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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Urs Zürcher, Monster oder Laune der Natur. Medizin und die Lehre von den Missbildungen 1780-1914 (Campus Historische Studien; Bd. 38), Campus Verlag, Frankfurt/Main u.a. 2004, 318 Seiten, kart., 34,90. €.

Die Reaktion auf die Repräsentation von Behinderung schwankt zwischen Faszination und Abscheu, Fremdheit und Vertrautheit.(1) Urs Zürchers Dissertation ,,Monster oder Laune der Natur. Medizin und die Lehre von den Missbildungen 1780-1914" berührt die Entwicklung solcher Einstellungsdeterminanten gegenüber Menschen mit Behinderungen an wesentlichen Punkten. Zürcher untersucht die historische Entwicklung der medizinischen Lehre von den ,,Missbildungen", der Teratologie. Diese Ausrichtung macht das Buch unbestreitbar relevant. Es beleuchtet die Geschichte einiger typischer Verhaltensweisen und Einstellungen der Gesellschaft und der medizinischen Profession gegenüber Menschen mit Behinderungen: den forschenden oder faszinierten Blick auf das ,,Fremde", die Vereinnahmung des ,,Fremden" durch Vermessung, Begutachtung und Katalogisierung, die Fixierung von Kategorien und Grenzen und die Produktion von Orientierungswissen über das ,,Fremde" zur Definition des Eigenen und Normalen.

Der Autor beobachtet eine im späten 18. Jahrhundert einsetzende Verwissenschaftlichung des Diskurses über ,,Monstrositäten", die im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. An die Stelle von Faszination und religiöser Spekulation über ihre Ursache trat zwischen 1800 und 1830 die Etablierung der Teratologie als einer wissenschaftlichen ,,Missbildungsforschung". Zürcher erzählt jedoch keineswegs eine Fortschrittsgeschichte dieser Disziplin und ihrer Forschungserfolge. Er verfolgt vielmehr die Entwicklung kultureller Diskurse, wissenschaftlicher Paradigmen und Vorstellungen - und ordnet diese der allgemeinen Tendenz des 19. Jahrhunderts zum Klassifizieren und Ordnen des Natürlichen zu.

Eingangs befasst sich Zürcher mit Caspar Friedrich Wolffs "Theoria Generationis" (1759), in der den Anhängern der Präformationstheorie entgegengehalten wird, dass menschliches Leben nicht in einem Kern vorgeformt ist. Zwar hatte Wolff wenig Einfluss auf führende Forscher der Zeit, mit Blick auf die weitere Entwicklung im ausgehenden 18. Jahrhundert zeigt sich jedoch, so Zürcher, dass Wolffs frühe Epigenesis- oder Entwicklungstheorie wesentlich zur Herausbildung eines wissenschaftlichen Diskurses um die ,,Missbildungen" des menschlichen Körpers und ihre Ursachen beitrug.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzten sich wesentliche methodische Veränderungen durch. ,,Missbildungen" wurden fortan systematisiert und in spezifischer Weise abgebildet, wie etwa in den ,,Abbildungen und Beschreibungen einiger Missgeburten" von Samuel Thomas Soemmering (1791). Die ,,missgebildeten" Körper wurden entmythologisiert, naturalisiert und zu epistemischen Objekten gemacht. In der Epigenesistheorie, d.h. der Vorstellung, der Mensch entwickle sich aus einer Anlage heraus, erschien die ,,Missbildung" nun als Folge eines gestörten organischen Entstehungsprozesses und war somit natürlich.

Etwa zur selben Zeit stellt Zürcher einen Wandel in der emotionalen Einstellung der Forschenden gegenüber den Objekten ihrer Forschungen fest. Er spricht von einer affektiven Dissidenz oder Enthemmung der Forschenden. Der natürliche Schrecken über das Forschungsobjekt sei streng kontrolliert und rational fruchtbar gemacht worden. Der Schrecken sei als wissenschaftliche Aneignungstechnik eingesetzt worden, er habe sich als ,,Erkenntnis-Schreck" nutzen lassen.

Die Phase von 1820 bis 1840 überschreibt Zürcher mit ,,Die Entstehung der Teratologie". Geoffroy und Isidore Saint-Hilaire gelten als Begründer der Teratologie als eigenständiges Wissenssystem. Den Präformationstheoretikern setzten sie ein aus der erlebten politischen Revolution abgeleitetes Forschrittsverständnis entgegen. Isidore Saint-Hilaire entwickelte zudem ein an Linné angelehntes Schema zur Klassifikation der ,,Missbildungen" und fügte diese damit in die natürliche Ordnung ein. Die Erforschung von ,,Missbildungen" war fortan an der Unterscheidung zwischen Normalität und Devianz orientiert. Dies korrespondierte, so Zürcher, mit einer generellen Tendenz der Zeit zum Normalismus. Er beobachtet, wie die Teratologie schließlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine soziale Dimension erhielt. Sie fand einerseits Eingang in die Kriminologie, die nach dem Zusammenhang zwischen körperlichen und sozialen Devianzen suchte, und erlebte andererseits die Umdeutung ihres Forschungsobjekts zum medizinischen Heilobjekt.

