsarbeit fern und war vielen Gefangenen gar nicht bekannt, wie die entsprechenden Zeugenaussagen aus der Nachkriegszeit belegen (S. 31). Trotzdem tauchte er bei einigen Morden ohne Ankündigung ,spontan' im jeweiligen Lager auf. Auch im Falle Fleitmanns werden die grausamen Misshandlungen von den Zeugen zumeist seinen direkten Untergebenen zugeordnet (S. 74).

Um die Taten Einzelner einordnen zu können ohne allein auf strukturelle Gründe innerhalb des nationalsozialistischen Terrorsystems zu rekurrieren, greift die neuere Täterforschung in den letzten Jahren zunehmend zum Mittel der Kollektivbiographie. Auch wenn mit Brinkmann und Fleitmann sowie den SS-Sturmführern Heinrich Katzmann (Esterwegen II), Ludwig Seehaus (Esterwegen III) und Emil Faust (Neusustrum) nur fünf Täterbiographien vorliegen, ist der Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede nicht unergiebig. Von ihrer sozialen Herkunft und ihrem Bildungsgrad decken die fünf - teilweise entgegen den Erwartungen - ein recht breites Spektrum ab: es reicht von proletarischer Herkunft (Katzmann, Seehaus) bis hin zur bürgerlich geprägten Mitte (Brinkmann und Fleitmann waren Ingenieure). Während nur Seehaus zu den ,alten Kämpfern' zählte, waren die anderen vier im Jahr 1929 in die NSDAP und jeweils etwas später in die SS eingetreten. Sie verfügten alle über eine entsprechende Sozialisation auf Seiten der gewalttätigen politischen Rechten (SA, Stahlhelm, Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund), gehörten zur Kriegsgeneration und waren teilweise über einen längeren Zeitraum erwerbslos gewesen. Der aktive Einsatz in NSDAP und SS bot die Möglichkeit die ,,sozialen und psychischen Folgen der Arbeitslosigkeit wenigstens zum Teil zu kompensieren" (S. 269). Auch hier war also ein breiter Erfahrungsraum vorhanden, auf den zurückgegriffen werden konnte. Außerdem verfügten die größtenteils Ledigen über eine hohe Mobilität, die sie für die entsprechenden Einsätze zusätzlich prädestinierte.

Einige der Gewalt- und insgesamt elf Tötungsdelikte, die später während der zumeist recht kurzen Kommandantenzeit in den emsländischen Lagern begangen wurden, lassen sich als Fortsetzung des Kampfes gegen den politischen Gegner in der Spätphase der Weimarer Republik verstehen. In allen Lagern kam es zu schwersten Misshandlungen, die in den Verantwortungsbereich der Kommandanten fielen. Klausch kann allerdings in seiner detaillierten Darstellung zeigen, dass es besonders hinsichtlich der persönlichen Beteiligung an den Übergriffen durchaus Unterschiede gab (S. 271). In den fünf einzelnen Biographien lässt sich gut der Übergang von persönlichen Dispositionen der Gewalt zu einer sich situativ verstärkenden Gewaltdynamik nachzeichnen. Ebenso trugen die ,Einöde' des Emslandes und der Zuspruch zum Alkohol ihren Teil zur Gewaltsozialisation der Täter bei. Auch in der Umgebung sämtlicher Lager kam es zu Ausschreitungen gegenüber der Zivilbevölkerung und Angehörigen der SA sowie der Ordnungspolizei.

Die Grausamkeit und Gewalt in den frühen Lagern zeigt sich auch in dem Umstand, dass gegen alle Kommandanten nach ihrem Abzug SS-interne Disziplinarverfahren angestrengt wurden, sich aber keiner vor einem staatlichen Gericht verantworten musste (S. 277). Den Krieg überlebten nur Faust und Katzmann. Verbrechen Deutscher gegen Deutsche wurden nach dem Krieg zumeist (schnell) juristisch geahndet. Faust verbrachte insgesamt 20 Jahre in deutschen Haftanstalten, Katzmann wurde nach Internierung und Haft wegen seiner Taten in Esterwegen II 1955 auf freien Fuß gesetzt. Im gelang die Re-Integration in die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Er starb 1974.

Nicht einem nationalsozialistischen Exzess- und Gewalttäter, sondern einem Schreibtischtäter, der, wie viele Angehörige der nationalsozialistischen Funktionseliten, auch nach dem Krieg seine Karriere mehr oder weniger ungebrochen fortsetzen konnte, widmet sich Wigbert Benz: Ribbentrops Pressechef und späteren Bestsellerautor Paul Karl Schmidt alias Paul Carell alias P.C. Holm. In den insgesamt acht kurzen Kapiteln des Buches liefert Benz allerdings weder eine Biographie noch ein genaues Porträt Schmidt-Carells. Den Schwerpunkt seiner Studie legt Benz auf eine teilweise recht grobe Skizze der Kontinuität in der Karriere Carells von den 1930er Jahren über die Zeitenwende 1945 bis hin zu seinem Tod im Jahr 1997. Es handelt sich somit um eine Art Laufbahnbeschreibung, in deren Rahmen Benz zur Verdeutlichung einige Untersuchungsschwerpunkte setzt.