Daraus resultierend änderte sich die Repräsentationsform der ,,Missbildungen". Sie rückten im letzten Jahrhundertdrittel aus den pathologisch-anatomischen Sammlungen in den öffentlich musealen Raum. Neben Präparaten wurden nun bevorzugt lebende Menschen mit körperlichen Behinderungen zur Schau gestellt. Die Teratologie erfuhr eine erhebliche Popularisierung. Sie wurde zur Schau-Medizin an Menschen mit Behinderungen, so etwa in Rudolf Virchows Pathologischem Museum. Beispielhaft führt Zürcher in diesem Zusammenhang auch den amerikanischen Zirkus Barnum&Bailey an, dessen Herzstück sein ,,Cabinet of Curiosities" war. Die Europa-Tournee dieser Freak-Show war ein großer Publikumserfolg. Um die Jahrhundertwende nahm jedoch das Interesse an der Zurschaustellung von ,,Missbildungen" und ,,Monstrositäten" auf Jahrmärkten, in Museen und Theatern bereits wieder ab. Das endgültige Ende dieser Art der Repräsentation kam mit dem Ersten Weltkrieg, der zerstörte Körper zur schrecklichen Alltäglichkeit machte. Die Teratologie als wissenschaftliche Disziplin begann zu zerfallen, während Orthopädie, Orthopädietechnik und Pathologie seit dem Krieg einen Aufschwung nahmen. Zürcher führt dies darauf zurück, dass sich die Teratologie nicht als autonomes Fach zwischen der pathologischen Anatomie und Zoologie etabliert hatte.

Urs Zürcher macht es seinen Lesern nicht immer leicht. Das liegt etwa am innovativen, wiewohl mitunter befremdlichen Aufbau des Buches. Der Autor wechselt in seiner grundsätzlich chronologisch gegliederten Studie zwischen drei sich mehrmals wiederholenden Untersuchungsperspektiven. In den Kapiteln ,,Wissen und Beobachten" I bis V untersucht er Methoden und Arbeitsweisen der ,,Missbildungsforschung". Mit ,,Körper und Dinge" überschreibt er drei Kapitel, in denen er sich mit den missgebildeten Körpern, ihrer Augenscheinlichkeit und ihrer Repräsentation befasst. In ,,Affekte und Distanzen" I bis III behandelt er die Emotionen und Affekte der Forschenden und Betrachtenden. Sich in dieser Gliederung zurechtzufinden, ist mitunter nicht einfach. Allerdings hat Urs Zürcher den Kapiteln ,,Wissen und Beobachten" II, III und IV jeweils ein Zwischenfazit hintangestellt, das die Lektüre sehr erleichtert. Der Studie vorgeschaltet ist sowohl eine klassische ,,Einleitung I" als auch eine an das Sinnliche appellierende ,,Einleitung II", ein Stimmungsbild des Pathologischen Museums der Charité. Dies ist eine durchaus interessante Annäherung an das Thema, jedoch kommen Forschungs- und Quellenüberblick im Vergleich viel zu kurz. Eine kritische Diskussion der verwendeten - überwiegend gedruckten - Quellen fehlt. Wünschenswert wäre auch eine ausführlichere Diskussion der Literaturlage gewesen, die es ermöglicht hätte, die Studie in der medizinhistorischen und kulturwissenschaftlichen Forschung zu verorten. Diese hat seit den 1990er-Jahren eine Vielzahl wichtiger Studien zu den so genannten ,,Missgeburten" und ,,Monstrositäten" sowie zum gesellschaftlichen und medizinischen Umgang mit ihnen hervorgebracht.(2)

Die ungleiche Gewichtung der Phasen vor und nach 1870 in der Untersuchung verwundert. Leider gleitet auch die quellengestützte Analyse mitunter in philosophische Betrachtungen und Theorieentfaltungen ab. Bedauerlich für den Leser ist außerdem, dass Zürcher die Geschichte der Teratologie kaum in Bezug zur Eugenik und zum Hygienediskurs des 19. Jahrhunderts setzt. Deutet er dann einen Zusammenhang zur Rassenhygiene des Nationalsozialismus an, erscheint dies aufgesetzt und zusammenhangslos. Es wäre wünschenswert gewesen, das Thema in diese Richtung zu erweitern. Überhaupt vermisst man mitunter historische Kontextualisierungen. Anschlussfähig wäre das Thema auch in der Frage nach der Rolle der Teratologie im kriminologischen Diskurs um die Entsprechung sozial devianten oder kriminellen Verhaltens in körperlichen Merkmalen.

Insgesamt liegt jedoch nun eine wichtige und anregende Studie vor, die die Forschung zur Geschichte von ,,Missbildungen", ihrer Repräsentation und Erforschung durchaus bereichert. Das besondere Verdienst dieses Buches liegt darin, aufzuzeigen, wie sich der wissenschaftliche Blick auf Behinderung sowie unsere Affekte und Verhaltensweisen im Umgang mit behinderten Menschen historisch entwickelten. Zürchers Studie hilft, besser zu verstehen, wie wir auf Behinderung reagieren und warum wir das tun. Dies kann ein Beitrag sein zu einem vorurteilsfreien und gleichberechtigten Miteinander.

Elsbeth Bösl, München


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