Zeigen Klauschs Täterbiographien brutale Charaktere, so ist Schmidt zur ,,Generation des Unbedingten" (M. Wildt) zu zählen, der jungen nationalsozialistischen Elite, die als Weltanschauungstäter akademische Bildung und bedingungslose Gewaltbereitschaft spielend unter einen Hut bekamen und nach 1945 in vielen Fällen auf ein dichtes Netzwerk ,Gleichgesinnter' zurückgreifen konnten, das ihnen eine Fortsetzung der Karriere in der frühen Bundesrepublik ermöglichte. Mit nur 29 Jahren hatte Schmidt im Jahr 1940 die Position des Leiters der Nachrichten- und Pressabteilung des Auswärtigen Amtes inne, den Rang eines Obersturmbannführers und die Stufe eines Gesandten 1. Klasse erreicht: eine nationalsozialistische ,Bilderbuchkarriere'. Die praktische Erfahrung der Gründung der NS-Auslandspropagandazeitschriften Berlin-Rom-Tokio und Signal (S. 26 ff.) mit Ausrichtung auf ein antibolschewistisches Europa unter Führung der Nationalsozialisten sollte ihm in der Nachkriegszeit als Autor von Marshallplan- und Pro-Europa-Broschüren durchaus dienlich sein.

Benz hebt besonders die aktive Beteiligung von Schmidt an den Planungen zum Mord an ungarischen Juden (Kapitel III und IV) hervor. Der von Benz nicht nur in diesem Zusammenhang benutzte Begriff der ,,Holocaust PR" (S. 9) ist aber als eine äußerst unglückliche Charakterisierung zu betrachten, und zudem in begriffsgeschichtlicher Hinsicht nicht zutreffend. Nach dem Krieg und Auftritten beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, allerdings als Zeuge der Anklage - auch hier zeigt sich der bereits mehrfach angedeutete Unterschied zu Klauschs Tätern -war Schmidt als namentlich nicht gekennzeichneter Autor bzw. unter dem Pseudonym P.C. Holm für die Zeitschriften Kristall, Die Zeit, Die Welt und Der Spiegel tätig. Berühmt wurde er aber unter dem Namen Paul Carell als Autor vieler Besteller zum Unternehmen Barbarossa bzw. zur Kampfgeschichte der Wehrmacht. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen Mordes konnte Schmidt-Carell bis zu seinem Tod vor der Medienöffentlichkeit verheimlichen.

Die vielen (über-)langen und nicht abgesetzten Zitate - zahlreiche Argumentationsgänge werden wiederholt - und der teilweise anklagende Ton führen zu einer Leseerschwernis. Es ist auch zu hinterfragen, ob Benz den von ihm angeführten Kritikpunkt der Ungenauigkeit, der an die Adresse zum Beispiel von Peter Longerich und Otto Köhler gerichtet wird, selbst genügen kann: Der Diskussion um die Alleintäterschaft van der Lubbes am Reichstagsbrand räumt er einen viel zu weiten Rahmen ein - ohne dass eine argumentative Begründung dieser Schwerpunktsetzung erfolgt. Die von Schmidt-Carell in seinen militärgeschichtlichen Werken konstant untermauerte Präventionskriegsthese Hitlers hätte hingegen eher eine breitere Untersuchung verdient. Insgesamt erscheint ein Blick auf die gesellschaftliche Wirkung Schmidt-Carells und anderer ehemaliger Angehöriger der Funktionseliten des Dritten Reiches ergiebiger. Und nicht nur deshalb, weil es nicht allein um Schmidt-Carell geht, sondern auch um ein gesellschaftliches Umfeld, in dem solche Nachkriegskarrieren ohne weiteres möglich waren. Die Interpretation der ,,Deutschen als Opfer" hat auch hier einen ihrer Grundsteine. Es ist aber das Verdienst von Wigbert Benz, die Person Schmidt-Carells einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht zu haben. Weitere Untersuchungen zur Wirkungsgeschichte seiner Nachkriegsschriften dürften wohl nur noch eine Frage der Zeit sein.

Die drei Veröffentlichungen zu gesetzlichem Unrecht als institutionellem Rahmen, zu den Einzeltätern und Gruppengewalt in den frühen Lagern sowie zu einem der so genannten Schreibtischtäter, der seine kontinuierliche Laufbahn über die Systemgrenze hinweg fortsetzen konnte, zeigen anschaulich die unterschiedlichen Herangehensweisen die thematische Variationsbreite der neueren Täterforschung. Die vom jeweiligen staatlichen Unrechtssystem bereitgestellten (un-)gesetzlichen Rahmenbedingungen allein führen noch nicht zu Verbrechen und Gewalttaten. Es muss immer auch die persönliche Disposition der einzelnen Täter hinzukommen - vice versa gilt das Besagte auch.

Cord Arendes, Heidelberg


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